Frau in einem Gebetbuch blätternd zwischen Alltag, Glaube und Ewigkeit.
Das Bilddetail stammt aus einem Kunstwerk vom beginnenden 16. Jahrhundert, in dem ein Geldwechsler bei der Arbeit gezeigt wird. Hier sehen wir die fromme Frau des Geldwechslers, die versucht, die Arbeit ihres Mannes mit den Bestimmungen des Glaubens in Übereinstimmung zu bringen. Aber auch in ihre eigene Welt der Religion dringt der Alltag bereits ein: rechts hinter ihr der Lärm der Straße, links vor ihr der Hohlspiegel, der ein Zimmerfenster mit Ausblick spiegelt.
Detail eines Bildes aus dem Jahr 1599, auf dem eine Frau ihre Altersarmut beweint.
Das Bilddetail stammt aus einem Kunstwerk, das die Altersarmut eines Ehepaares thematisiert und zugleich zeigt, wie die begüterten Kinder sich weigern, ihre Eltern zu unterstützen. Wenn man sich das Detail genau anschaut, dann ist die alte betrübte Frau derartig geschwächt, dass sie ihren linken Arm, dessen Hand die Tränen wegwischt, mit der rechten Hand stützen muss.
Altersarmut spielt durch die Geschichte der Menschheit hindurch eine wichtige rolle für die Ethik, die eine Horde, eine Gruppe oder eine Gesellschaft entwickelt. Im biblischen Gebot, das wir wahrscheinlich in der Formulierung „Du sollst Vater und Mutter ehren“ gelernt habe, spielt in der ursprünglichen Formulierung die Altersarmut eine zentrale Rolle. Anders als es das bürgerliche 19. Jahrhundert mit seinem verschnöselten Begriff der Ehre meinte, geht es gar nicht um „Ehre“, sondern um „kabod“, Schwere und Gewichtigkeit. Salopp könnte man formulieren: „Du sollst Vater und Mutter fetthalten“. Das war in Zeiten, in denen es keine Sozialgesetzgebung gab, ein zentrales ethisches Moment. Die Eltern, die weder durch Jagd noch Verdienst sich noch ernähren konnten, nicht verhungern zu lassen. Früher war das intuitiv einsichtig, heute, genauer seit 1980 wird es als Abstraktum gesellschaftspolitisch unter dem Stichwort „Altersarmut“ diskutiert:
Detail eines Bildes aus dem Jahr 1836 zum Thema Reicher Prasser – Armer Lazarus, bei dem im Hintergrund ein sog. Kammermohr platziert wurde.
Das ist ein Detail aus einem Biedermeierbild, das eigentlich die Geschichte vom armen Lazarus und dem reichen Prasser zum Thema hat. Ich beschäftige mich im Augenblick damit, weil es um die Frage geht, wie Reichtum heute visuell zum Ausdruck kommt. Dabei war ein Bild vorgegeben, bei dem das nebenstehende Detail fast unsichtbar das rahmende Geschehen abbildete. Im Zentrum des Bildes fand man dagegen die biblische Geschichte des armen Lazarus, die in das 19. Jahrhundert verlegt wurde. Das Ende der Geschichte (Lazarus im Himmel und der Prasser in der Hölle) wurde auf diesem Bild nicht dargestellt – dafür gab es dann ein anderes Bild, ein Gegenstück.
Am linken Bildrand fügt der Künstler also das rechte Bilddetail ein, das sich aus der Zeitgeschichte erklärt (Kammermohren waren seit dem 18. Jahrhundert bei den Herrschenden beliebt), aber heute angesichts der Debatten über Kolonialismus und europäischen Reichtum einen anderen Fokus bekommt. Wer generiert den Reichtum des Reichen? Über den Kammermohr lerne ich dabei bei der wikipedia:
Der prächtig ausstaffierte und livrierte Kammermohr diente Herrschern, kirchlichen Würdenträgern oder wohlhabenden Kaufleuten als exotisches Prestigeobjekt und Statussymbol. Er sollte den Reichtum und Luxus des eigenen Hauses zur Schau stellen und fungierte darüber hinaus in vielen Fällen als Gesellschafter oder Privatlehrer. Vor allem versinnbildlichte der Kammerdiener aber die weltweiten Fernhandels- und Machtbeziehungen seines Eigentümers. Offiziell kannte das Heilige Römische Reich den Rechtsstatus des Sklaven nicht, weshalb der Historiker Michael Zeuske die Kammermohren als „Sklaven ohne Sklaverei“ bezeichnet.
