Kunst Religion Israel

Das Heft 146 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es hat zwei Schwerpunkte: das Thema Kunst und Religion sowie den aktuellen Konflikt im Nahen Osten.

Editorial

VIEW

Der verborgene Gott und die Falten der Welt
Philippe Descolas Bildtheorie und einige notwendige Aufbrüche in der Theologie
Wolfgang Vögele [20 S.]

Staunen – Verstehen – Glauben
Bemerkungen zur theologisch-kunsthistorischen Führung im Museum
Wolfgang Vögele [24 S.]

Kunst und Religion
Plädoyer für eine Begegnung auf Augenhöhe
Andreas Mertin [16 S.]

✡ ISRAEL ✡

Bilderstreit oder: Der kleine Prinz im Nahostkonflikt
Israelkritik und Antisemitismus in aktuellen Karikaturen aus aller Welt
Andreas Mertin [32 S.]

Über Israel reden
Zwei Buchhinweise
Redaktion [2 S.]

Christen, Juden, Israel
Eine Collage von Kirchentexten aus aktuellem Anlass
Redaktion [8 S.]

„Es würde mich glücklich machen“
Israel, der Fotograf Max Jacoby und ein Essay von Heinrich Böll
Karin Wendt [8 S.]

Wir müssen sie beim Wort (und Bild) nehmen!
Gegen die grassierende Kultur der Unkultur in der Popkultur
Andreas Mertin [6 S.]

Meldung: Drittälteste Kirche der Welt beschädigt
Wenn Kunstzeitschriften zu Ideologieschleudern werden
Andreas Mertin [4 S.]

CAUSERIEN

Ein theologischer Kipppunkt zum Antijudaismus?
Gedanken über einen niedergeschriebenen, aber nicht ausgesprochenen Satz
Andreas Mertin [18 S.]

Ein bitteres Déjà-vu: Blindness and Insight II
Zwei unterschiedliche Rücktritte im Abstand von 13 Jahren
und warum sie dennoch miteinander zusammenhängen
Andreas Mertin [6 S.]

Nacht über der documenta
Ein Einwurf
Andreas Mertin [6 S.]

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach wir Armen!
Geschichten von goldenen Momenten und helfenden Händen
Andreas Mertin [16 S.]

RE-VIEW

Unter Beteiligung
Buchhinweise
Redaktion [1 S.]

POST

Bilderflut: Die KI als Bildgenerator
Kleine Spielereien zur Entspannung
Andreas Mertin [10 S.]

Kunst und Kritik

Was sollte Kunstkritik auszeichnen und inwiefern beeinflussen die Inhalte das Urteil über das Kunstwerk?

Kunstkritik ist zugegebenermaßen ein außerordentlich schwieriges Geschäft. Oft verwechselt man den eigenen Geschmack mit einem Kunsturteil, noch häufiger verwechselt man den Inhalt der Kunst bzw. eines Kunstwerks mit dessen künstlerischer Qualität. Wenn sich also etwas mit der Ukraine, dem Klimawechsel oder dem Globalen Süden beschäftigt, stellt man sich die Kunstfrage gar nicht mehr (Was an diesem Objekt ist eigentlich Kunst?), sondern reagiert darauf, dass Künstler:innen sich überhaupt mit diesem spezifischen Thema beschäftigen. Würde man dem folgen, wäre Kunst abhängig von der Bedeutung seines Darstellungsgegenstandes. Ein Kunstwerk einer Kreuzigung wäre dann bedeutsamer als ein Kunstwerk eines Pissoirs, ein MeToo-Kunstwerk wichtiger als eine Landschaftsdarstellung. Das mag kulturgeschichtlich ab und an der Fall sein (aber nicht immer, wie Marcel Duchamps Urinoir belegt), künstlerisch gilt es aber nicht, ganz im Gegenteil. In der Kunst sind alle Themen und Inhalte nur Anlässe (außerästhetische Substrate), anhand derer Künstler:innen ihr Werk entwickeln. Ob das Werk künstlerisch herausragt, wird an seiner formalen Durchdringung und nicht an der Bedeutsamkeit seines Inhalts entschieden. Dass wird im deutschen Feuilleton oft übersehen. Dann wird die bloße Tatsache, dass sich jemand auf den Ukraine-Krieg bezieht, schon zum künstlerischen Argument. Dass ist auch dort der Fall, wo es etwa um Tierrechte geht. Ein Artefakt wird aber nicht besser oder schlechter, wenn es sich für oder gegen Tierrechte einsetzt. Die Künstler:innen werden uns vielleicht sympathischer, wenn wir ihr Anliegen teilen, aber das macht ihre Kunst nicht qualitätvoller.

Zum zweiten: Künstler:innen nutzen außerästhetische Substrate, um ihr Werk zu gestalten, Farben, Formen, Themen, Erzählungen, Bilder, Klänge usw. usf. Es gehört zur Kompetenz in der Kunstkritik, nicht nur zwischen Kunst und Darstellungsgehalt unterscheiden zu können, sondern auch, den Darstellungsgehalt selbst korrekt einzuordnen, z.B. die Ikonographie. Das ist ein Teil der Bildung, die für die Kunstkritik Voraussetzung ist.

Man kann kunstgeschichtlich etwa die Leistung Donatellos bei der Darstellung der Maria Magdalena nur angemessen würdigen, wenn man zum einen weiß, wer Maria Magdalena überhaupt ist, wie sie in der Bibel und in späteren Legenden dargestellt wird und wie andere Künstler vor Donatello mit diesem Stoff umgegangen sind. Wer daher Maria Magdalena irrtümlicherweise für eine Figur aus der Orestie oder aus den homerischen Erzählungen hält, wird auch seine Leser:innen in seiner Kunstkritik in die Irre führen, weil seine Maßstäbe dann die falschen sind. Oftmals sind solche Zuordnungen von Stoffen gar nicht so einfach, wie ein luzider Hinweis von Karl dem Großen und seinem Hoftheologen Theodulf von Orléans in den Libri Carolini zeigt. Sie fragten, wie man mit zwei Kunstwerken umgehen soll, von denen eines Venus und Cupido und das andere Maria und Christuskind zeigt, man aber nicht weiß, an welches Bild welcher Titel gehört – und welches damit zu verehren ist. Sie plädieren für ein schlichtes Kunsturteil.

Nun aber zum Auslöser meines Beitrages. In der taz stellt Tim Mustroph die Kunst der jüngst verstorbenen Lin May Saeed vor, die im Kolbe-Museum ausgestellt wird. Der angesehenen Künstlerin geht es auf der inhaltlichen Seite um das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren, spezifischer um Tierrechte. Formal arbeitet sie u.a. mit der Darstellung von Tieren mit Hilfe des Materials Styropor. Die Kunstkritik widmet nun sehr viele Aufmerksamkeit dem kritischen Engagement der Künstlerin, nicht zuletzt auch dort, wo es sich mit dem künstlerischen Engagement überschneidet. Manchmal schießt die mitfühlende Kunstkritik dann aber doch übers Ziel hinaus.

Saeeds Figuren (sind oft) überlebensgroße Hunde und Schakale, die sie aus dem Werkstoff Styropor herausschält. Der Werkstoff ist bewusst gewählt, als subtile Klage gegen die Vermüllung der Natur: Styropor ist nicht biologisch abbaubar, die Kunst aus ihm ist daher toxisch.

