Falschmeldungen und Verzerrungen

Wie man Hass erzeugt, indem man mit Worten die Fakten verschleiert.

Klaus Kelle veröffentlicht auf seinem Blog einen Text vom Blog von Boris Reitschuster, in dem dieser ein Posting auf X von Yvonne Kussmann bespricht. Ein Spiel über die Bande. Die Schlagzeile lautet: Opfer zweiter Klasse: Zwei Mordopfer, denen keiner eine Träne nachweint. Das ist, man ahnt es schon, unwahr (ganz abgesehen vom impliziten Widerspruch, dass Reitschuster beteuert, er habe beim Lesen des Posts geweint). Denn eine kurze Suche zeigt, dass nicht nur die Medien über die Tat berichtet haben, sondern sich auch zahlreiche Menschen und Politiker:innen betroffen dazu geäußert haben. Aber man kann ja einfach mal das Gegenteil behaupten – wer überprüft das schon? Das Posting von Frau Kussmann lautete so:

„Zwei ukrainische Jungs, die Schutz in Deutschland erhielten, werden von einer Bande Migranten auf offener Straße getötet. Außer ein paar Meldungen in diversen Medien geschieht nichts. Kein einziger Politiker äußerte sich bis dato.

Wer entdeckt die Fehler? Ohne weitere Recherche kann man schon auf der semantischen Ebene die Demagogie spüren. Natürlich sind auch die „zwei ukrainischen Jungs“ Migranten, was sollten sie sonst sein? Eine derartige Schlagzeile hört sich aber in rechten Ohren nicht mehr so gut an: Zwei Migranten werden von einer Migranten-Bande getötet. Das hätte keinen Rechten interessiert. Also muss man so tun, als gehörten die einen als Fast-Bio-Deutsche zu ‚uns‘ und die anderen als Migranten eben nicht. Das stellt die Fakten auf den Kopf. Haupttäter ist ein deutscher Staatsbürger mit türkischem Hintergrund. Opfer des Geschehens aber sind in Wirklichkeit:

die bereits erwähnten zwei 17- und 18jährige Ukrainer,
ein 14jähriger Syrer und
eine 13jährige Deutsch-Libanesin

Man unterschlägt die anderen Opfer einfach, sind ja nur Migranten. Tatverdächtig sind:

ein 14jähriger Grieche,
zwei 14- und 15jährige Syrer und
ein 15jähriger Deutsch-Türke

Die Polizei vermutet, dass diese zu einer bekannten Jugendbande gehören und die anderen Jugendlichen berauben wollten. Das ging grauenhaft schief. Zumindest gilt der Deutsch-Türke als einschlägiger Intensivtäter. Damit stellt sich die Sachlage aber ganz anders dar. Weiterhin gibt es Opfer und der Tat Beschuldigte, aber von den acht am Ereignis Beteiligten sind zwei Deutsche, nämlich ein Opfer und der Haupttäter. Da kann man aber nicht mehr eine so schöne Migranten-feindliche Story draus machen. Das stört Boris Reitschuster überhaupt nicht. Er schreibt:

Und jetzt stellen wir uns einfach mal kurz vor,
die zwei jungen ukrainischen Flüchtlinge wären von Deutschen getötet worden.

Sind sie aber – von einem deutschen Staatsbürger. Und nun? In Potsdam hätte man vermutlich gesagt: diesen nichtintegrierten Deutschen schieben wir ab und alle anderen gleich mit.

Promotionsstipendium

Der badische Landesverein für Innere Mission schreibt ein Promotionsstipendium aus.

Der Badische Landesverein für Innere Mission wurde im 19.Jahrhundert gegründet und blickt auf eine lange Geschichte zurück. Diese Geschichte soll nun (kirchen-)historisch und praktisch-theologisch aufgearbeitet werden. Dazu wurde ein Promotionsstipendium ausgeschrieben. Interessent:innen für ein solches Stipendium werden gebeten mit Wolfgang Vögele (wolfgang.voegele@theologie.uni-heidelberg.de) oder dem Landesverein Kontakt aufzunehmen.

Hier der Werbezettel nochmals als PDF.

Rückblick Biennale 2011: Israel oder die Poetik des Politischen

Ein Rückblick auf den israelischen Pavillion auf der Biennale di Venezia 2011.