Und das wird dann auf dem Bild dargestellt und ruft bei mir Assoziationen zu Thorstein Veblens „Theorie der müßigen klasse“ oder auch Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ hervor: Individueller Reichtum artikuliert sich als ostentative Geste auf Kosten der Ausgebeuteten und Unterdrückten.
„Was ist mehr wert, Kunst oder Leben?“ fragte eine Klima-Aktivistin, die heute symbolisch ein Bild von Vincent van Gogh mit Tomatensoße übergoss.
„Was ist mehr wert, Kunst oder Leben?“ fragte eine Klima-Aktivistin, die heute symbolisch ein Bild von Vincent van Gogh mit Tomatensoße übergoss.
Ehrlich gesagt, muss ich da nicht lange überlegen. Wer die Kultur gegen die Natur ausspielt, dürfte auch nicht viel Vertrauen in Sachen Natur verdienen. Es ist pubertär, die Werte anzugreifen, die man nicht versteht. Grundsätzlich gehört beides aber ganz unterschiedlichen Lebensbereichen an.
Ich verweise ja an dieser Stelle immer gerne auf eine der schönen Geschichten von Bertolt Brecht über Herrn Keuner:
„Herr Keuner sah irgendwo einen alten Stuhl von großer Schönheit der Arbeit und kaufte ihn. Er sagte: Ich hoffe auf manches zu kommen, wenn ich nachdenke, wie ein Leben eingerichtet sein müßte, in dem ein solcher Stuhl wie der da gar nicht auffiele oder ein Genuß an ihm nichts Schimpfliches noch Auszeichnendes hätte.“
Das ist es, was Kunst und Kultur leisten: uns einen Eindruck davon zu geben, wie ein Leben aussehen würde, das vom Zwang entbunden wäre.
In der Sache aber ähnelt die Geste der Klimaaktivisten aber eher jener des Bankräubers, der seine Waffe auf einen Unschuldigen richtet und dann laut schreit: „Geld oder Leben“ und davon überzeugt ist, dass dem so bedrohten das Leben wichtiger ist, während ihm, dem Räuber das Leben des Anderen gar nichts wert ist und das Geld, das er haben will, um so mehr.
Letztlich ist aber selbst die Formel „Kunst oder Leben“ falsch, denn faktisch entbehrt das so bezeichnete „Leben“ jeglicher näheren Bestimmung: eigentlich meint es: „Kunst oder Überleben“ – denn nur so bekommt die Formel einen Sinn. Im besten Fall ist gemeint, wenn das Überleben nicht mehr garantiert ist, mache auch die Kunst keinen Sinn mehr. Umgekehrt wird ein Sinn daraus. Und wir wissen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass die, die sagten „Kunst oder Leben“ den so Erpressten später beides nahmen. Man sollte sich deshalb auf diese Alternative nicht einlassen. Am Ende werden sie nicht nur die Kunst symbolisch angreifen, sondern auch Menschen – und irgendwann werden sie Ernst machen und auch die Kunst und die Menschen direkt angreifen. Die Geschichte der RAF ist ein sinnfälliges Beispiel dafür.
Am 01. Oktober ist die 139. Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik erschienen. Sie beschäftigt sich mit den Lehren aus der documenta fifteen.
Am 01. Oktober ist die 139. Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik erschienen. Sie beschäftigt sich mit den Lehren aus der documenta fifteen.