Die Logik dahinter stimmt in doppelter Hinsicht nicht. Zum einen bedarf es einer anderen Begründung für den Werkstoff als ausgerechnet den Protest gegen die Vermüllung der Natur. Das hat ja die gleiche Evidenz, als wenn ich besonders viel mit dem Flugzeug fliegen würde, um gegen den zunehmenden Flugverkehr zu protestieren. Das ist ein performativer Selbstwiderspruch. Ich kämpfe gegen ein Problem, indem ich es vergrößere – wie subtil. Das hat etwas von den Verschärfungstheorien der RAF, wonach die Zustände erst noch viel schlimmer werden müssten, bevor die Revolution eintreten könne. Und zum zweiten: Styropor ist (vielleicht) biologisch nicht abbaubar, aber deshalb ist es noch lange nicht toxisch. Dem Styropor beigemischte Flammschutzmittel können giftig sein, aber nicht das Styropor selbst. Ob Mehlwürmer Styropor nicht doch verzehren und in CO2 und verrottbares Gut umsetzen können, wird seit 2015 erforscht. Aber selbst wenn Styropor nicht abbaubar und toxisch wäre, würde damit keinesfalls auch die Kunst toxisch. Das ist ein Denkfehler, denn man verwechselt das Objekt mit der Kunst.

Das Museum liefert nun eine etwas anders geartete, aber ebenso wenig plausible Erklärung:

Auch werden in ferner Zukunft nicht Bronze oder Marmor als bildhauerisches Material Zeugnis menschlichen Schaffens ablegen, da sie verfallen sein werden. Styropor hingegen bleibt intakt. Deshalb ist dieser auf Erdöl basierende, biologisch nicht abbaubare Kunststoff der von Lin May Saeed bevorzugte Werkstoff für ihre Arbeiten.

Was immer das besagen soll (und wie fern die Zukzbft auch sein mag), es trifft nicht zu. Styropor lässt sich leicht vernichten, ich will keinem Ikonoklasten Tipps geben, aber mit Hilfe von Aceton bleibt von den Arbeiten der Künstlerin wenig übrig. Das wäre bei Bronze oder Marmor nicht so. Marmor, um nur das anzumerken, ist vor 30 Millionen Jahren entstanden und wird seit 2600 Jahren abgebaut. Man sollte diese Stoffe im Blick auf ihre Beständigkeit nicht in einen Vergleich mit Styropor bringen. Die kleine Bronzeskulptur von Helmut Lander, die vor mir auf dem Schreibtisch steht, wird jede Styroporskulptur überleben – wir werden es nur alle nicht mehr erleben.

Als Theologe fand ich noch folgende Beschreibung in der Kunstkritik amüsant:

Auch biblische Geschichten animierten die Künstlerin. Sie zeigt den heiligen Hieronymus in genau dem Moment, in dem er einem hinkenden Löwen einen Dorn aus der Pfote zieht. Der bleibt der Legende nach zum Dank bei den Mönchen. Er muss dort Wachdienst schieben, wird später wegen eines vermeintlichen Fehlers sogar bestraft, bis sich zum Ende alles fein auflöst.

Ist das nicht schön, wie die gute alte Bibel immer wieder (auch für den Theologen) überraschende Geschichten zu erzählen weiß? Und der geschilderte Löwe ist sicher froh über sein Schicksal, ergeht es ihm doch ganz anders als dem im vierzehnten Kapitel des Richterbuches erwähnten Löwen, den Simson komplett zerreißt. „Da kam der Geist des Herrn über Simson, und Simson zerriss den Löwen mit bloßen Händen, als würde er ein Böckchen zerreißen“. Albrecht Dürer hat dieser Szene eine sehr schöne Grafik gewidmet, die freilich auf Tierrechte wenig Rücksicht nimmt. Im Vergleich dazu hat der Löwe des Hieronymus noch Glück gehabt – bei biblischen Helden weiß man ja nie genau, woran man ist.

Aber in welchem Buch der Bibel finden wir eigentlich die ‚biblische Geschichte‘ von Hieronymus und dem Löwen? Erraten, in gar keinem, weil der Kirchenvater Hieronymus im ausgehenden 4. und beginnenden 5. Jahrhundert nach Christus zu den Übersetzern der Bibel gehörte und weder zu ihren Verfassern noch zum dargestellten Inhalt! So kann er schlecht in der Bibel vorkommen und dort für ein besseres Mensch-Tier-Verhältnis eintreten. Auch diesem Mensch-Tier-Verhältnis hat Albrecht Dürer ein schönes, freilich im Blick auf die Legende allzu idyllisches Bild gewidmet.

Denn so gemütlich als Tischvorleger war das Leben für den Löwen des Hieronymus nicht, er wurde (geradezu widernatürlich) zum Schutztier eines Esels ernannt, musste nach dessen Diebstahl sogar dessen Funktion als Lasten­träger übernehmen (da die Mönche ihn verdächtigten, den Esel gefressen zu haben) und wurde erst spät rehabilitiert. Erzählt wurde diese Legende aber nicht vor dem 8. Jahrhundert nach Christus und damit etwa 700 Jahre nach deb biblischen Schriften. Biblisch ist an der Geschichte wenig, aber sie ist natürlich – wie bei allen mittelalterlichen Geschichten – voller Bezüge auf die Bibel. Wer die Geschichte des zahmen Löwen in ihrer ganzen Schönheit nachlesen will, kann dies in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine tun, die seit dem 13. Jahrhundert die Heiligengeschichten popularisierte.

Die sich mir in dieser Ausgestaltung der Legende aufdrängende Frage ist aber die, welche Tier-Rechte der Esel eigentlich gegenüber dem Löwen hat? Und welcher Gerichtshof wäre in der Lage, einen solchen Prozess zwischen zwei Tieren oder gar zei Tierarten zu führen? Sonst bleibt die ganze Debatte über Tierrechte doch letztlich wiederum nur eine anthropozentrisch beschränkte. Biblisch heißt es, dass erst in der Heilszeit den Tieren gegeneinander Rechte eingeräumt werden.

„Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinanderliegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.“

P.S.: Damit keine Missverständnisse entstehen: Natürlich kann die Kunst bestimmten kontroversen Themen eine größere öffentliche Aufmerksamkeit zukommen lassen, sie kann verdichtete Bilder für komplexe Szenarien schaffen (wie Picasso mit „Guernica“ für die verbrecherische Attacke auf die spanische Zivilbevölkerung oder Caspar David Friedrich mit dem „Mensch am Meer“ für die Romantik). Das ist seit 2000 Jahren eine der großen Leistungen von Kunst. Das soll hier nicht bestritten werden. Der Anlass für ein Kunstwerk sollte unseren Blick aber nicht trüben, wenn es um ein Kunsturteil geht. Picassos „Massaker in Korea“ ist ganz sicher aus Engagement entstanden – aber es ein schlechtes Werk. Und es gibt so unzählig viele Kunstwerke, die aus Engagement geboren wurden, aber es eben nicht verdienen, Kunst genannt zu werden. Diese Frage stellt sich nun im vorliegenden Fall nicht, es ist gute Kunst, die von Lin May Saeed in der Ausstellung präsentiert wird. Aber wenn ich ganz ehrlich bin und nur mein subjektives Geschmacksurteil äußern sollte: der Hund von Alberto Giacometti überzeugt mich weiterhin mehr. Aber es ist nur ein Bronze-Werk, man könnte also abwarten, was zuerst verfallen wird.

Medien(un)kunde

Es gibt Texte, die bringen einen zur Verzweiflung, weil man nicht erkennen kann, ob sie zur Gattung der Ironie, der Satire oder zur Realsatire gehören.

Es gibt Texte, die bringen einen zur Verzweiflung, weil man nicht erkennen kann, ob sie zur Gattung der Ironie, der Satire oder zur Realsatire gehören.

Ich lese gerade einen Meinungsbeitrag, der damit einsetzt, dass die Menschen immer neueste Medien beargwöhnen, allerdings dies selten gegenüber dem ersten Medium anwenden würden „das die Menschheit je erfunden hat: die Schrift.“ Und schon zucke ich zusammen und frage mich, ob das ernst gemeint ist.

