Deutungsarbeit V

Über einladende und ausgrenzende Räume der Religion

Inkludierende und exkludierende Räume. Eine Bild-Montage

Ich habe hier einmal zwei unterschiedliche Tafeln des Wurzacher Altars, die aber Szenen zeigen, die am selben Ort spielen, mittels Photoshop zu einem Bild zusammenmontiert. Darin erkennt man viele der Details wieder, die ich in den vergangenen Tagen erörtert habe. Was mich nun interessiert, sind die unterschiedlichen Raumschließungen und Raumöffnungen auf dem Bild. Auf der linken Seite sehen wir eher das einfache Volk, von den Hirten bis zu den Bürgern, auf der rechten Seite die gehobenen Schichten, allen voran die Könige mit ihrem Gefolge. Meine Frage ist: Ist es ein Zufall, dass die einen durch einen Holzzaun auf Distanz gehalten werden, während die anderen durch das den Torbogen direkt zu Christus Zutritt haben: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …? Es ist ja auffällig, dass das Christentum die Könige zu Heiligen verklärt hat, während die primären Zeugen namenlos und ohne religiöse Auszeichnung blieben.

Ich weiß, dass es andere Weihnachtsbilder gibt, auf denen die Hirten auch zu Jesus vordringen, aber auf diesem konkreten Altarwerk ist es wohl bewusst anders dargestellt, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Räume des Religiösen sind nie egalitär. Normalerweise bezieht sich das aber weniger auf die Menschen, sondern auf den Raum als solchen. Religiöse Räume sind Heterotope, Anders-Orte, in denen der Rest der Welt unter religiösen Paradigmen reflektiert wird. Das Christentum ist aber seit frühen Zeiten auch eine Ständegesellschaft gewesen, bei der einige dem Heiligen näher sind und vor allem näherkommen dürfen als andere. Das wird auf dieser Bildmontage überaus augenfällig. Die Frage ist, ob sich das in der Moderne geändert hat, oder ob wir nicht immer noch diese Unterscheidung von den Nahen und Fernen machen.

Das Bild des Nikolaus und der ‚bekehrte‘ Jude

Zu einer antijudaistischen Erzählung aus der Legenda aurea zum Hl. Nikolaus.

Glasfenster zu einer erzählung vom Hl. Nikolaus, dessen Bild einen Juden zur Bekehrung bringt.
Glasfenster mit einer Nikolauserzählung

Wir neigen ja dazu, uns aus all den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählungen des Christentums nur jene herauszupicken, die uns heute noch unproblematisch erscheinen. Dagegen verschweigen wir schamhaft all die anderen, die aber doch auch in den gleichen Erzählzyklus gehören. Das gilt nicht nur für den Heiligen Martin, sondern auch für den Heiligen Nikolaus, den wir immer für seine Goldklumpen für die verarmte Familie feiern, aber nicht für seine dingmagische Herabsetzung von Juden kritisieren. In der Legenda aurea findet sich folgende Geschichte, die oben auf dem Glasfenster aufgegriffen und gebündelt wird:

Als ein Jude sah, welche Wunder die Macht des Heiligen (scil. Nikolaus) wirken konnte, ließ er sich ein Bild von ihm machen, stellte es in seinem Hause auf, und wenn er eine längere Reise vorhatte, anvertraute er ihm seine Habe, wobei er Drohungen folgender Art auszusprechen pflegte: «Siehe, Nikolaus, alle meine Dinge anvertraue ich deiner Hut! Solltest du nicht alles gut bewachen, werde ich mich an dir mit Schlägen rächen!» Als er nun wieder einmal abwesend war, kamen Diebe, raubten alles und ließen nur das Bild zurück. Als der Jude bei seiner Rückkehr sah, wie man ihn beraubt an: «Herr Nikolaus! Ich hatte dich doch in meinem Hause aufgestellt, damit du meine Habe vor Dieben bewahrst! Warum wolltest du das nicht tun, warum hieltest du die Diebe nicht fern? So wirst du nun schreckliche Schläge bekommen und an Stelle der Räuber büßen! Meinen Schaden werde ich durch deine Qualen wieder wettmachen, und ich werde meine Wut mit Schlägen und Peitschenhieben kühlen!» Dann nahm der Jude das Bild und schlug und peitschte es grausam.