Zur Biennale di Venezia 2011 schrieb ich auch über den Pavillon Israels und ich zitiere das hier noch einmal, weil es inzwischen eine noch größere Aktualität bekommen hat:

Wie eine wirkliche radikale und überzeugende Poesie des Politischen aussieht, zeigt dieses Mal der Pavillon Israels. In all den Jahren zuvor fand ich diesen Pavillon immer zu reduziert, zu wenig aussagekräftig, zu uninspiriert. Das ist dieses Jahr ganz anders. Der Künstlerin Sigalit Landau ist es gelungen, einen ebenso poetischen wie politischen Pavillon zu gestalten, ebenso erzählerisch wie formal reduziert. So stelle ich mir Kunst der Gegenwart vor. Auch sie operiert mit einer Baustellensituation, mit cineastischen Elementen, die ich bei Anderen kritisiert habe. Aber sie tut es künstlerisch überzeugend. Es gelingt ihr, die komplexe Raumsituation des israelischen Pavillons im wahrsten Sinne zusammenzubinden. Und sie schafft eine Verbindung verschiedener Einzelwerke, die den Besucher überzeugt und zu künstlerisch vermittelten Erkenntnissen führt. ‚One man’s floor is another man’s feeling‘ steht auf dem Pavillon geschrieben. Wer den Pavillon betritt stößt zunächst in der unteren Ebene auf die Installation ‚King of the shepherds and the concealed part‘, die große Metallrohre durch das gesamte Gebäude führt. Dazu hat sie eine Wand aufgebrochen und die Rohre hindurchgeführt und diese dann weitergeleitet, so dass sie noch oben und nach draußen führen. Die Rohre verbinden alles, ein mechanisches Netzwerk des Wassertransports, zugleich eine Metapher für die schicksalhafte Verbindung der Menschen. Von der unteren Ebene führen zudem Wasserleitern hinauf zur dritten Ebene des Hauses. Noch auf der unteren Ebene stößt der Besucher dann auf die Videoarbeit ‚Azkelon‘, eine Verschmelzung der Namen Gaza und Ashkelon, zwei Städte, die durch eine Grenze getrennt sind, auch wenn sie am selben Strand liegen. „Azkelon“ zeigt junge Männer beim Spiel „Countries“, ein Spiel, bei dem man mit einem Holzmesser im Sand Grenzen markiert, durchbricht und erweitert. Ein anderes Video ‚Mermaids. Erasing tghe border of Azkalon‘ zeigt drei Frauen am Strand, die mit Händen und Fingernägeln Spuren in den Sand graben, die sofort wieder vom Meer verwischt werden. Geht man in das obere Stockwerk, sieht man die Videoarbeit ‚Salted Lake‘, die in Salz getränkte Schuhe auf einem gefrorenen See zeigen. Nur scheinbar geschieht in dieser Sequenz nichts, in Wirklichkeit sinken die Schuhe, da das Salz das Eis zum Schmelzen bringt, immer tiefer ein bis sie versinken. Auf der sich anschließenden zweiten Ebene sieht man die Installation ‚Salt bridge summit‘ mit zwölf Laptops auf einem runden Konferenztisch, die unter dem Tisch in einem Kabelgewirr verbunden sind. Auf den Bildschirmen der Laptops sieht man die Beine und Schuhe der Konferenzteilnehmer. Ein kleines Mädchen krabbelt unter dem Tisch und verbindet alle Schnürsenkel der Schuhe zu einem großen Kreis. Diesen Schuh-Kreis wird der Besucher als Installation „O my friends, there are no friends“ im Hinterhof des Pavillons wieder finden. Aber es sind Bronze-Schuhe auf einem Nicht-Monument, das eine Erinnerung festhält.

Sigalit Landaus Arbeit ist bei aller klaren Zielrichtung ihres Engagements in Sachen Israel und Palästina polyvalent bis ins letzte Detail. Es ist kein Agit-Prop, dem wir hier beiwohnen, sondern eine die Wirklichkeit verändernde Kraft der Poesie. Man kann jede Arbeit einzeln betrachten oder man kann die Arbeiten kontextualisieren – untereinander und im größeren politischen und geografischen Zusammenhang.

Daher bin ich gespannt, wie der Beitrag im Pavillon von Israel 2024 aussehen wird, für den die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit die Künstlerin Ruth Patir eingeladen haben.

Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi im Gespräch über die Juden im Koran und in der Perspektive muslimischer Gesellschaften.

Ourghi, Abdel-Hakim (2024): »Eine heikle Angelegenheit«. Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft. In: Jüdische Allgemeine, 07.01.2024.