Wenn man einmal zum engeren Begriff der „Menschheit“ nur den Homo Sapiens zählt, nicht den Homo Neanderthalensis oder gar den Homo Erectus, dann befinden wir uns in einem Zeitraum von mehr als 300.000 Jahren vor heute. Die Schrift wurde dagegen erst vor knapp 9.000 Jahren erfunden. Demnach wäre die Menschheit 291.000 Jahren medienfrei gewesen. Jeder/Jede weiß sofort, dass das Bullshit ist. Die Steinzeit mit den ältesten Werkzeugen menschlicher Wesen vor dem Homo Sapiens beginnt vor 2,6 Millionen Jahren und bekommt ihren Namen von ihrem Mediengebrauch. Die Bilder in den Höhlen von Chauvet (die nun eindeutig dem Homo Sapiens zugeordnet werden) sind mit Sicherheit über 39.000 Jahre alt und sind damit 30.000 Jahre älter als die Schrift. Zumindest die Bilder an den Höhlenwänden kann man als vom Menschen erfundenes Medium bezeichnen. So gesehen ist die Schrift eines der jüngsten Medien der Menschheit.

Ob unsere sehr frühen Vorfahren das Feuer auch zur Kommunikation genutzt haben, können wir nicht mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich ist das aber schon und dürfte ein noch älterer Gebrauch von Medien zur Kommunikation sein. Die menschliche Sprache, die orale Kultur geht der Schrift voraus, sie ist spätestens vor 22.000 Jahren vollständig ausgebildet. Es macht m.a.W. keinen Sinn, von der Schrift als dem ersten Medium des Menschen zu reden. Es sei denn, man definiert den Menschen über seinen Schriftgebrauch. Die Geschichte des Menschen setzt dann mit der Schrift ein, alles andere ist die menschliche Vorgeschichte. Das war ein Ansatz, den Leopold von Ranke vertreten hat: Er lässt die Geschichte der Menschheit dort beginnen, „wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige, schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.“ Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit teilen sich demnach an der Schrift.  Erst wenn die Menschen beginnen, mittels der Schrift ihre Existenz zu reflektieren, kommen sie zu sich selbst und sind keine Tiere mehr. Derartiges wird heute nicht mehr vertreten.

Dagegen war für den Philosophen Wilhelm Weischedel das Entwerfen von Bildern ein Grundgeschehen im Dasein des Menschen und ohne Bilder gibt es für den Menschen keine Welt. Geschichte setzt nach Weischedel also wesentlich früher ein und zwar mit den frühesten menschlichen Bildern, die wir heute etwa auf die Zeit von 40.000 vor Christus ansetzen. Es gibt aber gute Gründe, den Mediengebrauch des Homo Sapiens noch deutlich früher anzusetzen.

Der von mir gelesene Text meint nun, die Schrift halte uns „mit einem Fuß im Gestern“ fest. Das kann man mit guten Gründen bezweifeln.

Nun glaube ich schon nicht, dass wir in einer Schriftkultur leben, mir scheint die Vermutung viel wahrscheinlicher, dass die Menschen schon immer visuell präfiguriert und orientiert waren. Die Schriftorientierung galt immer nur für bestimmte (herrschende) Schichten der Gesellschaft. Ob die Schriftkultur nun patriarchalisch überformt ist, darüber kann man trefflich streiten. Die visuelle, also wesentlich ältere Kultur der Menschen ist es nicht (bzw. nur in den Hochzeiten des Christentums). Sie begleitet aber die Schriftkultur seit deren später Entstehung. Wir können an den Bildern der Höhle von Chauvet sehen, dass sie überwiegend von Frauen gefertigt wurden, wir können an den Artefakten der frühen Homo Sapiens sehen, dass sie sich an der Welt der Frauen orientieren. Die Bilderkultur ist eine offene Kultur, vor allem eine deutungsoffene Kultur. Was gerade vielleicht noch eingebunden war in den religiösen Kult, kann schon kurz darauf für die reine ästhetische Erfahrung oder als kulturgeschichtliches Dokument freigesetzt werden. Friedrich Schiller hat das in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung der Menschheit hervorgehoben. Kultur – auch Theater- und Schriftkultur – ist grundsätzlich polyvalent. Auch und gerade dort, wo sie der Kanonbildung unterliegt, bleibt Kultur von offenen Kunstwerken bestimmt, deren Deutung und Lesart eben nicht fixiert werden kann. Deshalb ist die Orestie im Wiener Burgtheater ein Gegenwartsstück. Sie erzählt uns nicht ein historisches Ereignis, sondern öffnet einen geistesgegenwärtigen Blick auf das Jetzt.

Die Geschichte der Bibel ist ein besonders gutes Beispiel für eine derartige fortdauernde Präsenz, noch jede Generation findet in diesem Buch ihre Geschichte und ihre Geschichten. Was ich aber überhaupt nicht zu teilen vermag, ist der Gestus, der die Bibel abschreibt und empfiehlt, alles doch mal in eigene Worte zu fassen. „Auch den Schriftreligionen täte es im Übrigen gut, wenn sie ihre Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen öfter mal in eigene Worte fassen, statt dauernd aus der Bibel oder einer anderen Heiligen Schrift zu zitieren.“ Was für eine erbärmliche Kultur wäre das. „Sie werden lachen: nur meine eigenen Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen“ – antwortete Bertolt Brecht auf die Frage nach seiner Lieblingslektüre. Ach, nein, er wählte lieber die Bibel als unentrinnbarem Horizont.

Umberto Eco schrieb 1984 in der Nachschrift zu seinem berühmten Roman „Der Name der Rose”, dass heutzutage freilich niemand mehr überlieferte Formen unbefangen verwenden könne, ohne sich der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen. Aber ebenso habe sich auch die permanente Kritik der überlieferten Formen erschöpft. Wer heute aktuell Bezug auf historische Formen nehme, müsse diese vielmehr als Zitate und Fundstücke der Tradition kenntlich machen. Mit anderen Worten „die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, dass die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muss: mit Ironie, ohne Unschuld”. Das scheint mir eine fortdauernde Einsicht zu sein.

Günther Anders – Eine Re-Lektüre

Günther Anders über die durch Apparate gesteuerte Wahrnehmung.

Das Sehen ist überholt und abgeschafft. Und ersetzt durch das Photographieren. Wo einer doch etwas anblickt – lass dich nicht irreführen: das tut er ausschließlich als Angestellter seines Herrn, der ihm um den Hals hängt, nämlich seines photographischen Apparats. Ich beobachtete eine holländische Reisegesellschaft. In dieser war einer, dessen Leica streikte und der offensichtlich hysterisch und atemlos wurde vor Versäumnispanik, weil er die Sehenswürdigkeiten, die ihm reif und knipsbar in die Augen hineinhingen, nicht pflücken konnte, während seine Reisekollegen rechts und links das konnten. Sich die Piazza oder den David oder Donatellos Judith anzusehen, auf diesen Gedanken kam er gar nicht, Augen hatte er ausschließlich für die anderen, für die Glücklicheren, die sich knipsend ihre Befriedigung verschaffen durften, und die er, bebend vor Missgunst und vor Neid, der fast wirkte wie Sexualneid, bei ihrer Tätigkeit beobachtete. – Einer dieser Glücklicheren ließ sich sogar knipsend knipsen, gewiss, um zuhause das Aufregendste, was es in Italien zu erleben gegeben hatte: nämlich eben sein Knipsen, vorweisen zu können. Wer etwas sieht, ohne es aufnehmen zu dürfen, der «hat» nichts vom Gesehenen, der «hat» es nicht. Nur knipsend «haben» sie … Bleibt nur die bescheidene Frage, was man vom Leben noch hat, wenn man weder mehr zu sehen noch zu erinnern braucht.

Was Günther Anders hier in seinem Italien-Reisebuch von 1956 (!) beschreibt, ist von der Wirklichkeit längst dramatisch überholt worden. Zwar halten die Besucher:innen weiterhin die Kamera (nun als Digitalkameras) zwischen sich und die Wirklichkeit (obwohl es doch hochauflösende und besser ausgeleuchtete Bilder online gibt), sie können die Wirklichkeit auch gar nicht mehr sehen (nur noch fotografieren), weil die Kulturindustrie mit ihren den Blick steuernden Kommentaren sich dazwischen drängt. Das Bild ist nur noch wahr, wenn eine zertifizierte Stimme im Ohr es dazu erklärt hat. In einem gewissen Sinn kehrt die Menschheit so zurück in das Mittelalter, zumindest in vorreformatorische Zeiten. Es bedarf bestallter Kleriker:innen der Kunstgeschichte, die einem vermitteln, was auf den Bildern gültig ist und was nicht. Das sapere aude ist einem Folgen auf das erläuternde Wort gewichen. Heil aus dem Heilsschatz der Kunstgeschichte gibt es nur noch, wenn man dem normierenden Wort folgt.