Da aber geschah Wunderbares und Staunenswertes: Als die Räuber die Beute untereinander teilten, erschien ihnen der Heilige Gottes, wie wenn er die Schläge empfangen hätte, und sprach: «Warum bin ich euretwegen so grausam gegeißelt und so schrecklich geschlagen worden? Warum musste ich so viel Qualen erleiden? Schaut, wie mein Leib voller blauer Flecken ist, wie er rot ist von Blutungen! Geht rasch hin und gebt eure Diebesbeute zurück! Sonst wird der allmächtige Gott gegen euch wüten, euer Verbrechen wird bekannt werden, und ihr werdet alle an den Galgen kommen!» Da sagten jene: «Wer bist du, der du so zu uns sprichst?» Der Heilige: «Ich bin Nikolaus, der Diener Jesu Christi, den der Jude für seine Habe, die ihr geraubt habt, so grausam gepeitscht hat.» Da liefen sie voller Angst zum Juden, berichteten vom Wunder, vernahmen von ihm, was er dem Bild getan, und gaben ihm alles zurück. So kamen die Räuber wieder auf den rechten Weg, der Jude aber nahm den Glauben an den Erlöser an.

Diese Geschichte ist böse in sich, konstruiert, um Juden verächtlich zu machen. Nicht nur, weil der geschilderte Jude als zu Bekehrender wahrgenommen wird (das ist fast noch der harmloseste Teil der Erzählung), sondern weil er als durch und durch unwahrhaftiger Jude dargestellt wird. Ein Jude, der durch seine Handlungen sich selbst als heuchlerisch überführt.

Nicht umsonst setzt die Erzählung damit ein, dass ein (natürlich reicher) jüdischer Bürger, der sein Geld in einer Schatztruhe hortet, sich insgeheim ein Kultbild zum Schutz seines Reichtums aufstellt. Er macht das, weil er, wie es einleitend heißt, an die Macht der Bilder glaubt. Schon das ist eine perverse, herabsetzende Darstellung.

Und wie ein guter orthodoxer Christ oder Katholik spricht er mit dem Bild, ganz der platonischen Urbild-Abbild-Theorie folgend – was dem Abbild geschieht, überträgt sich aufs Urbild. Auch das ist absurd und bösartig zugleich. Es zeigt, dass das Christentum dem Judentum eigentlich vorwirft, dass es das Bilderverbot aufgestellt hat, dem es selbst nicht folgen mag, und deshalb den Juden unterstellt, sich auch nicht daran zu halten. Im Gegenzug zeigt man, wie wirkmächtig das Christentum sich die Bilder (zumindest in seinen Erzählungen) vorstellt.

Und so ist alles weitere Dingmagie bis ins letzte Detail. Das hat eine Tradition seit dem byzantinischen Bilderstreit, in dem auch vehement mit der angeblichen Wirkmächtigkeit von Ikonen argumentiert wurde. Und wer sich darauf einlässt – konvertiert. Das glaube ich nun auch, nur ist das nicht ein erstrebenswerter Zustand, denn man konvertiert in eine Welt des Aberglaubens.

Deutungsarbeit IV

Hat der Hl. Josef für das neugeborene Jesuskind einen Brei am offenen Feuer zubereitet?

Detail eines Bildes aus dem Jahr 1437 mit dem Hl. Josef beim Kochen.
Der hl. Josef als Nährvater?