Online verfügbar unter https://www.juedische-allgemeine.de/politik/eine-heikle-angelegenheit/

Nach 80 Jahren ist es wieder soweit – Berlin droht mit Repression

Wenn der Staat anfängt, seinen Bürger:innen mit Repressionen zu drohen.

Als ich die Meldung am Morgen des Neujahrtages las, mochte ich es gar nicht fassen. Der regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), verkündete am 31.12.2023 in aller Öffentlichkeit und zudem noch direkt in einer Polizeistation:

„Heute ist die Nacht, wenn’s denn notwendig ist,
die Nacht der Repression,
wo der Rechtsstaat sich versuchen wird, durchzusetzen“

Das sind Töne, die man sonst nur von totalitären Staaten kennt. Der Staat droht seinen Bürger:innen, um die Ordnung durchzusetzen, mit gewaltsamer Unterdrückung oder auch mit Willkür. Denn genau das ist es, was das Wort „Repression“ bezeichnet.

Unterdrückung ist die einem Individuum, einer Gesellschaft oder Menschengruppe leidvoll zugefügte Erfahrung gezielter Willkür, Gewalt und des Machtmissbrauchs. Als Synonym wird oft hierfür auch der Begriff Repression verwendet. Der Ausdruck Unterdrückung bezeichnet vor allem das Niederhalten einer bestimmten sozialen Gruppe und von Individuen durch missbräuchlichen Einsatz gesellschaftlicher Organe, ihrer Autorität oder anderer sozialer Maßnahmen. Mehr oder weniger offiziell in einer Gesellschaft institutionalisiert, vermag dies zur „systematischen Unterdrückung“ anzuwachsen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Begriff der Menschenrechte wurden als Kritik der Unterdrückung formuliert, in der jede Macht klar beschränkt und ein Machtmissbrauch gegen Einzelpersonen oder eine Menschengruppe sanktioniert wird. [wikipedia]

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinerlei Legitimation, gegen die Bevölkerung oder gegen die Bewohner:innen „Repression“ auszuüben. Die Amtsträger in Deutschland sind dem geltenden Recht verpflichtet und können nicht irgendwelche außerrechtlichen Aktionen und schon gar nicht Repressionen ankündigen. Man kann einen Rechtsstaat nicht mit Repression durchsetzen – wenn er Repression anwendet, ist er kein Rechtsstaat mehr.

 Das liegt in der Bedeutung des Wortes. Man kann vielleicht unterstellen, dass sich Wegner im Moment der Artikulation der Reichweite seines Ausspruchs nicht klar war. Aber schon allein die Tatsache, dass das Wort „Repression“ zum Arsenal seiner politischen Artikulationswelt gehört, sollte zu denken geben. Erst ist es nur ein Versehen, irgendwann wird es Wirklichkeit.

Staatsräson und Grundrechte

Unter dem Pseudonym Clara Neumann schreibt eine Autorin über die aufbrechenden Konflikte zwischen angemahnter Staatsräson und den in der Verfassung garantierten Grundrechten.

Clara Neumann (Anonym) (2023): Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten: Auf dem Weg zu einer präziseren Antisemitismusdefinition.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/das-spannungsverhaltnis-zwischen-staatsrason-und-grundrechten/

Majetschak,Louise; Cemel, Liza (2023): IHRA-Definition als ‚Diskursverengung‘? Replik auf Clara Neumann.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/ihra-definition-als-diskursverengung/ .

Ambos, Kai; Barskanmaz, Cengiz; Bönnemann, Maxim; Fischer-Lescano, Andreas; Goldmann, Matthias; Mangold, Anna Katharina et al. (2023): Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung. Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht-eine-rechtliche-beurteilung/.

Theologische Debatte

Albrecht Grözinger beobachtet und kommentiert den aktuellen Kampf der theologischen Lager und legt seine Sicht der Sachlage vor.

Grözinger, Albrecht (2023): Oberlicht und Bodenhaftung | Anmerkungen zur theologischen Diskussion um die KMU 6. In: Zeitzeichen : evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/10864

Günther Anders – Eine Re-Lektüre

Günther Anders über die durch Apparate gesteuerte Wahrnehmung.