Das unterscheidet die heutigen Menschen von der Bildertheologie Luthers: Luthers Beitrag zur neuen Verfügbarkeit des Bildes betrifft nicht dessen Hersteller, sondern den Empfänger. Luther legt den Grund für die Betrachterästhetik, die Kunst als einen (nominalistischen) Vereinbarungsbegriff auffasst. Der Betrachter soll vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben. Er hat das letzte Wort. Luthers Bildempfänger ist kein fraglos Anstaunender, in ihm steckt ein potentieller Interpret, der kritisch nach dem Woher und Wozu, nach dem Umraum des Kunstgegenstandes fragt. [Werner Hofmann]. Diese Erkenntnis ist aktuell wieder im Schwinden begriffen. Wir wollen uns als Subjekte nicht mehr erproben, sondern nur noch der Stimme namenloser Kommentator:innen folgen.

Kulturindustrie II. Eine weitere Reiseerfahrung

Ein weiterer Beitrag zur kulturindustriellen Präfigurierung unseres Blicks.

Mitte September 2023 bin ich im Rahmen einer privaten Reise in Padua. Auch dort geht die Kolonisierung der Lebenswelten weiter und auch hier versucht die Kulturindustrie bzw. in diesem Fall die religiöse Verwaltung die authentische ästhetische und religiöse Erfahrung von Artefakten in den Griff zu bekommen und die Wahrnehmung der Besucher:innen kontrolliert zu steuern. Bisher war nämlich das Baptisterium des Domes in Padua nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes frei zugänglich. Man zahlte seinen Obolus und konnte sich nun dem Hauptwerk von Giusto de’ Menabuoi widmen. Er ist ein Maler aus der zweiten Generation nach Giotto. 1370 zieht Menabuoi nach Padua und steigt dort zum Hofmaler der örtlichen Herrscherfamilie der Carraresi auf. In diesem Zusammenhang erhält er den Auftrag, das Baptisterium des Domes als künftige Grabkapelle der Carraresi auszumalen. Und am Ende steht ein in sich stimmiges komplexes Werk, das die Betrachter:innen jedes Mal fasziniert und zu eigenen Entdeckungen einlädt.

Nun aber läuft alles anders. Man muss sich im Dom-Museum anmelden, bekommt dann einen Time-Slot zugewiesen, indem eine audiovisuelle Führung durchgeführt wird, die einen ideologisch (d.h. religiös-katholisch) und ästhetisch präfiguriert. Zunächst wird man in einen Saal geführt, der eine Multimedia-Show enthält, die einem Grundlagen des Christentums bzw. des Katholizismus anhand der Bilder beibringt. Darauf hätte ich gerne verzichtet. Mag sein, dass die Bildung weltweit so weit herabgesunken ist, dass ein großer Teil der Menschheit Kunstwerke wie dieses nicht mehr aus sich heraus verstehen kann, aber diese katholische Dröhnung ist wirklich zu viel. Seit der Moderne sind Kunstwerke nicht mehr Ideologie-Schleudern, sondern eigenständige Artefakte mit einer eigenen Sprache und Botschaft. Das gefällt den alten Herren nicht und so suchen sie die Artefakte wieder in den religiösen Kosmos einzufangen, indem sie die Besucher:innen religiös belehren und einnorden.

Und wenn man dann endlich in die Kapelle tritt, so sind die Bilder nicht frei zugänglich, sondern unterliegen einer gesteuerten Wahrnehmung. Man kann seinen Blick nicht frei schweifen lassen, weil nur das, worüber der Audioguide gerade redet, auch erleuchtet wird, der Rest liegt im Dunkeln. Und die Menschen sind schon so zugerichtet, dass sie das auch noch als freundliche Hilfestellung empfinden. Das ist es aber nicht, sie werden eben nicht zu eigener Wahrnehmung emanzipiert, sondern, ganz im Gegenteil, gesteuert – ganz zu ihrem Besten natürlich. Ja, Kunstwahrnehmung ist manchmal etwas anstrengend, herausfordernd und voraussetzungsreich. Aber die neuen kulturindustriellen Vermittlungsstrategien verhindern, dass überhaupt jemand authentische oder sagen wir besser: individuelle Erfahrungen machen kann. Immer treten Apparate zwischen das Werk und das Subjekt, letztlich könnte man genauso gut zu Hause eine Dokumentation auf Arte schauen. Traurige Zeiten.

Kulturindustrie I. Eine Reiseerfahrung

Es wird immer schlimmer. Zur kulturindustriellen Präfigurierung unserer Bildwahrnehmung.

Anfang September bin ich mit einer Reisegruppe in Brügge und Gent und besuche dabei auch den Genter Altar. Nach vielen Jahren der Restaurierung ist dieser nun wieder „zugänglich“ und wird den Besucher:innen mit Hilfe einer umfassenden Augmented Reality Show vorgestellt. Das ist der neue Trend in der kulturellen Vermittlung, eine Entwicklung, die sich schon seit Jahrzehnten abzeichnete. Der erste Grundsatz lautet: authentische, subjektive, eigene ästhetische Erfahrungen werden dem Publikum gar nicht mehr zugetraut. Bevor es das Kunstwerk betrachten darf, wird es ideologisch geschult, genauer: kulturindustriell zugerichtet. Man bekommt einen Kopfhörer mit Brille aufgesetzt und wird in die Unterkirche geschickt, um in einem dreiviertelstündigen Programm die Hintergründe zu erfahren, von denen die Betreiber:innen vermuten, dass heutige Besucher:innen nicht mehr darüber verfügen. Und mehr oder weniger merkbar werden dabei auch Ideologien untergeschoben, die der Interessenlage der Auftraggeber:innen entsprechen. Etwa dass Hubert van Eyck der ursprüngliche Schöpfer des Genter Altars sei. Das ist Unsinn, zwar gab es einen Hubert van Eyck, er ist mit Jan van Eyck aber nicht verwandt, kein Werk von ihm ist erhalten, er starb völlig verarmt 1426, obwohl er angeblioch doch den Auftrag für den Genter Altar bekommen hatte. In Gent giibt es einen Kult um Hubert, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Unterzeichnungen des Altars nur eine Handschrift, nämlich die von Jan van Eyck zeigen. Zur Motivation kurz die Zusammenfassung der Wikipedia:

Nils Büttner sieht die Motive für die Hinzufügung der Inschrift im Genter Lokalpatriotismus des 16. Jahrhunderts. Denn Jan van Eyck kam aus Brügge, war also kein Genter, während der zufällig namensgleiche Hubert als Genter Maler belegt war. Gent und Brügge standen seit jeher in Konkurrenz. Es war bei humanistischen Gelehrten beliebt, die eigene Heimatstadt mit einem „Städtelob“ zu feiern. Dabei ging es natürlich nicht an, dass das berühmteste Kunstwerk der Stadt von einem Auswärtigen geschaffen worden war. Weil Hubert van Eycks Name in Gent überliefert war, wurde er kurzerhand zum Bruder Jan van Eycks gemacht und dem auswärtigen Jan vorangestellt.