Auf der zweiten von mir aktuell betrachteten Tafel findet sich links am Bildrand die obige Darstellung. Man erkennt sofort die Übereinstimmung mit der nebenstehenden Figur des Heiligen Josef aus der vorherigen Tafel. Nur dass der dunkel-violette Untermantel fehlt, Josef keine Handschuhe und keinen Zimmermannsstab trägt und stattdessen eine Pfanne in der rechten Hand hat.

Dieses Motiv des Speise zubereitenden Josef tritt um 1400 in der Kunst auf und deutet auf eine volkstümliche Hinwendung zur Figur des Nährvaters hin. Er wird als treusorgender Gatte der Maria dargestellt, der sich um den Haushalt kümmert, während Maria sich dem Kind widmet. In der Literatur wird oft behauptet, Josef bereite hier einen Brei für das Christuskind. Das ist wohl wenig wahrscheinlich, denn auch im 15. Jahrhundert wusste man, dass Neugeborene nur Milch vertragen. Hier steuert offenbar der Wunsch nach Idylle die Wahrnehmung. Im 21. Jahrhundert kann dann sogar geschrieben werden, dass in Josef der ideale Mann dargestellt werde, weil er sich im Haushalt engagiere.

Das ist wohl eher Wunsch-Projektion, realistischer dürfte die Darstellung im Stundenbuch der Katharina von Kleve sein, die Maria beim Stillen und Josef beim genüsslichen Verzehr des von ihm vorher über dem offenen Feuer gekochten Breis zeigt.

Zweiter Advent

Ein Bild von Mariä Heimsuchung zum zweiten Advent

Mariä Heimsuchung, 1460, Museum Kremsmünster

Mariä Heimsuchung bzw. Visitatio Mariae – so wird die Begegnung von der schwangeren Maria mit ihrer schwangeren Cousine Elisabet bezeichnet. Es gibt viele wunderbare Bilder in der Kunstgeschichte zu diesem Ereignis, die wichtigsten habe ich in einer früheren Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik zusammengestellt.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts stoßen wir dann vermehrt auf intra-uterinären Darstellungen, die die beiden ungeborenen Kinder zu den zentralen Akteuren im Bild werden lassen.

Dargestellt sind beide Frauen auf dem 1460 entstandenen Bild aus Kremsmünster als junge Schwangere, was zumindest im Fall der Elisabet der Überlieferung widerspricht. Auch das Alter der Ungeborenen wird angeglichen

Wir werden nun also mehr oder weniger direkt nicht nur auf die Schwangerschaft der beiden Frauen aufmerksam gemacht, sondern sehen explizit auch noch eine Darstellung der beiden ungeborenen Kinder. Zum einen dient das der Klärung der unterschiedlichen Bedeutung beider Ungeborenen: Jesus ist wesentlich bedeutender als Johannes, was sich an der jeweiligen Gestik zeigt (Anbetung vs. Segen), zum anderen soll das im biblischen Text Beschriebene auch visuell zum Ausdruck kommen: die Freude des ungeborenen Johannes über die Begegnung seiner Mutter mit der mit Jesus schwangeren Maria. Wie hier auf dem Heimsuchungsbild aus dem Stift Kremsmünster aus dem Jahr 1460 thront Jesus auf diesen Bildern schon als Pantokrator ante portas, während Johannes sich kniend in eine Haltung der Anbetung ergibt.

Deutungsarbeit III

Notizen zu den Hosen des Josef

Ein weiteres Detail auf dem gerade von mir betrachteten Bild ist noch bemerkenswert. Und das ist der violette Schal, der quer über dem gut eingewickelten Jesuskind im Weidenkorb liegt. Es hat eine merkwürdige Form und wirkt wie zufällig abgelegt, ist aber natürlich wie immer auf spätmittelalterlichen Kunstwerken sorgfältig inszeniert.

Schaut man noch einmal auf das vorherige Bilddetail des Hl. Josef, dann erkennt man, dass das abgelegte Stück Stoff zur Kleidung des „Nährvaters“ gehört. Aber um welches Kleidungsstück handelt es sich? Die Form zeigt uns nun, dass es sich wohl um ein Beinkleid handelt, also quasi die Hose des Josef. Demnach hätte dieser sein Beinkleid ausgezogen, um das Neugeborene vor der Kälte zu schützen.