Das Sehen ist überholt und abgeschafft. Und ersetzt durch das Photographieren. Wo einer doch etwas anblickt – lass dich nicht irreführen: das tut er ausschließlich als Angestellter seines Herrn, der ihm um den Hals hängt, nämlich seines photographischen Apparats. Ich beobachtete eine holländische Reisegesellschaft. In dieser war einer, dessen Leica streikte und der offensichtlich hysterisch und atemlos wurde vor Versäumnispanik, weil er die Sehenswürdigkeiten, die ihm reif und knipsbar in die Augen hineinhingen, nicht pflücken konnte, während seine Reisekollegen rechts und links das konnten. Sich die Piazza oder den David oder Donatellos Judith anzusehen, auf diesen Gedanken kam er gar nicht, Augen hatte er ausschließlich für die anderen, für die Glücklicheren, die sich knipsend ihre Befriedigung verschaffen durften, und die er, bebend vor Missgunst und vor Neid, der fast wirkte wie Sexualneid, bei ihrer Tätigkeit beobachtete. – Einer dieser Glücklicheren ließ sich sogar knipsend knipsen, gewiss, um zuhause das Aufregendste, was es in Italien zu erleben gegeben hatte: nämlich eben sein Knipsen, vorweisen zu können. Wer etwas sieht, ohne es aufnehmen zu dürfen, der «hat» nichts vom Gesehenen, der «hat» es nicht. Nur knipsend «haben» sie … Bleibt nur die bescheidene Frage, was man vom Leben noch hat, wenn man weder mehr zu sehen noch zu erinnern braucht.

Was Günther Anders hier in seinem Italien-Reisebuch von 1956 (!) beschreibt, ist von der Wirklichkeit längst dramatisch überholt worden. Zwar halten die Besucher:innen weiterhin die Kamera (nun als Digitalkameras) zwischen sich und die Wirklichkeit (obwohl es doch hochauflösende und besser ausgeleuchtete Bilder online gibt), sie können die Wirklichkeit auch gar nicht mehr sehen (nur noch fotografieren), weil die Kulturindustrie mit ihren den Blick steuernden Kommentaren sich dazwischen drängt. Das Bild ist nur noch wahr, wenn eine zertifizierte Stimme im Ohr es dazu erklärt hat. In einem gewissen Sinn kehrt die Menschheit so zurück in das Mittelalter, zumindest in vorreformatorische Zeiten. Es bedarf bestallter Kleriker:innen der Kunstgeschichte, die einem vermitteln, was auf den Bildern gültig ist und was nicht. Das sapere aude ist einem Folgen auf das erläuternde Wort gewichen. Heil aus dem Heilsschatz der Kunstgeschichte gibt es nur noch, wenn man dem normierenden Wort folgt.

Das unterscheidet die heutigen Menschen von der Bildertheologie Luthers: Luthers Beitrag zur neuen Verfügbarkeit des Bildes betrifft nicht dessen Hersteller, sondern den Empfänger. Luther legt den Grund für die Betrachterästhetik, die Kunst als einen (nominalistischen) Vereinbarungsbegriff auffasst. Der Betrachter soll vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben. Er hat das letzte Wort. Luthers Bildempfänger ist kein fraglos Anstaunender, in ihm steckt ein potentieller Interpret, der kritisch nach dem Woher und Wozu, nach dem Umraum des Kunstgegenstandes fragt. [Werner Hofmann]. Diese Erkenntnis ist aktuell wieder im Schwinden begriffen. Wir wollen uns als Subjekte nicht mehr erproben, sondern nur noch der Stimme namenloser Kommentator:innen folgen.

Streit um die Predigtkultur

Notizen zur Kritik an der Kritik an der Kirchentagspredigt und einige Zitate zur Aufgabe der Predigt.

Im Augenblick wird meine Kritik an der Predigt des Schlussgottesdienstes beim Kirchentag in Nürnberg auf Facebook kritisch gewürdigt. Das ist das Schöne in einer meinungs-differenten Welt, dass nicht immer nur ein Prediger recht hat oder sein Kritiker, sondern dass es ganz unterschiedliche Perspektiven auf kontroverse Sachverhalte gibt. Insofern ist jede Diskussion nur zu begrüßen.

Gut, bestimmte Standards sollten bei diesen Diskussionen eingehalten werden, man sollte vor allem nicht ad hominem argumentieren und man sollte dem anderen nicht Dinge unterstellen, die für ihn nicht zutreffen.

Nein, ich bin kein ordinierter Pfarrer, der einen Kollegen kritisiert, ich bin ein ganz normales Gemeindeglied (mit theologischer Ausbildung), der seine Perspektive auf eine öffentliche und medial bundesweit verbreitete Predigt artikuliert.