Das hindert die Genter bis heute nicht daran, an der Urheberschaft von Hubert van Eyck festzuhalten und als Wahrheit den Besucher:innen zu vermitteln. Und das gelingt ihnen um so effizienter, als dass die Besucher:innen der per Augmented Reality vermittelten Information gar nicht entgehen können. Der zweite „Preis“ den die Besucher:innen zahlen müssen, ist, dass Kunstwerke, die früher den Besuchenden frei zur Betrachtung offen standen, nun in die Führung eingebunden und ganz nebenbei abgehandelt werden. Und auch dabei wird alles der Genter Ideologie unterworfen, denn nicht Hugo von der Goes, sondern Justus van Gent soll das faszinierende Altarbild in der Unterkirche geschaffen haben. Aber die Wissenschaft weist es van der Goes zu:

Von seiner Hand sind heute fünfzehn Altarbilder und Gemälde bekannt. Darunter befindet sich das Kalvarienberg-Triptychon, das lange Zeit Justus von Gent (Joos van Wassenhove) zugeschrieben wurde. Die meisten Experten sind sich mittlerweile einig, dass es sich um das Werk von Van der Goes handeln muss.

Heute aber ist das Werk nur noch im Rahmen der Augmented-Reality-Tour zugänglich, die früher vorhandene Kapelle zur stillen Andacht mit dem Kunstwerk wurde vollständig der Kulturindustrie geopfert, eine authentische Erfahrung des Altars von Hugo van der Goes (auch als religiöses Artefakt) ist nicht mehr möglich. Das ist eine Katastrophe. Die Besucher:innen bekommen dagegen Schmonzetten von geraubten und wieder zurückgekehrten Teilen des Genter Altars zu hören, die mit der Erfahrung des Werkes aber auch rein gar nichts zu tun haben und eigentlich nur Marginalien sein dürften. Aber so wird alles getan, damit die Bedeutung des Altars gar nicht mit eigenen Wahrnehmungen erschlossen werden kann.

Und wenn man sich dann endlich, nach 45 Minuten kulturindustrieller Zurichtung, dem Genter Altar nähern kann, sucht man das vorher Gehörte im Werk auch zu sehen. Für die ästhetische Erfahrung ist das barbarisch. Um eine Formulierung von Reinhard Hoeps aufzugreifen:

Die Bilder werden einer ihnen vorgängigen außerbildlichen Realität untergeordnet, der sie im Schema symbolischer Repräsentation zu gehorchen haben.

Man sieht nur noch, was man vorher gehört hat. Und die Besucher:innen sind auch noch dankbar, weil sie all das ja nicht gesehen hätten, wenn ihnen nicht jemand bereits vorhergesagt hätte, dass das auf dem Bild zu sehen ist. Grundsätzliche Wahrnehmungen, wie etwa die gleiche Größe des ersten Menschenpaares mit Gottvater, die in der Einführung nicht erwähnt werden, aber sehr augenscheinlich sind, geraten so aus dem Blick.

Der gesamte Genter Altar ist aber heutzutage in einem Glaskäfig platziert, ganz so wie die Alien-Königin in Alien 4 – Die Wiedergeburt durch den Wissenschaftler Dr. Jonathan Gediman in einen ausbruchssicheren Glas­käfig eingesperrt wurde

Das geschieht in der Hoffnung, dass das Kunstwerk seiner ideologischen Rahmung nicht entkommen kann. Und anders als in Alien 4 ist diese Hoffnung beim Genter Altar sogar begründet. Er wird nie wieder frei sein und seine genuine ästhetische Qualität entfalten können. Er ist von den Kulturmanager:innen in einen Käfig gesperrt worden und wird nur noch distanziert zugänglich gemacht, wenn man sich vorher mit einer bestimmten Ideologie hat überschütten lassen.

Das elfte Gebot: Du sollst keine Ausstellung abbrechen

Aus Anlass der Schließung der Nürnberger Ausstellung mit Werken von Rosa von Praunheim einige Überlegungen zur Arbeit mit Kunst in der Kirche.

Ende Juli vermeldet die Presse die Schließung einer Kunstausstellung mit Werken von Rosa von Praunheim in der evangelischen Nürnberger Kulturkirche St. Egidien. Nun waren Irritationen im Blick auf Künstler und Ausstellung vorab zu erwarten und ich bin mir sicher, dass die Kurator:innen der Nürnberger Kulturkirche das auch sorgfältig bedacht haben. Sie sind letztlich das Risiko eingegangen und irgendetwas (vermutlich handfeste Proteste) muss sie dann dazu gebracht haben, dennoch die Ausstellung wieder zu schließen. Das halte ich nun wiederum für einen Skandal. Nicht wegen der Schließung einer Ausstellung mit Werken von Rosa von Praunheim, sondern grundsätzlich wegen der Schließung einer Ausstellung in einer evangelischen Kirche. Das berührt und verletzt das protestantische Selbstverständnis, aber auch die erarbeiteten Standards der Begegnung von evangelischer Kirche und zeitgenössischer Kunst zutiefst. Wir sind eine Kirche der Freiheit und das ist nicht nur so dahingeredet. Man klärt alle kontroversen Dinge, das ist Teil der kuratorischen Arbeit, im Vorfeld einer Ausstellung. Mit der Eröffnung hat man sich aber zu diesem Gast, seinem / ihrem Beitrag zur Kulturarbeit der evangelischen Kirche bekannt und lädt diesen Gast nicht wieder aus. Punktum. Das hat etwas mit cortesia, mit zuvorkommender Gastfreundschaft zu tun, die aus ganz archaischen Gründen nicht verletzt werden darf.

Mit den Worten von George Steiner: „Wo Freiheiten einander begegnen, wo die integrale Freiheit der Schenkung oder Verweigerung des Kunstwerkes auf unsere eigene Freiheit der Rezeption oder der Verweigerung trifft, ist cortesia, ist das, was ich Herzenstakt genannt habe, von Essenz … Von Angesicht zu Angesicht im Gegenüber zur Gegenwart gebotener Bedeutung, die wir einen Text nennen (oder ein Gemälde oder eine Symphonie), streben wir danach, seine Sprache zu hören. Wie wir auch die des auserwählten Fremden hören wollen, der zu uns kommt“.

Ab und an berate ich Kirchengemeinden oder halte Vorträge in Pastoralkollegs, was man berücksichtigen muss, wenn man in der Kirche zeitgenössische Kunst ausstellt. Das sind einfache Grundsätze, die man m.E. beherzigen sollte. Ich fasse sie hier einmal knapp zusammen, um dabei auch die Problemzonen und die Regeln zu beleuchten, um die es bei der Kulturarbeit der evangelischen Kirche geht.

Der erste Punkt steht unter der Überschrift: Man muss es auch wollen. Und das heißt: Klären Sie vorab und fragen Sie sich: Wollen wir wirklich Kunst ausstellen? Was erhoffen wir uns davon? (Mehr Besucher, interessante Impulse, Gespräche in der Gemeinde, neue Perspektiven …). Andernfalls planen Sie lieber einen Ausflug in eine Ausstellung! Oder einen Besuch im Museum! Oftmals ist es ja so, dass man Kunst nur ausstellen will, weil man sonst mit (s)einer Kirche nichts mehr anfangen kann. Das ist eine schlechte Voraussetzung für den Dialog von Kunst und Kirche. Wenn man sich vorher fragt, will man das überhaupt, dann bereitet man sich eben auch schon auf all die Herausforderungen vor, die ein solcher Dialog notwendig mit sich bringt.

Der nächste Punkt ist: Eine Ausstellung braucht Ideen. Und die Fragen lauten: Welches Modell wollen Sie kultivieren? Geht es Ihnen um: Religion in der Kunst? Geht es Ihnen um: Zeitgenössische Kunst? Geht es Ihnen um: Regionale Kunst? Geht es Ihnen um: Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen? Haben Sie ein Thema, ein Motiv, eine Konstellation, die Sie uisammen mit Künstler:innen bearbeiten wollen? Das ist insofern entscheidend, als dass dieses Modell darüber Auskunft gibt, worüber anlässlich der Ausstellung diskutiert werden soll und inwiefern die Kunst als Kunst dafür unentbehrlich ist. Man kann natürlich einfach prominente Namen ausstellen, aber dann ist man Teil der Kulturindustrie und nicht an einer Begegnung von zeitgenössischer Kunst und heutiger Religion interessiert. Wenn man ein Thema wählt, wäre das eben auch theologisch und theo-ästhetisch zu bearbeiten. Was unterscheidet die Ausstellung dieser Arbeiten von einer Ausstellung derselben Arbeiten in einer Galerie? Darüber muss man Auskunft geben können.