Tatsächlich finden wir vor allem in bestimmten rheinischen Traditionen dieses Motiv, bei dem sich Josef von Teilen seiner Beinkleidung trennt, um das Neugeborene besser auszustatten und vor der Kälte zu schützen. Die Web Gallery of Art schreibt dazu:

Was wir hier finden, ist die Geschichte von ‚Josephs Strümpfen‘. Der Vater Jesu sitzt am unteren Rand des Panels und schneidet eine seiner Leggings auf. Bestimmte … Weihnachtslieder erzählen, dass das Christ-Kind in Stoff aus dieser Unterwäsche gewickelt wurde. Aachens Kathedrale besaß einst als Relikt „Josephs Strümpfe“, die um 1400 Gegenstand intensiver Verehrung waren.

Träfe das zu, wäre auch der frierende Josef mit den Handschuhen aus der von mir betrachteten Tafel des Jahres 1437 zumindest unter seinem Mantel ohne Hose, eine Vorstellung nicht ohne Ironie. Wenn aber bereits 1400 und früher das frierende Christuskind ein Thema der Kunst war, kann es sich nicht auf die klimatischen Veränderungen im 15. Jahrhundert beziehen, sondern ordnet sich in eine kunstgeschichtliche Tradition ein. 1385, so lerne ich, schreibt ein sog. Werner der Schweizer in seinem Marienleben:

„Maria wand ir kindelin / in aerm klainu tüchelin, / Die man noch lat ze Ache sechen: / Ich warn und han es horen jechen. / Das su mit rechten maeren / Josephes hossen waeren / Zwai graewu tuchelu da sint. / Siner windelin, die man da vint.“

Deutungsarbeit II

Der heilige Josef in ungewöhnlicher Kleidung

Der Hl. Josef auf einem Kunstwerk des 15. Jahrhunderts

Die im vorherigen Beitrag betrachteten Menschen blicken u.a. auf diese Figur des hl. Josef, der hier in einer etwas ungewohnten Kleidung gezeigt wird. Dass er ein alter Mann ist, überrascht nicht, wohl aber die Fäustlinge, die er trägt. Das ist für Darstellungen seiner Person eher ungewöhnlich. Und so kann man sich fragen: wozu dienen die Fäustlinge? Heutzutage nutzen wir Handschuhe eher in der kalten Jahreszeit, um die Finger warmzuhalten. In früheren Zeiten allerdings waren Handschuhe auch ein Statussymbol, wie wir aus Porträtdarstellungen von Begüterten erkennen können, die die Handschuhe demonstrativ in der Hand halten. Aus dem Bilddetail selbst lässt sich nicht erschließen, weshalb Josef die Handschuhe trägt.

Man hat spekuliert, dass es eine Reaktion auf eine in der Mitte des 15. Jahrhunderts einsätzende Kältewelle in Europa sein könnte. Das ist möglich, überzeugt mich aber nicht richtig. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es hier entweder um Arbeitshandschuhe des Zimmermanns Josef geht oder auch um Statussymbole.

Deutungsarbeit

Was können wir aus Bilddetails erkennen?

Menschengruppe beim Bestaunen eines Ereignisses
Dtail eines spätmittelalterlichen Bildes

Ich „lese“ gerade ein Detail eines Bildes aus dem Jahr 1437. Was kann man aus einem derartigen Detail erkennen, welche Rückschlüsse kann man auf Einstellungen, Haltungen, Vor-Urteile, Ethnien, gesellschaftliche Stände usw. ziehen? Natürlich lebt vieles von den Vorerwartungen der Betrachter:innen, von ihren Vor-Urteilen und Urteilen gegenüber Bildern des Mittelalters und der Haltung der Menschen, die darin gespiegelt werden.