Nein, ich hasse den Kirchentag nicht, ganz im Gegenteil, wer meine Texte im Magazin für Theologie und Ästhetik in den letzten 25 Jahren verfolgt, weiß, dass ich mich immer wieder auf die großen Projekte und Leistungen des Kirchentages, wie etwa die Begleitung der Bibel in gerechter Sprache, die Förderung des christlich-jüdischen Gespräches beziehe, ja dass ich selbst diverse Projekte und Texte zum Kirchentag beigesteuert habe. Ich muss da also nichts abarbeiten, wie mir einige Stammtischpsychologen unterstellen.

Nein, ich vergleiche den Kirchentag auch nicht mit einem totalitären System, ich verweise nur darauf, dass ein befreundeter Autor, 1935 geboren, die Massenorientierung des Kirchentages mit seinen Kindheitserfahrungen verglich. Ich kritisiere den Kirchentag, weil er die Solidarität, die wir als evangelische Christ:innen den Künstler:innen nach 1945 schulden (vgl. dazu Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz. Berlin 2001), an entscheidender Stelle gebrochen hat, weil man den Herrschenden und Kirchenfürsten eines anderen Staates mit der Ausladung Herta Müllers gefällig sein wollte.

Nein, ich bin auch nicht genderkritisch, sondern genderkritik-kritisch (z.B. hier, hier, hier). Aber dazu müsste man sich informieren und im Magazin tà katoptrizómena lesen. Aber diese Zeit haben wir heute nicht mehr, wo einigen schon eine 20-Seiten-Lektüre als Zumutung vorkommt.

Dass der Titel dieses Magazins tà katoptrizómena lautet, ist kein Beitrag zur Spaßgesellschaft, es ist keinesfalls lustig gemeint, sondern greift Formulierungen des Apostels Paulus im 1. und 2. Korintherbrief auf, die über unser grundsätzliches Verhältnis zur Welt Auskunft geben.

ἡμεῖς δὲ πάντες ἀνακεκαλυμμένῳ προσώπῳ τὴν δόξαν κυρίου κατοπτριζόμενοι τὴν αὐτὴν εἰκόνα μεταμορφούμεθα ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν καθάπερ ἀπὸ κυρίου πνεύματος.

Ob diese Formulierung popkulturell tauglich ist, könnte man etwa anhand von Justin Timberlakes Video zu „Mirrors“ (2013) nachprüfen.

Grundsätzlich aber sollten wir uns in der Kirche der Gegenwart darüber verständigen, was Kritik  bedeutet und was der Kirche Kritik wert ist. Wer sich kritisch zur Kirche verhält, so musste ich erfahren, gilt wie Jorge von Burgos als übellaunig. Ich würde frei nach Adorno dagegenhalten:

„Der Splitter in meinem Auge ist vielleicht das beste Vergrößerungsglas“.

In meinem Text zur Kirchentagspredigt gab es zwei marginale Fehler, die ich inzwischen korrigiert habe. So habe ich geschrieben, die Lutherbibel habe das Wort „töten“ durch „sterben“ ersetzt. Das ist unzutreffend, es war der Kirchentagsgottesdienst selbst, der an dieser Stelle vom Luthertext abgewichen ist und von „sterben“ sprach. Im Gottesdienst ist das auch auffällig, weil zweimal kurz hintereinander von „sterben“ die Rede ist. Dort hieß es „Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; sterben hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit“. Das ist für die durchdachte Poetik des Kohelet ungewöhnlich. Ansonsten gab es einen sinnentstellenden Rechtschreibfehler, ein P fehlte in meinem Text.

Um ein wenig zur sachlichen Diskussion beizusteuern, möchte ich etwas nachtragen, was meine Gedanken zur Predigt auf dem Kirchentag inhaltlich bestimmt hat, im Text aber nicht explizit ausgeführt wurde – wohl aber der Sache nach. Es sind Zitate aus einem Vortrag über die ‚Gemeindemäßigkeit der Predigt‘, gehalten in der schon bedrängten Zeit des Jahrs 1935:

Der Prediger kann unmöglich seinen Mund legitim auch nur auftun als christlicher Prediger, ohne zum vornherein den Bogen des Bundes geschlagen zu sehen über die, mit denen er es zu tun hat, ohne bei jedem Wort, das er sagt, zu bedenken, dass Christus für diese Menschen gestorben und auferstanden ist, dass Gott sich dieser Menschen schon erbarmt hat und dass er darum, weil er sich ihrer erbarmt hat, sich ihrer auch annehmen wird in Zeit und Ewigkeit. Das ist sozusagen die objektive, die „sakramentale“, die „metaphysische“ Voraussetzung der Predigt, ohne welche sie nicht bestehen kann.