Der nächste, in der Gegenwart oftmals entscheidende Punkt, lautet: Nicht gegen die Gemeinde! Bereiten Sie die Gemeinde vor! Das Modell der fortschrittlichen Kunst und der rückschrittlichen Gemeinde ist überholt, es stammt aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Gemeinde muss informiert werden. Sie sollte aber nicht über Kunst abstimmen, das zeigt ein völlig falsches Verständnis von Kunst; sie sollte aber wissen, was auf sie zukommt. Nach evangelischem Verständnis wird die Gemeinde vom Presbyterium repräsentiert. Es wird Ängste geben – haben Sie keine Angst davor! Viele Befürchtungen entstehen aus der Unkenntnis zeitgenössischer Kunst – hier kann man Informationen liefern. Dann gibt es Ängste, was den Raum betrifft. Da hilft es, über das evangelische Raumverständnis nachzudenken und zu arbeiten. Dieser Punkt macht zwei grundlegende Dinge deutlich: Zum einen muss die Gemeinde und das heißt nach evangelischem Verständnis: das Presbyterium vorab informiert werden. Presbyter.innen sind Bedenkenträger.innen und das muss man ernst nehmen. Viel wichtiger ist m.E. aber der zweite Punkt: man muss in der Gemeinde am Raumverständnis arbeiten. Was ist ein religiöser Raum nach protestantischem (nicht nach bürgerlichem) Verständnis? Hier kursieren immer noch Vorstellungen von Sakralität, die Martin Luther bereits im 16. Jahrhundert aufgegeben hat, die reformierte Tradition natürlich ebenso. Es gibt im Protestantismus schlicht keine heiligen Räume. Kirchen sind auch keine Ruheräume (das ist eine bürgerliche Idee, als die Kirche nichts mehr inhaltlich zu sagen hatte). Es sind religiöse und kommunikative Räume, insofern sie dem Gottesdienst und dem Gemeindeleben dienen, aber Gott wohnt nicht zwischen diesen Mauern. Gott ist den Menschen in einer Galerie ebenso nah wie in einem Kirchengebäude. Aber religiöse Räume sind Heterotope, in denen wir über die Welt nachdenken. Und das können wir anhand von und gemeinsam mit Kunst.

Das führt uns zum nächsten Punkt: Wir sollen der Galerie keine Konkurrenz machen. Und das meint: Kirchenräume sind keine Ausstellungsräume, sondern religiöse Räume, die für Gäste offen sind. Das hat Konsequenzen für die spätere Inszenierung. Wenn Sie nur die freien Wände, die Sie haben, mit Bildern füllen wollen, handeln Sie wie eine Galerie. Dann sollten Sie gleich der Galerie Ihre Räume als Ausstellungsraum zur Verfügung stellen. Wenn Sie mit religiösen Atmosphären Ihres Raumes arbeiten, überlegen Sie, wie historisch Kunst in der Kirche Platz fand. Das ist lehrreich auch für die Gegenwart. In diesem Punkt geht es darum, zeitgenössische Kunst als solche, aber auch sich selbst als religiöse Institution ernst zu nehmen. Kirchen sind keine Galerien, sondern Heterotope, in denen über die Welt nachgedacht wird. Und das kann man auch mit Hilfe von Kunst machen.

Der nächste Punkt fordert noch einmal auf: Stellen Sie sich (vorab) Fragen! Welches Problem möchte ich / möchten wir in der Zusammenarbeit mit Künstler:innen bearbeiten? Worüber möchte ich / möchten wir neue Einsichten? Was ist das bisher Ungesehene / Unerhörte in meiner / unserer Gemeinde oder unserer Gesellschaft? Was mache ich ganz selbstverständlich im religiösen Raum, ohne darüber nachzudenken? Wo gibt es blinde Stellen? Inwiefern können mir Künstler:innen dabei helfen, diese wieder ins Bewusstsein zu heben? Diese Fragen zielen darauf, dass es um ein gemeinsames Unternehmen geht, nicht um einseitige Präsentationen.

Der nächste wichtige Punkt behandelt die unterschiedlichen Interessen von Aussteller:innen und Künstler:innen. Eine Ausstellung in einer Kirche ist kein Künstler:innen-Monolog. Wenn Sie nicht eine Ausstellung aus einem bereits bestehenden Bilderfundus zusammenstellen, besprechen Sie sich mit dem Künstler bzw. der Künstlerin. Beachten Sie aber: Künstler:innen haben andere Interessen als Sie. Es geht aber um einen Dialog, nicht um einen künstlerischen Monolog. Sie haben ein Erkenntnisinteresse im Blick auf das Besondere Ihres Raumes – das ist es, was Sie einbringen. Künstler:innen sind an Galerie-Inszenierungen gewöhnt, nicht mehr an Kircheninszenierungen. Hier müssen beide lernen. Der Raum ist als Heterotop nicht gleich-gültig, das ist die bleibende Erkenntnis aus Michel Foucaults Heterotopie-Konzept. Und das muss im Dialog mit den ausgestellten Künstler:innen auch deutlich bleiben, sonst kommt es nur zu Missverständnissen. Ich treffe oft auf Kolleg:innen, die nur stolz darauf  sind, diesen oder jenen berühmten unter den Künstler:innen ausgestellt zu haben. Darum geht es aber nicht. Kirchen sind keine Galerien, sondern kommunikative religiöse Räume.

Der nächste Punkt ist dem entsprechend: Was ist das Narrativ? Und das meint nicht das Narrativ der Kunst, sondern das Narrativ des konkreten Dialogs von Kunst und Religion. Jede gute Ausstellung in der Kirche hat ein Narrativ, eine Geschichte oder Erzählung. Was wollen Sie mit Ihrer Inszenierung den Besucher.innen erzählen? Versuchen Sie, einen Skopos (Leitsatz, Lehrsatz) Ihrer Ausstellung zu formulieren. Es geht um eine Art, regulative Idee der Ausstellung – die durchaus dann vom Resultat abweichen kann, aber doch das Ziel vorgibt.

Nun aber zum aktuell wichtigsten Punkt: Was tun bei Ärger? Kunst fordert uns heraus. Was immer Sie ausstellen, nicht alle werden einverstanden sein. Das ist gut so. Ziehen Sie niemals(!) ein Bild zurück. Erklären Sie, warum Sie es eingesetzt haben. Legen Sie Ihre Perspektive dar. Verteidigen Sie das Bild und den Künstler bzw. die Künstlerin. Viele Proteste gehen auf eine Verwechslung von Form und Inhalt zurück oder basieren auf einer veralteten Vorstellung von Kunst als Illustration. Sprechen Sie darüber mit den Protestierenden. Machen Sie eine Veranstaltung daraus. Die Schließung einer Ausstellung, aber auch schon das Zurückziehen nur eines Bildes ist ein kuratorischer Offenbarungseid. Denn das besagt nichts anderes, als dass man im Vorfeld als Kurator:in nicht genügend nachgedacht hat. Wenn also im Vorfeld erkennbar wird, dass ein Künstler oder eine Künstlerin in den auszustellenden Werken Probleme mit der katholischen Kirche aufarbeitet, ist eine evangelische Kirche vielleicht der falsche Inszenierungsort. Die Künstler:innen missbrauchen dann die evangelische Kirche und wollen gar keinen Dialog. Sie nehmen die evangelische Kirche in ihrer Besonderheit nicht ernst. Das kommt relativ oft vor und lebt von einem Kunstverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts, das Kunst an Provokation knüpfte. Darüber sind wir heute längst hinaus. Man muss schon sehr eurozentristisch denken, um an diesem Modell festzuhalten. Im Rest der Welt denkt man nicht so.