Zumindest kann man am Anfang vielleicht so viel sagen: es sind sehr unterschiedliche Leute, die hier in ganz verschiedenen Formen einen Blick auf ein Ereignis werfen, das uns im Augenblick noch verborgen ist. Zudem kann man anhand der dominanten Farben die Gruppe in zwei Hälften teilen.

Die linke, hell gekleidete Gruppe scheint vorwiegend aus Frauen zu bestehen, die, blickt man auf ihre Kleidung, wohl nicht den untersten Schichten der Bevölkerung angehören. Ihr Teint ist bei drei Figuren ostentativ weiß, bei einer Figur ist die Haut dunkel gegerbt. Betont wird durch die gefalteten Hände die Frömmigkeit der Betrachterinnen.

Die rechte, dunkler gekleidete Gruppe kann selbst noch einmal in zwei unterschiedliche Parteien aufgeteilt werden. Die beiden vorderen Figuren scheinen ebenfalls nicht einfache Arbeiter zu sein, sondern weisen sich durch ihre Kleidung als bessergestellt aus. Auffällig ist die rechte Figur, die etwas aus der Gruppe herausfällt, weil sie die anderen mit ausgestreckter Hand auf ein Geschehen hinweist, das wir noch nicht sehen.

Die hintere Reihe der rechten Gruppe ist – so kann man wohl doch sagen – derb gezeichnet. Es sind einfache Menschen mit unterschiedlichen Teints, deren Blicke sich nur bedingt auf das angezeigte Geschehen richten.

Offenkundig haben wir es hier mit Mitgliedern einer Klassengesellschaft zu tun, die einem uns unbekannten Geschehen beiwohnen. Sie sind vom eigentlichen Ereignis durch eine Holzwand abgetrennt, die vielleicht sogar die gesamte Gruppe in Frauen und Männer aufteilt. Sie sind in Erwartung – aber viel mehr lässt sich noch nicht sagen – außer vielleicht, dass es auch ethnisch eine buntgemischte Gruppe ist, wenn man den dunklen Teint einiger Figuren nicht auf die Sonneneinstrahlung zurückführt.

Alles Weitere lässt sich erst sagen, wenn wir wissen, was rechts von diesem Bilddetail passiert.

Hugenottisches Stillleben

Der Pariser Louvre zeigt eine faszinierende Ausstellung zum Thema „Stillleben“. Unter den Exponaten findet sich auch ein Kunstwerk der hugenottischen Malerin Luise Moillon.

Stilleben von Louise Moillon, 1633

Hanno Rauterberg bespricht gerade emphatisch in der ZEIT eine Ausstellung im Pariser Louvre. Er stellt seine Besprechung unter den Titel „O heiliges Gemüse! Selbst der Spargel wird zum Zeichen der Transzendenz“. Die Pariser Ausstellung trägt den Titel Les Choses – Une histoire de la nature morte und ist bis zum 23. Januar zu sehen. Der Louvre schreibt zur Ausstellung:

Die von Laurence Bertrand Dorléac kuratierte Ausstellung Things schlägt eine neue Sichtweise auf ein Genre vor, das lange Zeit als untergeordnetes Genre angesehen wurde, dessen Name – „Stillleben“ – an sich schon faszinierend ist. Darstellungen von Dingen, die bis in prähistorische Zeiten zurückreichen, sind ein wunderbares Fenster in die Geschichte. Künstler waren die ersten, die die Dinge ernst nahmen, indem sie ihre Präsenz erkannten, sie mit Leben erfüllten, ihre Formen und Bedeutungen, ihre Kraft und ihren Charme verherrlichten. Sie haben die Fähigkeit von Objekten eingefangen, unsere Vorstellungskraft zu beflügeln – uns glauben, zweifeln, träumen oder handeln zu lassen. Die Ausstellung greift das Stillleben-Genre aus der Perspektive des andauernden Dialogs zwischen vergangenen und gegenwärtigen Künstlern auf. Es wirft ein neues Licht auf unsere Verbundenheit mit materiellen Dingen und deckt die Kunstgeschichte von prähistorischen Äxten bis zu Chardin, Manet und den Readymades von Marcel Duchamp ab.