Die Gottesdienstgemeinde ist als Gemeinde keine Menschengruppe, die ideologisch oder politisch zu belehren ist oder über die der Prediger Gericht zu halten hat. Die Gottesdienstgemeinde ist eine über die sich Gott schon erbarmt hat. Das sollte man immer bedenken. Natürlich ist diese Gottesdienstgemeinde auch eine fehlerhafte und sündige Gemeinde, aber was heißt das für den ebenfalls fehlerhaften und sündigen Prediger? Gibt ihm das eine besondere Stellung, das Recht, die Gemeinde mit seinen Wahrheiten zu belehren?

Was kann unter diesem Gesichtspunkt Dienst am Wort Gottes bedeuten, dass da eine Gemeinde ist, Ausgesonderte, aber eine Gemeinde von Menschen, Sündern, Sterbenden? Dienst am Wort Gottes: darin liegt eine Abgrenzung gegenüber allen anderen an sich auch möglichen und weithin auch guten und verheißungsvollen Versuchen menschlicher Rede. Wenn die Predigt Dienst am Wort Gottes ist, dann kann der Versuch, der da gemacht wird, der Dienst, der da in Angriff genommen wird, Menschen das Evangelium zu sagen, unter keinen Umständen darin bestehen wollen, wie es sonst wohl auf der ganzen Linie der Fall ist, wo Menschen miteinander reden, dass der Prediger seinen Hörern ein kleineres oder größeres Wahrheitssystem vermittelt. Wenn wir Menschen sonst miteinander reden, dann geht es uns wohl immer darum, uns gegenseitig ein Bild zu vermitteln von einer Wahrheit, die uns vorschwebt, ein Bild von kleinen Erfahrungen und Erkenntnissen, für die man die anderen gewinnen möchte. Dieses Vorgehen kann nicht das Vorgehen des christlichen Predigers sein. Wo der Prediger meint, über ein Wahrheitssystem zu verfügen, da sündigt er gegen das Gebot der Gemeindemäßigkeit. Denn dazu ist er nicht unter diese Menschen gestellt, um das zu tun, was nun eben ein Philosoph, ein Politiker, ein Pädagoge zu tun pflegt. Dienst am Wort Gottes muss nach der Heiligen Schrift heißen: Bezeugung des in seinem Wort und in seinem Handeln offenbaren Gottes selber. … Die Predigt hat die Aufgabe, die Texte des Alten und des Neuen Testamentes heute in der heutigen Sprache heutigen Menschen zu vermitteln.

Exakt das, was Karl Barth hier 1935 in seinem Vortrag zur Gemeindemäßigkeit der Predigt gesagt hat, habe ich bei der Kirchentagspredigt in Nürnberg verletzt gesehen – und zwar elementar. Hier wurde nicht das Wort Gottes bezeugt, wie es sich in der Heiligen Schrift (hebräische Bibel und neutestamentliche Deutung) zeigt, sondern ein Wahrheitssystem der sich angeblich im Stand der Lüge befindlichen Gemeinde übergestülpt.

Und das dritte, was ich nicht eingelöst sah, war die Liebe zu jener Gemeinde, die vor dem Prediger und vor den Bildschirmen saß. Von ihnen hatte sich der Prediger ein Bild gemacht, gegen das er nun predigte. Dagegen sei mit Max Frisch gesprochen:

„Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: „wofür ich Dich gehalten habe.“ Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.

Und Liebe heißt eben nicht, die anderen erziehen zu wollen, sondern sie anzunehmen wie sie sind. Abschließend deshalb noch einmal Karl Barth:

Die Voraussetzung der Predigt muss ganz schlicht die Liebe des Predigers zu der Gemeinde sein. Liebe, das heißt ganz schlicht: Nicht ohne diesen anderen, den man liebt, sein wollen, nicht allein sein wollen, sondern mit ihm sein wollen, wie er nun einmal ist, in seiner Totalität, in seiner Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Gemeinde, das ist die Wirklichkeit der Kinder Gottes im finsteren Tal. Wenn ich diesen Menschen das Wort Gottes sagen will, so muss ich diese Menschen lieb haben, mit ihnen sein wollen, wie sie sind.