Wenn man diese Punkte abarbeitet, werden einem die Chancen und Risiken der Begegnung von Kunst und Religion bewusster. Man wird Streit nicht verhindern können, aber man sollte ihn aushalten lernen. Sich zurückzuziehen, ist feige und offenbart mangelndes Selbstbewusstsein..

Entdeckungen im Barock

Was kann man in der Kunstgeschichte alles entdecken: zum Beispiel die Gründerin der ersten Kunstakademie für Frauen: Elisabetta Sirani.

Ich begleite im Sommersemester 2023 Studierende der Ev. Theologie an der TU Dortmund bei Besuchen von Kunstmuseen als außerschulischen Lernorten. Das Seminar von Dr. Michael Waltemathe trägt den Titel „Kunst und Theologie“. Wir treffen uns regelmäßig in ausgewählten Museen verschiedener Städte in NRW und erörtern die Kunstwerke auf die wir dabei stoßen. Vor kurzem waren wir in Münster, der Stadt der Skulptur-Projekte und besuchten u.a. das LWL-Museum für Kunst und Kultur. Wenn man Museen als „Gattungshöhlen der Menschheit“ begreift, so ist ihr  Besuch immer auch eine Frage nach der eigenen Identität. Wie bildet sich in der Kunst die Welt der letzten 1000 Jahre ab, was bewegte und was verstörte die Menschen, was entdecken sie für sich neu und was lassen sie irgendwann hinter sich? Und diese „Funktion“ hatten Bilder, seitdem Menschen solche schaffen. In der Höhle von Chauvet, die seit 28.000 Jahren nicht mehr betreten wurde, können wir anhand der konservierten Fußspuren der Letztnutzung, einiges über den initiatorischen und identitätsbildenden Charakter der dortigen Bilder lernen. In die Bedeutung der Bilder der Horde/Gruppe eingeführt zu werden, bedeutete damals vermutlich, als anerkanntes verantwortliches Mitglied in die Gruppe aufgenommen zu werden und seine Identitätsbildung vervollständigt zu haben. Heute haben wir kein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, was eigentlich der Sinn eines Museums ist, man hat das Gefühl, dort sei alles irgendwie museal, von gestern, verstaubt und überholt. Das ist natürlich Quatsch. Museen sind „Gattungshöhlen der Menschen“, hier begegnen wir uns selbst. Seit 200 Jahren haben wir zudem einen Kunstbegriff, der Kunst nicht mehr als irgendeine Form der Objektivation, sondern als komplexe soziale Vereinbarung versteht. Und diese Vereinbarung ist fluide, sie verändert sich ständig, weshalb es wiederholter Besuche auch in Kunstmuseen bedarf, um die aktuellen sozialen Vereinbarungen zur Kunst kennenzulernen.

Als ich Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu studieren begann, hätte man etwa nicht erwartet, in den Kunst-Abteilungen des Barock Kunstwerke von Frauen zu finden. Aufgrund der Vormacht männlicher / patriarchalischer Vorstellungen galt es als gesicherte Erkenntnis, dass Frauen sagen wir um 1630 nicht gemalt hätten und schon gar nicht als professionelle Künstlerinnen. Stieß man dann auf beeindruckende Werke von Frauen, wurden sie zunächst einfach Männern, etwa Verwandten zugeschrieben. Klassisches Beispiel war Artemisia Gentileschi, deren Oeuvre ihrem Vater zugeschlagen wurde. Erst nach und nach wurde der Erkenntnis (Ausstellung-)Raum gegeben, dass selbstverständlich Frauen auch professionelle Künstlerinnen waren – wenn auch unter Hürden, die vom Patriarchat künstlich errichtet wurden.

Wenn wir aber heute durch ein Museum gehen, fragen wir fast schon intuitiv danach, wenn wir in der Barock-Abteilung (oder in den nachfolgenden Sälen) keine Künstlerinnen finden. Das katoptrische Universum, das ein Museum normalerweise darstellen sollte, hat dann nämlich einen blinden Fleck. Ähnliches gilt für alle marginalisierten Gruppen in der vom Museum jeweils gespiegelten Welt.

Mit den Studierenden durch ein Museum wie das LWL in Münster zu laufen, heißt dann in der Regel, dass einige Studierende sich zu einzelnen Werken intensiver vorbereitet haben und wir nach einer entsprechenden Einführung durch sie in die Unterhaltungen vor Gemälden eintreten. Darüber hinaus haben alle in der Gruppe noch besondere Aufgaben, sie schauen das jeweils ausgewählte Objekt unter dem Aspekt der Genderfrage an, oder unter dem Aspekt der Ökologie, der dargestellten Ethnien, den Aspekten von Rassismus und Antisemitismus usf. Wir machen also präsentische Fragestellung noch einmal im Blick auf historische Objekte fruchtbar.

Bei der Vorbereitung der Exkursion ins LWL hatte ich im Online-Datenbestand des Museums eine Barock-Künstlerin entdeckt, die ich bis dato nicht kannte und deren Biografie, die ich mir deshalb angeschaut habe, außerordentlich beeindruckend ist. Es handelt sich um Elisabetta Sirani. Die Wikipedia schreibt einleitend knapp:

Elisabetta Sirani (* 8. Januar 1638 in Bologna; † 28. August 1665 ebenda) war eine italienische Malerin und Kupferstecherin. Sie gründete in Bologna eine Kunstakademie nur für Mädchen und Frauen und war eine der ersten Frauen überhaupt, die in die renommierte Accademia di San Luca in Rom als Mitglied aufgenommen wurde.

Ihr Vater arbeitete in der Werkstatt von Guido Reni, war aber nicht so erfolgreich wie seine Tochter, die mit 17 Jahren zu malen begann und deren Einnahmen den Familienhaushalt finanzierten. Die Künstlerin musste immer etwas für sich selbst von ihren eigenen Einnahmen abknappsen. Da Frauen keinen institutionellen Zugang zur Kunst hatten, gründete in Bologna eine Akademie nur für Frauen. Ihre eigenen Werke lassen sich ganz gut zu den Arbeiten ihrer Zeitgenossen in Beziehung setzen, im Vergleich zu denen von Guido Reni sind sie nicht so glatt klassizistisch barock, sondern persönlicher und intimer.

Schade, dass das LWL in Münster das Kunstwerk gerade nicht ausstellt, aber es wäre durchaus eine Anregung, einmal in einem Kabinett Barockkünstlerinnen zusammenzustellen. Man muss ja nicht gleich eine eigene Ausstellung daraus machen.

Nicht nur Stilfragen

Claudia Roth hat die schwere Aufgabe, in einem kulturpolitischen Spannungsfeld die demokratischen Normen und die Freiheit der Kunst im Auge zu behalten, weil Kunst zwar politisch ist, aber politische Eingriffe in die Kunst unterbleiben müssen. Künstler.innen brauchen eine politische Umgebung, in der sie ungehindert arbeiten könnten.

Claudia Roth war als Ehrengast zur Jewrovision vom Zentralrat der Juden eingeladen und wurde dann während ihrer Rede von den Teilnehmer:innen ausgebuht. Man muss schon ein merkwürdiges Verständnis von Gastfreundschaft haben, wenn man jemanden so behandelt: ihn als Ehrengast einzuladen und ihn dann auszubuhen. Nun kann man zu Claudia Roth stehen, wie man will, ich persönlich sehe vieles kritisch, was sie macht, aber so verhält man sich nicht.

Worum es aber im Kern geht, sind nicht Stilfragen, sondern Kernfragen der Kulturpolitik und des Staatsverständnisses. Und da habe ich große Probleme, welches Staats- und Kulturpolitikverständnis der Zentralrat der Juden artikuliert. Es geht darum, dass der Staat der Kunst und Kultur vorgeordnet werden soll. Gegen zentrale Bestimmungen unseres Grundgesetzes soll der Staat entscheiden, ob bestimmt Kunstwerke zugelassen oder entfernt werden  oder Kulturveranstaltungen zugelassen werden. Dieses Verständnis ist verfassungsfeindlich – um es klar und deutlich zu sagen. Der Staat, das ist eine Lehre aus der schrecklichen Kulturpolitik des Dritten Reiches, hat sich aus der Kunst herauszuhalten. Er reguliert nicht die Kunst danach, welche politischen, sozialen oder religiösen Haltungen die Kunstproduzierenden haben. Er betreibt mit anderen Worten keine Gesinnungsschnüffelei.