Unter den gezeigten Artefakten ist nun auch eine Arbeit von Luise Moillon (1610-1696), die zu den berühmtesten französischen Stillleben-Malerinnen des 17. Jahrhunderts zählt und aus einer Familie hugenottischer Maler stammt.

Jesus in der israelischen Kunst

Hinweis auf die Seiten einer Ausstellung von 2016/17 im Israel-Museum mit israelischen Bildern zu Jesus.

Ephraim Moses Lilien, Passover
Ephraim Moses Lilien, Passover

Dietrich Neuhaus, unser früherer Mitherausgeber, machte mich darauf aufmerksam, dass es 2016/17 im Israel-Museum eine Ausstellung gegeben hat, die sich mit „Jesus“ in der jüdischen Kunst beschäftigt. Diese Ausstellung ist in großen Teilen weiterhin online zugänglich und ist auch sehr gut kommentiert. Zu finden ist sie unter dieser Adresse. Die Ausstellung trägt den Titel „Behold the Man. Jesus in Israeli Art“. Ausgestellt wird natürlich einiges von Marc Chagall, das ist unvermeidlich, aber auch Werke von Maurycy Gottlieb, E. M. Lilien, Reuven Rubin, Igael Tumarkin, Moshe Gershuni, Motti Mizrachi, Menashe Kadishman, Michal Na’aman, Adi Nes und Sigalit Landau. Letztere kennen die Leser:innen des Magazins für Theologie und Ästhetik, weil ein Werk von ihr Teil der documenta-Begleitausstellung von 2012 war und seinerzeit von Karin Wendt im Magazin vorgestellt wurde (Embodying Art. Sigalit Landau).

Natürlich ist man bei derartigen Ausstellungen weitgehend auf figurative Kunst verwiesen. Das ist ihr elementarer Nachteil. Nur wenige Arbeiten können sich davon lösen. Jenen großen Zyklus, den man sich in der Ausstellung gewünscht hätte, findet man dort leider nicht: Barnett Newmans „The Stations of the Cross – Lema Sabachthani“. Aber Barnett Newmanns Werk ist auch keine israelische Kunst.

Quelle: Datei:National Gallery of Art – Barnett Newman – The Stations of the Cross – Lema Sabachthani
(5946553792).jpg –
https://de.wikipedia.org

Dafür finden sich viele andere interessante und nachdenkenswerte Arbeiten in der Ausstellung. Eine davon will ich kurz vorstellen, weil ich den Künstler bisher nicht kannte und er als dezidiert zionistischer Künstler einen spezifischen Gebrauch vom Jesus-Thema macht: Ephraim Moses Lilien (1874–1925). Das Israel-Museum schreibt zur Vorstellung des Künstlers und des ausgestellten Werkes mit dem Titel „Passover“:

Es war Ephraim Moses Lilien (1874–1925), der in die traditionelle jüdische Gesellschaft hineingeboren wurde und als Künstler in den kulturellen Zentren Mitteleuropas auftauchte, der die visuelle Darstellung des Zionismus in seinen frühen Jahren prägte. Als einzigartige Verschmelzung von Erotik und Fantasie des Jugendstils (Art Nouveau) mit frühem zionistischem Pathos und Idealismus gelang es Liliens Kunst, jüdische und christliche Symbole, Orientalismus und Einflüsse aus dem alten Ägypten und Assyrien zu kombinieren. Dieser eklektische Ost-West-Stil, der als Judenstil bezeichnet wird, wurde zu seinem persönlichen Markenzeichen. Liliens nationaljüdische Kunst schwingt auf subtile Weise mit der christlichen Idee mit, dass die Rückkehr der Juden nach Zion eine Vorbedingung für das Zweite Kommen war, was viele Christen dazu veranlasste, den Zionismus mit der Erlösung in Einklang zu bringen. Ohne Jesus darzustellen, umfassen seine Illustrationen Dornenkronen, Kreuzigungen und mit Maria verbundene Ikonographien. Diese Motive sind von zionistischer Bedeutung durchdrungen, ob sie nun als Zeichen für jüdisches Leiden in der Diaspora dienen oder eine stolze Entschlossenheit verkünden, eine nationale Wiederauferstehung im Land Israel zu erreichen.

Und das macht das Bild tatsächlich zu einem überaus herausfordernden Bild, das einen nicht kalt lässt, sondern zur je eigenen Stellungnahme nötigt. Das finde ich gut.

Die feinen Unterschiede

Es scheint nun doch etwas anderes zu sein, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk zeigt oder eine deutsche Kirchengemeinde.

Es ist nun doch etwas anderes, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk früherer Zeiten zeigt oder eine deutsche Kirchengemeinde. Die einen werden gezwungen, ihr Kunstwerk abzuhängen, weil kein Kommentar das Schmähwerk in seinem beleidigenden Charakter mindern kann, die anderen verweisen darauf, dass Kunstwerk und Kommentar eben zu ihrer Geschichte, also zu ihrer Identität im identitätspolitischen Sinn gehören. Und da haben sie vermutlich Recht. Bis heute gehört fatalerweise auch visueller Antisemitismus zur deutschen Identität. Wenn das angesichts öffentlicher Debatten etwas heikel wird, stellen wir einen Kommentar daneben, mit dem wir uns vom Antisemitismus im Bild distanzieren, lassen es dann aber wohlgemut als Kunstwerk hängen. Als ob ein Kommentar die Wirkmacht von Bildern brechen könne. Da sollte man aus der Kirchengeschichte etwas mehr gelernt haben. Die Wittenberger behaupten, sie hätten aus der Geschichte gelernt und gerade deshalb wollten sie die antisemitische Schmähplastik nicht entfernen, sondern direkt vor Ort kontextualisieren. Offen gesagt: ich glaube ihnen nicht. Ich halte ihre Kontextualisierung für ein Lippenbekenntnis, das folgenlos bleibt.

Ich hatte schon in der letzten Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik auf das Abendmahlsbild in der gleichen Wittenberger Stadtkirche verwiesen, auf dem Judas in herabsetzender Weise dargestellt ist.

Die Wittenberger Kirche erweist sich – durchaus in der Tradition Martin Luthers – als Sammelstelle antijüdische Visualisierungen. Und sie hat ein gutes Gewissen dabei, weil sie sich ja vom Antisemitismus distanziert. Sie sagen: Wir haben nichts gegen Juden, aber Antijudaismus gehört nun einmal zu unserer Geschichte und das wollen wir zeigen.

Die documenta fifteen stellt uns ganz konkret die Frage: können wir noch Abendmahl feiern unter einem Bild, das Juden herabsetzt? Geht das nach der Kriteriologie, die wir in Kassel zur Anwendung gebracht haben? Ich könnte es nicht. Jeder Gottesdienst in der Wittenberger Stadtkirche vor dem Altarwerk von Lukas Cranach ist Gotteslästerung, weil es nicht möglich ist, im liturgischen Vollzug zwischen dem kulturgeschichtlichen Werk, vor dem man feiert, und dem liturgischen Bild, das zum Ritus gehört (es ist schließlich ein Altarbild) zu unterscheiden.

Natürlich kann man, wie das einige jüdische Kommentatoren vorgeschlagen haben, die Wittenberger Stadtkirche musealisieren und den Wittenberger Antijudaismus zum Demonstrationsobjekt am historischen Ort machen. Nur fragt sich, wie eine christliche Gemeinde damit umgeht, dass sie nun nicht mehr Gottesdienst feiert, sondern Kulturgeschichte vergegenwärtigt. Darin sehe ich ein religiöses Problem.