Genau das fordern aber jene, die sagen, dass wer bestimmte Haltungen vertritt – etwa eine gewisse Nähe zur BDS-Bewegung erkennen lässt -, keine Auftritte mehr in Deutschland haben solle. Und es geht dabei nicht nur um öffentlich geförderte Veranstaltungen, sondern – wie das Beispiel von Roger Waters zeigt – um jede Form von öffentlichen Auftritten. Das ist umso merk­würdiger, als dass sehr feine Unterscheidungen gemacht werden, wann man auf die BDS-Nähe von Künstlern hinweist. Wenn es einem passt, lässt man den Hinweis auch schon einmal weg, in anderen Fällen wird er mühsam konstruiert – er/sie kennt jemanden, der BDS unterstützt. So sollten wir nicht mehr über Kulturpolitik reden. Die Lehre, den die Väter der Verfassung gezogen haben, war die Feststellung, dass die Kunst in Deutschland frei ist. Das heißt nicht, dass sie alles machen kann, sie unterliegt wie jeder andere den Gesetzen der Bundesrepublik, aber es gibt keine kulturpolitischen Vorgaben im Blick auf die Haltungen der Künstler:innen. Genau das wird im Moment aber gefordert und wer sich dem nicht beugt, wird ausgebuht. Im Augenblick haben fast alle Gerichte und Staatsanwaltschaften der vorsichtigen Position gegenüber einer Ausgrenzung von Künstler:innen aufgrund bestimmter Haltungen aus verfassungsrechtlichen Gründen den Vorzug gegeben. Und die Verfassung ist an diesem Punkt auch nicht einfach änderbar, es gehört zu den Grundrechten. Der Kulturstaatsministerin ist bei der Bewertung von Haltungen von Künstler:innen äußerste Zurückhaltung angeraten. Es kommt dem Staat schlicht nicht zu.

Der Zentralrat der Juden möchte nun eine Art Vorinstanz etablieren, die zunächst prüft, welche Haltung Künstler:innen z.B. im Blick auf Israel oder zur Bewegung BDS haben und dann erst die Entscheidung trifft, aber diese Künstler:innen auftreten dürfen. So etwas ist gängige Praxis in beinahe allen totalitären und islamistischen Systemen dieser Welt. Es sollte nicht die Praxis der BRD werden. Ich möchte weder, dass die Deutsche Bischofskonferenz, noch der Rat der EKD, noch der Zentralrat der Muslime und auch nicht der Zentralrat der Juden irgendein formales Recht haben, Kulturveranstaltungen zu verhindern. Das wäre ein Rückfall in vordemokratische Zeiten. Dort, wo tatsächlich Christen, Muslime oder Juden beleidigt werden, wo Volksverhetzung betrieben wird, muss der Rechtsweg eingehalten werden. Aber das ist nicht gewünscht, wohl wissend, dass wir in einem liberalen Rechtsstaat leben, in dem die Gerichte den Zensurvorhaben Schranken setzen. Deshalb versuchen einige, illiberale Abkürzungen zu etablieren – an der Verfassung vorbei auf Kunst und Kultur Zugriff zu nehmen.

Es ist nun gut, dass fünfzig Persönlichkeiten aus der jüdischen Community erklärt haben, dies geschehe nicht in ihrem Namen. Zu den 50 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des offenen Briefes zählen etwa Daniel Barenboim, Daniel Cohn-Bendit, Daniel Kahn, Barrie Kosky, Igor Levit, Rachel Libeskind, Meron Mendel, Eva Menasse, Jerry Merose, Jerzy Montag, Michael Naumann, Susan Neiman, Miriam Rürup, Sasha Marianna Salzmann, Julius Schoeps, Paula-Irene Villa Braslavsky, Albert Wiederspiel, Mirjam Zadoff oder Moshe Zimmermann. Das ist eine sehr wichtige Intervention und sie kann nicht einfach als Einzelmeinung beiseite gewischt werden. Die Verfasser erklären „Roth habe die schwere Aufgabe, in diesem Spannungsfeld die demokratischen Normen und die Freiheit der Kunst im Auge zu behalten, weil Kunst zwar politisch ist, aber politische Eingriffe in die Kunst unterbleiben müssen. Kulturschaffende bräuchten eine politische Umgebung, in der sie ungehindert arbeiten könnten. Viele Juden gestalten in Deutschland den Kulturbetrieb mit – es muss liberaler Konsens bleiben, dass Religionsgemeinschaften keinen Einfluss darauf nehmen.“

Dagesh-Kunstpreis

Mit der Video­installation Sans histoire gewann die Künstlerin Maya Schweizer den diesjährigen DAGESH-Kunstpreis, der gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin (JMB) und von „Dagesh. Jüdische Kunst im Kontext“ verliehen wird.

Mit der Video­installation Sans histoire gewann die Künstlerin Maya Schweizer den diesjährigen DAGESH-Kunstpreis, der gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin (JMB) und von „Dagesh. Jüdische Kunst im Kontext“ verliehen wird. Die Künstlerin beschäftigt sich in ihrer Präsentation mit dem Jüdischen Museum Berlin als Ort der ritualisierten Erinnerung. Sie setzt der vom Kunstpreis gestellten Frage „Was jetzt? Von Dystopien zu Utopien” ein offenes „Ohne Geschichte” entgegen.

Das Berliner Jüdische Museum schreibt zu ihrer Arbeit: In Sans histoire, dem für dieses Projekt eigens produzierten Film, spitzt Maya Schweizer ihr Gedanken­experiment eines Bewusst­seins „ohne Geschichte” zu. Sie geht auf Ängste und Hoffnungen der Vergänglich­keit ein, die sowohl das Museum als unmittel­baren Standort, als auch große gesell­schaftliche Prozesse betreffen. Was passiert, wenn Erinnerung vor historischen Um­wälzungen, vor der Klima­katastrophe oder letztlich der Endlich­keit menschlicher Existenz verblasst? Wirkt sich die Vergangen­heit noch auf die Zukunft aus? Wird eine gemein­schaftlich einsetzende Amnesie durch ein digitales Ein­speichern aufge­halten oder gefördert? In einem Wechsel von bedrohlichen und befreienden Impulsen erkundet die Künstlerin trans- und post­humane Szenarien. Maya Schweizers experimentelle und filmische Arbeiten verhandeln oft Fragen von Geschichte und Erinnerungs­kulturen und wie dieses Zusammen­spiel unser kollektives und individuelles Erleben gegen­wärtig be­einflusst. Neben der preis­gekrönten Video­installation zeigt die Ausstellung drei weitere experimentelle filmische Werke aus den Jahren 2012 bis 2020. Schweizer verwebt in den vier Arbeiten Fragmente der Erinnerung und Spuren des Vergessens. So entstehen aus Texten, Tönen und Bildern bewegte Gedanken­ströme, die sich aber nicht zu Erzählungen zusammen­fügen. Die Ausstellung erkundet das individuelle und kollektive Gedächtnis und greift das Wasser als Sinnbild in den einzelnen Werken auf, das diese vereint.

Maya Schweizer studierte Kunst und Kunstgeschichte in Aix-en-Provence, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) und an der Universität der Künste Berlin, wo sie 2007 ihren Abschluss als Meisterschülerin bei Lothar Baumgarten machte. Schweizer arbeitet mit verschiedenen Medien, wobei ihr Schwerpunkt auf experimentellen Videoarbeiten liegt. [wikipedia]

Informationen zur Ausstellung im Überblick
Wann: 5. Mai bis 27. Aug 2023
Wo: Libeskind-Bau EG, Eric F. Ross Galerie, Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin