Vom Mehrwert des Religiösen und von Baedeker-Christen

Haben Kirchen einen Mehrwert gegenüber Museen oder kultivieren sie einfach nur andere Werte?

Auf katholisch.de vertritt Christoph Strack, Leiter des Bereichs Religionen der Deutschen Welle, den Standpunkt, dass Gotteshäuser mehr seien als Museen. Nun ist das ein mehrdeutiger Satz mit unterschiedlichen Konnotationen.

Er kann meinen, dass Kirchengebäude nicht nur Museen sind. Das ist unbestreitbar. Neben der ästhetischen und politischen Funktion erfüllen Kirchen und Tempel vorrangig religiöse Funktionen. Und man kann fragen, inwiefern beides – die Erfahrung der ästhetischen Funktion und die Erfahrung der religiösen Funktion Hand in Hand gehen kann oder ob man, weil heutzutage vorrangig Menschen mit dem Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung die berühmten Tempel und Kirchen betreten, beides voneinander trennt.

Und es ist nicht der laizistische Staat, sondern die katholische Kirche selbst, die weltweit diese Trennung eingeführt hat, indem sie bei ästhetisch ausgezeichneten Räumen zwischen den Baedeker-Christen und den anderen Gläubigen trennt. Wer in Florenz den Dom betreten will, muss sich entscheiden, ob er dies als Gläubiger (kostenlos) macht oder als Baedeker-Christ (gegen Entgelt). Wer in Venedig den Dom betreten will, muss sich entscheiden, ob er dies als Gläubiger (kostenlos) macht oder als Baedeker-Christ (gegen Entgelt). Wer in Wien den Stephansdom betreten will, muss sich entscheiden, ob er dies als Gläubiger (kostenlos) macht oder als Baedeker-Christ (gegen Entgelt). Wer das Baptisterium der Kathedrale von Padua betreten will, hatte keine Wahl: Zugang nur gegen Geld – dafür steht die Kathedrale jederzeit offen.

Weltweit praktiziert der Katholizismus das so. Das kann man bedauern, sollte sich dann aber als Kritik zunächst und vor allem an die Kirche richten und sollte nicht erst dort beklagt werden, wo der Staat der Finanzträger ist. Wenn Eintrittsgeld für Kirchen falsch ist, dann bitte schön, sollte die Kritik an der katholischen Praxis in Florenz, in Venedig, in Wien beginnen. Ich erinnere mich, schon als junger Erwachsener vor fast 50 Jahren in Sevilla mit derartigen Forderungen nach Eintrittsgeldern für den Besuch einer Kathedrale konfrontiert gewesen zu sein. Insofern können eigentlich keine grundsätzlichen theologischen Überlegungen gegen solche Praktiken wie die geplanten bei Notre Dame in Paris sprechen.

Nebenbei bemerkt, fand ich immer schon eine Art Kulturkarte für Kirchenmitglieder sinnvoll, die ja mit ihren Kirchensteuern die Kirchen mitfinanzieren, und deshalb andere Eintrittspreise als Nichtmitglieder zahlen müssten. Museen praktizieren das schon seit langem.

Womit wir bei der zweiten Bedeutung des Standpunkts wären, dass Gotteshäuser mehr seien als Museen. Denn man kann diesen Satz auch als negatives Urteil über Museen deuten. „Kirchen sind kein Museum. Nie. Mögen Museen manchmal wirken wie geistliche Orte, bleiben lebendige Gotteshäuser stets weit mehr. Eine Einladung.“ Demnach wären Museen tot, versteinert, geronnenes Kulturgut, während Kirchen leben und Teil der Lebenspraxis wären. Selten so gelacht. 90% ihrer Zeit sind Kirchen völlig nutzlose, herumstehende Ensemble aus Stein, petrifizierter Glaube, dem es an innerem Leben fehlt. Museen dagegen sind Kulturträger schlechthin, fordern und fördern die Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart. Wer Kunstwerke der Vergangenheit als tote Gegenstände begreift, ist ein Banause. Er begreift nicht einmal, warum die vielen Millionen Menschen Notre-Dame besuchen: ganz sicher nicht, weil sie dort Gott näher wären. Sie besuchen die Kirche aus kulturgeschichtlichen und ästhetischen Gründen – die Mehrzahl der Besucher:innen hat mit der Religion längst abgeschlossen. Für Jugendliche, so schreibt Wolfgang Vögele in Ausgabe 152 von tà katoptrizómena, dem Magazin für Theologie und Ästhetik, ist die Kirche hoffnungslos von gestern, tot, verstaubt:

Unter vielen Jugendlichen gilt die … Kirche als peinlich, in Jugendsprache ausgedrückt: C-R-I-N-G-E. Man meint, es mit einem eingestaubten Verein älterer Leute zu tun zu ha-ben, hoffnungslos vormodern, hoffnungslos prä-digital, in Routinen erstarrt. Man spürt weder Begeisterung noch Botschaft. Wir machen es so, weil wir es schon immer so gemacht haben. Was soll man an einer Kirche attraktiv finden, in der alte Leute die Musik von gestern mit Botschaften von vorgestern kombinieren und in hölzernen Ritualen feiern?

Der Mehrwert einer Sache steigert sich nicht, indem man ihn nur oft genug beschwört, der Mehrwert muss auch vorhanden sein. Und da scheint es mir so zu sein, dass die vom Tourismus angesteuerten Gebäude einen ästhetischen Mehrwert bieten, der den Menschen tatsächlich etwas wert ist. Vor den Eingängen für religiöse Besucher gibt es jedenfalls keine langen Warteschlangen, die Nachfrage nach diesem Mehrwert scheint begrenzt zu sein.

„Andreas“, sagte meine paduanische Zimmerwirtin vor einiger Zeit zu mir, „wir gehen doch nicht in die Basilika des Hl. Antonius oder in die Kathedrale, wir haben mit der Chiesa di San Francesco unsere eigene Kirche, wo wir zusammen feiern.“ Und diese Kirche ist auch, das merkt man bereits, wenn man sich ihr nähert, religiös in Gebrauch. Und ähnliche Antworten auf die Frage ihrer praxis pietatis werden auch all die anderen Menschen rund um die Touristenkirchen dieser Welt geben. Aus religiösen Gründen brauchen wir Notre Dame nicht.

Kirchen sind andere Orte als Museen – das ist das Ergebnis der modernen Ausdifferenzierung der Welt. Beides sind für die Mehrheit der Menschen Heterotope, fremde Orte, an und in denen über den Sinn der Welt in ganz unterschiedlicher Form nachgedacht wird – religiös oder ästhetisch. Nur ganz selten gehen beide Formen Hand in Hand. Was sich beide aber nicht leisten können, ist ihre Aufgabe und ihre Vitalität gegeneinander auszuspielen.

Mein Vorschlag für Paris wäre, es den anderen ästhetisch ausgezeichneten katholischen Orten dieser Welt gleichzutun: ein kostenloser Eingang für die Gläubigen zum Beten und ein kostenpflichtiger Eingang für die Baedeker-Christen zum Betrachten. Warum nicht? Ich bin mir sicher, vor letzterem werden sich dennoch Schlangen bilden.

Eine Zensur findet nicht statt

Wenn der Zensurvorwurf zur ideologischen Waffe wird.

Aktuelle Streitigkeiten über Zensur leben davon, dass wir unterschiedliche Begriffe von Zensur haben. Es gibt den juristischen Begriff von Zensur, wonach entsprechend der Bestimmung des Grundgesetzes eine staatliche Zensur in Deutschland nicht ausgeübt werden darf. Dieser Zensurbegriff ist also ein Schutz des Bürgers gegenüber dem Staat. Und Zensur in diesem Sinn der Vor- oder Nachzensur findet in Deutschland tatsächlich kaum statt. Darüber hinaus nutzen wir im Alltag einen sozialen Begriff von Zensur, der sich nicht juristisch legitimiert, sondern schlicht meint, dass etwas nicht ausgedrückt werden darf. Zensur ist es dann, wenn Veranstalter:innen festlegen, dass bestimmte – früher durchaus übliche – Diskriminierungen nicht mehr zugelassen sind. Faktisch ist das aber keine Zensur, sondern Wahrnehmung von Rechten, über die man verfügt. Sie können also durchaus festlegen, dass in ihren Räumen nicht gegen Juden, Muslime, Minderheiten oder American Natives gehetzt werden darf. Das ist keine Zensur – auch wenn manche es so ansehen.

Immer dann, wenn etwas vertraut Gewordenes problematisiert wird, schreien einige auf und reden von Zensur. So etwa die BILD-Zeitung, weil sie erfahren hat, dass bei einer Veranstaltung im Berliner Humboldt-Forum eine Zeile aus Udo Lindenbergs Lied „Sonderzug nach Pankow“ den gesellschaftlichen Erkenntnissen der Gegenwart angepasst werden soll. Das geht natürlich nicht ohne Zustimmung des Urhebers, ist aber als Forderung durchaus nachvollziehbar. Zwar finde ich persönlich all die Sprach-Zelot:innen problematisch, die immer auf die Reinheit der Alltags-sprache bedacht sind und deshalb bestimmte Worte ausmerzen wollen, aber oft haben sie ja auch Recht und man hat bisher nur aus Gedankenlosigkeit bestimmte Worte genutzt.

Im aktuellen Fall geht es um das Wort „Oberindianer“. Udo Lindenberg wendet es ironisch auf Erich Honecker an und die Assoziationskette, durch die es dazu kam, lässt sich leicht rekonstruieren: Staatsoberhaupt – Häuptling – Oberindianer. Soweit, so trivial. Lustigerweise ist der „Häuptling“ – obwohl heute ebenfalls als problematisch empfunden – ein Begriff aus dem Altfriesischen und bezeichnet einen regionalen Machthaber. Das träfe hier sogar zu. Aber Worte haben eine Geschichte und die ist in diesem Fall nicht unproblematisch. Ob man dabei so weit gehen muss, das Wort „Oberindianer“, das hier ja nur als Metapher genutzt wird, abzuändern, würde ich persönlich bezweifeln. Aber da kann man vermutlich unterschiedlicher Meinung sein. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Da es sich bei dem Lied von Lindenberg aber um ein Kunstwerk eines lebenden Künstlers handelt, wären aus urheberrechtlichen Gründen Variationen mit diesem abzusprechen.

Nun wird aber in der rechten Presse der Vorgang skandalisiert. Es handele sich – so schreiben BILD, Focus und andere – um einen Fall von Zensur. Nun wäre das eine sehr späte Form der Nach-Zensur, das Lied stammt von 1983 und konnte in der freien Welt seit damals immer gesungen und gehört werden. Und daran wird sich auch künftig nichts ändern – wenn Udo Lindenberg nicht etwas anderes festlegt. Aktuell gilt: Wer den „Sonderzug nach Pankow“ mit Oberindianer singt oder hört, wird daran nicht gehindert und schon gar nicht bestraft. Nur ein einziger Veranstalter legte Wert auf „korrekte Sprache“ in seinem Haus und bat die aufführenden Chöre darum, die entsprechende Zeile zu ändern. Und plötzlich schreien die rechtsorientierten Leicht-Erregten auf: Das ist doch Zensur! Aber es ist gar keine, aber für die Rechten ist der ganze Vorgang ein Symptom einer woken und linken Kultur. Wenn es denn doch so wäre. Aber so ist es gar nicht.

Was ich nun höchst interessant finde, dass jene, die am lautesten „Zensur!“ schreien, für sich selbst in ihrem Arbeitsfeld denselben so bezeichneten Vorgang ganz selbstverständlich und auch durchaus stolz durchführen. Für durch und durch krank hält etwa Klaus Kelle, Herausgeber von „The Germanz“ zunächst einmal den gerade geschilderten Vorgang.

Cancel Culture at it’s best. Der linkswoke – von uns allen finanzierte – Politbetrieb hat sich über Jahrzehnte eine kulturelle Hegemonie in Deutschland aufgebaut – das ist atem-beraubend. Und immer noch machen alle mit. Genau genommen ist es allerdings nichts anderes als Zensur.

Genau genommen ist es das eben nicht, nicht einmal im Ansatz. Aber die BILD-Zeitung hatte die Terminologie schon vorgegeben. Gecancelt wird hier auch niemand, die Chöre dürfen ja auftreten, und der Staat hat auch nicht interveniert, sondern eine Stiftung als Veranstalterin.

Klaus Kelle selbst ist aber stolz darauf, in seinen Publikationen permanent die so als Zensur beschriebene Handlung ganz bewusst und programmatisch vorzunehmen. Wenn er von Veranstaltern oder Nachrichtenagenturen Texte bekomme, die gegendert seien, dann so schreibt er, greife er selbstverständlich in diese Texte ein und verändere sie nach seiner eigenen Ideologie. Das empfindet er als sein Recht. Wo da der Unterschied sein soll zum Recht der Veranstalterin in Berlin, auf ihren Veranstaltungen nur „korrekte Sprache“ zuzulassen, erschließt sich mir nicht. Jedes Mal handelt es sich um Eingriffe in ursprünglich anders lautende Texte. Und in keinem Fall handelt es sich um Zensur oder Cancel Culture. Wer ein Verständnis des kulturellen Überbaus vertritt, wonach der Überbau Einfluss auf die Basis hat, kann (und muss vermutlich) so handeln. Das waren schon Fragen, die Josef Stalin in seinen theoretischen Schriften und später dann vor allem Antonio Gramsci umgetrieben haben. Irgendwann haben die Rechten erkannt, dass an dieser späten Modifikation der marxistisch-leninistischen Theorie etwas Wahres dran ist, und haben ihrerseits mit Versuchen begonnen, die Gegenwartskultur zu modifizieren und zu manipulieren. Während sie aber die eigenen Versuche als legitim und begründet ansehen, mögen sie nicht anerkennen, dass derselbe Vorgang auf der anderen Seite auch legitim sein könnte. Ich nennen das: schizophren.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren …

Reaktionärer Bullshit über Amerika und die Briefwahl

Und weiter in der Betrachtung der erzkonservativen Publizistik. Dieses Mal spricht der amerikanische Korrespondent des Online-Auftritts, der als frisch in die USA Immigrierter ehemals deutscher Europa-Politiker der CDU kompetent über die US-Wahlen Auskunft gibt. Und das macht er mit den folgenden Worten.

Das ist beeindruckend, mit welcher Präzision hier Auskunft gegeben wird, man fühlt sich gleich bestens informiert. Und wir erfahren, am 5. November wird „kaum noch jemand zur Wahl gehen“ – mit Ausnahme natürlich jener 57% der Wähler:innen, die in den USA auch 2020 an der Urnenwahl teilgenommen haben, wie uns das amerikanische Wahlbüro informiert. Aber das ist natürlich „kaum jemand“.

Ein Großteil der Amerikaner wählt per Briefwahl? Was immer man unter Großteil versteht (der Korrespondent wohl 66%). 2016 waren es aber nur 21%, 2020 waren es 43%  der Wähler:innen (statista: „Laut Erhebungen des US Census Bureau lag der Anteil der Briefwählerinnen und -Wähler bei der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 bei etwa 43 Prozent, dem höchsten Wert im Verlauf der vergangenen Jahre.“) Vielleicht versteht der Korrespondent den Unterschied zwischen Briefwahl und der in den USA möglichen vorzeitigen Stimmabgabe im Wahlbüro nicht.

In den USA wählen deutlich mehr per Briefwahl als in Deutschland? 2021 wählten in Deutschland laut Bundeswahlleitung coronabedingt 47,3% der Wähler:innen per Briefwahl, das sind 4,3%-Punkte mehr als in den USA 2020. Der Blick auf die statistischen Daten beider Länder seit der Jahrtausendwende zeigt, dass der Briefwahlanteil in Deutschland immer(!) höher lag als in den USA, aber in beiden Ländern bisher nicht die 50%-Quote überstieg. Aber selbst das wäre dann nicht der Großteil, sondern nur der größere Teil der Wähler:innen.

Wie kann man in so wenigen Zeilen nur so viel Bullshit von sich geben? Und warum muss man nicht fürchten, dass jemand die Behauptungen nachprüft? Weil genau das das Erfolgsmodell von Donald Trump ist: Mehrheiten dort zu sehen, wo sie gar nicht sind? Dabei ist bei der Schilderung durch den Korrespondenten jedem doch sofort klar, dass das nicht stimmen kann. Warum sollte es Schlangen vor Wahllokalen der USA geben, wenn doch niemand mehr zur Urnenwahl geht?

Und ich lerne wieder einmal, dass Konservative es – anders als es die Richtung vermuten lässt – mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Hauptsache es dient ihrer Ideologie.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland

Gegen Vorverurteilungen und Diskriminierungen

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ schreibt Paul Celan in seiner berühmten „Todesfuge“. Und er umschreibt damit den Umstand, dass Deutsche mit den Verbrechen des Dritten Reiches für 60.000.000 Tote verantwortlich sind, mittelbar sogar für 80.000.000 Tote.

Deutschland ist in den letzten 100 Jahren ein Exportweltmeister für Gewalt, Tod und Verbrechen gewesen. Es hat 6 Millionen Juden fabrikmäßig getötet, daran gibt es nichts zu spekulieren, es ist schlicht eine Tatsache. Es hat durch Angriffskriege die Menschheit ins Elend gestürzt und Millionen von Kindern die Eltern genommen und die Zukunft verbaut. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.

Dessen sollte man eingedenk sein, wenn man unter der Überschrift „Zuwanderer tötet Lehrerin in Nürtingen: Der Bürgermeister warnt vor „Spekulationen“ den folgenden Text liest.

Ob es ein „Mord“ war, wissen wir gar nicht, denn die Umstände sind bis heute nicht bekannt. Es gibt ein Opfer, eine Lehrerin, die durch eine Gewalttat zu Tode gekommen ist. Das hat die ermittelnde Behörde bekannt gegeben. Verdächtigt wird ein Iraner, der zwischenzeitlich verhaftet worden ist. Er ist aber nur der Tat verdächtigt, ob er sie tatsächlich durchgeführt hat, wissen wir (noch) nicht. Die Qualifizierung als „Mord“, „Totschlag“ obliegt aber nicht dem Publikum, nicht Bürgermeister:innen, nicht Journalist:innen, nicht Staatsanwält:innen, sondern allein und ausschließlich Richter:innen. Sie fällen in Deutschland die rechtsgültigen Urteile nach einem Prozess unter Abwägung aller Umstände.

Nur die BILDzeitung versteht sich als Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter und Henker in einer Person, und hält sich mit Feinheiten nicht auf. Bevor bekannt ist, was geschehen ist, wird das Ganze final kategorisiert: MORD. Man weiß noch wenig, hat das Urteil aber schon gefällt: MORD!

Das ist auch aus dem Kommentar des erzkonservativen Publizisten erkennbar. Er weiß nicht, ob es sich um einen Zuwanderer oder Flüchtling, also um einen Asylsuchenden oder Migranten handelt. Kommt ja auch nicht darauf an – Hauptsache nicht von hier. Wer einfach vermutet, es sei ein „Mord“, der von einem „Zuwanderer“ ausgeübt wurde, spekuliert offenbar nicht, er übt nur sein Recht als rechter Journalist in Deutschland aus. Dieses Recht haben auch Journalisten in Anspruch genommen, als sie nach 1926 begannen, über die Verbrechen der Juden zu schreiben. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Es wird schon etwas hängenbleiben. Der Zuwanderer, der Fremde ist immer schuld.

Der rechte Journalist protestiert dagegen, dass im konkreten Fall Spekulationen unterbleiben soll. Das kennen wir: Man wird doch noch spekulieren dürfen! Was aber ist eine Spekulation? In der Wissenschaft wäre das eine Hypothese, eine begründete Annahme, die noch nicht verifiziert ist. Keinesfalls wäre es eine bloße Vermutung oder ideologische Qualifizierung im Stil von „Ich vermute mal, die Erde ist flach“. Alltagsweltlich ist die Spekulation allerdings eine bloße Mutmaßung, im besten Fall eine lebensweltlich abgesicherte Annahme, im Regelfall Stammtischgebrabbel.

Gerade angesichts so schrecklicher Vorfälle wie der gewaltsamen Tötung eines Menschen sollte man jedoch sorgsam sein in der Wahl der Worte, sollte nicht schnell spekulieren, sondern sollte nachfragen, Informationen sammeln, also recherchieren und Kontext herstellen. Und das gilt für Journalist:innen wie für alle Bürger:innen. Wenn man vom Einzelfall aufs Allgemeine schließen will, braucht man mehr als das Gebrabbel von „typisch Ausländer“ oder „typisch Asylant“. Das sind logische Fehlschlüsse und ideologische Phrasen. Aufgabe des Journalismus wie der verantwortungsvollen Bürger:innen ist es gerade, gegen den ersten Augenschein den Sachen auf den Grund zu gehen. Das braucht Zeit. Die hat der Journalismus heute nicht mehr, wo in Echtzeit berichtet und ge- bzw. verurteilt wird. Dafür kontrolliert auch kaum einer mehr, ob das Berichtete und das Ge- bzw. Verurteilte auch zutreffend ist.

Wenn ich also nach sorgfältiger Recherche wüsste, dass in den letzten 100 Jahren im Auftrag und in der Folge des Handelns von Deutschen 80 Millionen Menschen gewaltsam zu Tode gebracht wurden – zu welchen Schlussfolgerungen berechtigt das? Der Tod ist ein Meister aus Deutschland schreibt Paul Celan, zu Recht.

Aber damit ist nicht jeder Deutsche ein Mörder. Jedoch hätte die Formulierung „typisch deutsch“ im Blick auf die gewaltsame Tötung von Menschen empirisch eine höhere Plausibilität als beim Blick auf Migranten oder Flüchtlinge. Die Kriminalität der Deutschen in den letzten 100 Jahren kann schlecht überboten werden. Bis heute beschäftigen sich die internationalen und die deutschen Gerichte damit. Von Gewaltimport in einem größeren Maßstab kann insofern kaum eine Rede sein. Die Handelsbilanz, so man in einem derart schrecklichen Kontext davon sprechen will, dürfte zulasten der Deutschen gehen. Wer aber im Glashaus sitzt …

Ironisches – nicht nur über Jesus Willen

Glosse zur Beschreibung der Geschlechterrollen in der erzkatholischen Publizistik

Seit Jahren beobachte ich ein sich publizistisch nennendes Projekt im Internet, das sich als erzkonservatives Online-Magazin ausgibt, in Wirklichkeit aber eine Kuriosität und Abstrusität nach der anderen von sich gibt. Permanent werden dort Prophezeiungen gemacht, von denen man schon im Moment des Erscheinens weiß, dass sie nicht eintreffen werden. Das ist wirklich sehr lustig. Mal wird prophezeit, dass die AfD bei den Wahlen in den neuen Bundesländern tsunamiartig alle Wahlen als stärkste Partei gewinnen und damit das alte Parteiensystem hinwegfegen wird, dann wird prophezeit, dass Donald Trump die US-Wahlen bereits sicher gewonnen habe oder – nur wenig später – doch noch gewinnen könne. Man weiß es eben nicht und wie alle falschen Propheten stochert man blind in der Zukunft herum.

Ein konstantes Thema gibt es aber bei diesem Projekt und das ist das Erbetteln von Spenden. Während die Linken aus dubiosen Quellen mit Geld nur so überschüttet würden, sei das bei erzkonservativen Projekten leider nicht so, weshalb man das Projekt nun bald a) hinter einer Bezahlschranke verschwinden lassen müsse oder b) einstellen werde. Die leise Hoffnung, die da bei aufrechten Demokraten aufkeimt, erfüllt sich aber nicht, denn kurze Zeit später ist die Bezahlschranke schon wieder verschwunden und das Projekt wird eben nicht eingestellt. Man hat sich an diese periodisch wiederkehrende Bettelei schon gewöhnt. Es ist aber auch nicht ersichtlich, warum man das Projekt – vorausgesetzt man wäre ein Erzkonservativer – überhaupt fördern sollte. Einen publizistischen Mehrwert gegenüber anderen vergleichbaren Projekten bietet es nicht. Warum dann nicht gleich diese intellektuell durchaus ambitionierteren Projekte nutzen? Was bleibt ist ein humoristisch zu nennender Blick auf die Welt, etwa was Religion, Immigranten und Geschlechterverhältnisse betrifft. Wollte man als Kabarettist ein Zerrbild eines patriarchalischen, aus der Welt gefallenen Charakters zeichnen, man könnte es nicht besser machen. Das hat schon was, auch wenn es in der Simplizität der Gedankenführung manchmal etwas ermüdet.

Jüngst erschien ein Artikel des Betreibers dieses Projekts mit dem appellativen Titel „Katholische Frauen: Wusste Jesus nicht, dass es mal eine Alice Schwarzer geben würde?“ Kommentiert werden soll so die Weltsynode der Katholiken und die bedauernde Stellungnahme des ZdK dazu, dass leider Beschlüsse zu weitergehenden Fortschritten für die Frauen in Kirchenämtern ausgeblieben seien. Das findet der erzkonservative Kommentator natürlich fast schon erwartungsgemäß gut, denn Jesus habe explizit nur Männer für kirchenleitende Funktionen bestimmt:

Im Grunde ist es ja auch ganz einfach: Kirchengründer Jesus Christus hatte vor gut 2000 Jahren zwölf MÄNNER als seine Jünger ausgewählt. MÄNNER! Glauben Sie nicht? In der Bibel werden sie namentlich genannt: Simon Petrus, Jakobus, Johannes, Andreas, Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Thomas, Jakobus, Thaddäus, Simon, Judas. Das sind die Namen, nicht Monika, Heike, Astrid und Juliette.

Da hat der gute Mann recht, d.h. nicht ganz, Jesus wollte gar keine Kirche gründen, denn er rechnete ja noch damit, innerhalb einer Generation zurückzukehren. Erst die nachfolgenden Generationen mussten mit der fatalen Parusie-Verzögerung fertig werden und Institutionen etablieren. Aber Jesus hat tatsächlich nach den Berichten der Jahrzehnte nach seinem Tod entstandenen Evangelien und den Paulusbriefen nur Männer in seinem Funktionärskreis gehabt. Das müssen wir ernst nehmen und sollten an Jesu Willen keinerlei Abstriche machen. Das hat freilich für Erzkonservative dramatische Folgen, an die sie in ihrer positivistischen, um nicht zu sagen fundamentalistischen Bibellektüre vermutlich nicht gedacht haben. Jesus hat nämlich nicht nur Männer berufen, sondern explizit beschnittene Männer! Ganz sicher ist kein unbeschnittener Mann unter den Berufenen. Es ist nicht ganz einzusehen, dass das eine (die Männlichkeit) zum Kriterium der Berufung gemacht wird, und das andere (die Beschneidung) nicht. Jesus hat aber nicht nur beschnittene Männer berufen, sondern explizit und unter besonderer Betonung ausgerechnet zwölf Juden! Auch das wäre damit in den Kriterienkatalog zur Berufung aufzunehmen. Aber damit noch nicht genug. Jesus beruft keinesfalls römischen Juden, sondern explizit regionales Personal, wohnhaft rund um den See Genezareth, und zwar solche Leute, die weitgehend als Fischer tätig waren. Auch das wäre künftig bei der Berufung mit zu berücksichtigen. Denn es bedeutet zugleich, dass Jesus ausschließlich(!!) People of Color berufen hat. Kein einziger Weißer unter den Berufenen, das kann doch kein Zufall sein! Jesus weiß, was er macht! Man wird also dieses Kriterium als bindend ansehen müssen. Es gibt sicher noch weitere Charakteristika, die die zwölf Erstberufenen auszeichnen. Zum Beispiel, dass zum Apostel nur gewählt wurde, wer Jesus auch wirklich persönlich begleitet und nicht nur von ihm gehört hat (weshalb Paulus kein Apostel werden konnte). Aber das hätte das Phänomen der männlichen Kirche schnell beendet, denn nach kurzer Zeit gab es keine Augenzeugen mehr und man musste dieses bei der Nachwahl des Judas Iskariot aufgestellte Kriterium aufweichen. Aber das hat Jesus als Gott dies alles vorausgesehen, sonst wäre er ja nicht Gott.

Und weil Jesus alles weiß, müssen seine angeblichen, in Wirklichkeit aber frei erfundenen Kriterien auch eingehalten werden:

… in der gängigen Auslegung der katholischen Kirche – mit immerhin 1,4 Milliarden Gläubigen weltweit – ist es die Rolle des Mannes, den Glauben weiterzutragen, und die Rolle der Frau ist es, das menschliche Leben weiterzugeben. Punkt!

Da sollte der gute Kolumnist aber noch mal sowohl in den Religionsunterricht wie in den Aufklärungsunterricht gehen. Denn das von ihm Behauptete ist schlicht falsch (selbst wenn es von 6 Milliarden Menschen vertreten würde). Er hat schlicht in der Schule nicht aufgepasst. Paulus lässt munter Frauen den Glauben weitertragen (z.B. nach den Paulusakten die Heilige Thekla von Ikonium. Oder nach Römer 16,7 die Junia). Ob sie explizit Apostel genannt wurden, ist umstritten, aber der Kolumnist behauptet ja nur, Frauen hätten nicht die Aufgabe gehabt, den Glauben weiterzutragen. Das ist nicht zuletzt eine unerträgliche Beleidigung aller frühen Märtyrerinnen der Christenheit (Justina von Padua, Lucia von Syrakus, Agnes von Rom,  Dorothea von Kappadokien, Felicitas und Perpetua, Agatha aus Sizilien, Agnes von Rom, Cäcilia von Rom, Anastasia aus Serbien, um nur einige wenige zu nennen). Sie alle tragen durch ihr Leben, ihre Lehre und ihr Leiden den Glauben weiter.

Und dass nur Frauen das menschliche Leben weitergeben, ist nun derartig falsch, dass man sich fragt, woher der Autor diese Erkenntnis hat. Sicherlich nicht aus dem Aufklärungsunterricht. Selbst die Jungfrau Maria konnte nicht allein schwanger werden.

In den Anfängen der Christenheit war man sich nicht sicher, ob da nicht doch neben der Taube als Symbol des Heiligen Geistes ein durchaus männlich zu deutender virtus Altissimi beteiligt war. So stellt es zumindest die älteste Marienkirche der Welt, Santa Maria Maggiore in Rom, 432-440 der lateinischen Übersetzung folgend und sie missverstehend (Spiritus Sanctus … et virtus Altissimi) dar. Aber das fünfte Jahrhundert der Christenheit ist natürlich nicht maßgebend. In der katholischen Christenheit mit immerhin 1,4 Milliarden Gläubigen wird das menschliche Leben seit jeher ohne männliche Beteiligung weitergegeben. Was für ein schlechter Witz, über den man als Protestant natürlich lachen kann, aber sollte nicht auch der konservative Katholizismus anders über Männer und Frauen reden?

In Padua, der Stadt, die unter dem Patronat der Heiligen Justina steht, wurde die erste Frau der Welt promoviert und ihr wurde eine Professur angetragen, die sie aber ausschlug, um ins Kloster zu gehen und von dort aus den Glauben an Jesus Christus weiterzutragen. Dort liegt sie auch auf dem Friedhof der Kirche Santa Giustina beerdigt. („1678 promovierte Elena Lucrezia Cor­na­ro Piscopia (1646 – 1684) als weltweit erste Frau, und zwar an der Universität von Padua zum Dr. phil.“ Aber schon damals verweigerte ihr die katholische Kirche einen theologischen Doktorgrad mit der Begründung, dass eine Frau in der Kirche zu schweigen habe. Dabei dürfte der Bildungsgrad von Elena Lucrezia Cornaro Piscopia, die in Latein und Griechisch, Hebräisch, Französisch und Spanisch ausgebildet war, Mathematik, Philosophie und Theologie studiert hatte, und über aristotelische Logik promovierte, deutlich über dem nahezu aller berufenen katholischen Männer liegen. Zumindest über der des deutschen Papstes Benedikt, dem Umberto Eco eine Bildung auf dem Niveau eines Dorfschullehrers attestierte. Aber der Kolumnist weiß es natürlich besser, denn der Herr hat ja in seiner weisen Voraussicht allen Frauen den Zugang zu Bildung und Lehre untersagt. Sonst hätte er selbstverständlich auch Frauen in den Jüngerkreis berufen. Was für ein Schwachsinn.

Weniger schwachsinnig finde ich natürlich die den Artikel beendende Aufforderung an alle katholischen Frauen, evangelisch zu werden. Das ist doch ein Wort. Der Verfasser ist selbst Konvertit, also ein Immigrant in den Katholizismus, er ist aus dem Ostwestfälischen in die Arme der römischen Weltkirche geflüchtet. Und weil er sich da nicht wohlfühlt, wenn nicht echte Männer den Glauben und echte Frauen das Leben weitergeben, möchte er alle re-migrieren, die das anders sehen als er. Man konvertiert schließlich nicht, um bei der neuen Kirche am Ende dasselbe vorzufinden wie in der alten: Synodal- und Regionalprinzip und Frauenemanzipation. Da hätte man ja gleich ostwestfälisch bleiben können. Er jedenfalls will nicht zu einer rocktragenden Figur am Kreuz aufschauen, die sich ihrer Rolle als lebensspendender Frau verweigert und lieber den Glauben an Jesus Christus weiterträgt. Und oh Wunder, die Geschichte wurde schon erzählt, bevor es den bösen Protestantismus gab. Die frühesten Darstellungen aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts(!) zeigen sie als junge Frau, bärtig und gekrönt, mit deutlich weiblichen Gesichtszügen und Körperformen, in langem Rock und mit Stricken ans Kreuz gebunden. Was für ein gestaltgewordener Alptraum für ostwestfälische Konvertiten

Zeitgenossenschaft

Die 151. Ausgabe von tà katoptrizómena ist erschienen. Sie widmet sich der Frage der „Zeitgenossenschaft“. Darüber hinaus gibt es eine Fülle weiterer Beiträge.

Editorial

ZEITGENOSSENSCHAFT

Vom Problem, ‚Zeitgenossenschaft‘ zu bestimmen
Kursorische Notizen
Andreas Mertin (16 S.)

Wenn Zeitgenossen sich treffen
Zum Beispiel Dante und Giotto in der Scrovegni-Kapelle
Andreas Mertin (6 S.)

„You try to scream,
but terror takes the sound before you make it“
.
1979-2024: Eine Zeitgeschichte der Angst
im Alien-Film-Zyklus
Andreas Mertin (20 S.)

KORRESPONDENZ

Lieber lesender Bruder
Protestantische Anmerkungen zum Lesebrief Seiner Heiligkeit
Wolfgang Vögele (10 S.)

OLYMPISCHE NACH-GEDANKEN

Bacchanales (Abend-)Mahl
Ein kritischer Nachtrag zur Kritik der Olympia-Inszenierung
Andreas Mertin (12 S.)

Der späte Triumph der olympischen Religion
Eine Collage mit einigen religiösen Geschichten und einem bitteren Epilog
Andreas Mertin (12 S.)

ANDREAS MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

„Heil Dir im Siegerkranz“
Eine sächsische Bildlektüre (4 S.)

Tsunami der Dummheit?
Zur rechten Schwarmintelligenz – samt Appendix zur rechten Geheimwaffe (6 S.)

Überraschung: Die schweigende Mehrheit gibt es nicht.
Vom Scheitern einer Wunderwaffe (4 S.)

Wenn die Regierung Wähler:innen kontrollieren will
Ein sprachlicher Missgriff eines Regierungsbeauftragten (4 S.)

Ist das schon Ikonoklasmus ,,, oder kann das weg?
Zu einer merkwürdigen Renaissance des Neu-Platonismus (6 S.)

RE-VIEW

International Conference on Religion and Film
Hollywood California 26.06. – 28.06.2024
Jochen Mündlein (4 S.)

“The Song of Songs Through the Ages”
Eine Rezension
Claudia D. Bergmann (4 S)

Manuscripts and Performances in Religions, Arts, and Sciences
Eine Rezension
Claudia D. Bergmann (3 S.)

Auf dem Tisch der Redaktion
Buchhinweise
Redaktion (1 S.)

Presse-, Meinungsfreiheit und der Kampf gegen rechte Bewegungen

Warum die temporäre Aufhebung des Verbots von Compact ein Gewinn für den Rechtsstaat ist.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat das Verbot der Zeitschrift Compact durch das Bundesinnenministerium in einem Eilbeschluss bis zur Entscheidung im Hauptverfahren vorläufig aufgehoben. Als Herausgeber einer Zeitschrift begrüße ich diese Entscheidung ausdrücklich.

Nicht, weil ich auch nur im Ansatz die politische Haltung der Compact-Redaktion und ihre Form der aggressiven Agitation gegen Andersdenkende und Minderheiten teile, sondern weil ich meine, dass eine Bundesinnenministerin nicht einfach ein Presseorgan ohne Einbezug eines Gerichts verbieten können darf. Das Presserecht ist ein hohes schützenswertes Gut in einer Demokratie und auch die Meinungsfreiheit darf nur unter Abwägung grundrechtlicher Überlegungen eingeschränkt werden. Deshalb ist es gut, dass das BVG Leipzig dem zunächst einmal einen Riegel vorgeschoben hat.

Man muss sich ja nur einmal vorstellen, das Bundesinnenministerium geriete einmal in die Hände einer heute als rechtsextrem angesehenen Partei, dann wird schnell deutlich, welches Instrumentarium die gegenwärtige Bundesinnenministerin durch ihre Vorgehensweise künftigen Minister:innen geschaffen hätte. Gnade der freien Presse, wenn sich rechtsextreme Minister:innen einmal dieses Instrumentariums bedienen könnten.

Ich verstehe, dass einige nun entsetzt sind, weil sie den Kampf gegen die Rechten oder gegen Antisemitismus geschwächt sehen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir das Recht so einrichten würden, dass es jeweils nur zu den von uns gewünschten Ergebnissen führt, ohne das Vorgehen gegen die Grundrechte und Menschenrechte abzuwägen, hätte das mit „Recht“ wenig zu tun, es wäre reine Willkür. Auch der Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft muss rechtsstaatlich korrekt durchgeführt werden.

Und wenn Presseartikel einem nicht gefallen, weil sie gegen die Menschenwürde Einzelner oder von Gruppen verstoßen, dann muss man rechtsstaatlich gegen sie vorgehen und kann nicht pauschal auf ministerieller Ebene einfach Presseorgane verbieten. Das wären Rückfälle in obrigkeitsstaatliche oder feudale Zeiten – und diese Gefahr besteht zur Zeit bedauerlicherweise. Vieles von dem, was in Compact steht, ist schwer erträglich, aber vermutlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Wir können nicht einfach Dinge verbieten, die uns nicht gefallen. Die Meinungsfreiheit ist laut Bundesverfassungsgericht ziemlich weit auszulegen. Im Zweifelsfall muss man gegen Behauptungen und Lügen juristisch vorgehen und die Gerichte werden dann über die einzelnen Texte entscheiden. Erst wenn sich das häuft und verdichtet, müssen andere – rechtsstaatliche – Mittel eingesetzt werden. Anders geht es nicht. Zurzeit aber gibt es die Neigung, gut obrigkeitsstaatlich am Recht vorbei die Dinge zu entscheiden (Documenta, Compact etc.) So geht es aber nicht.

Nur Bilder, keine Geschichten?

Nach dem Streit um das angebliche Abendmahlsbild bei der olympischen Eröffnungsfeier 2024 in Paris lohnt es sich, sich auch einmal mit der Mythologie des tatsächlich verwendeten Bildes zu beschäftigen. Und die ist erschreckend: menschen- und queer-feindlich.

[Den ausführlichen Text finden Sie hier: www.theomag.de/151/index.htm]

Bei der Diskussion um die religiösen bzw. mythologischen Bilder, die auf der Eröffnungsfeier der olympischen Sommerspiele 2024 in Paris Verwendung fanden, galt die Hauptaufmerksamkeit jenem „Bild“, in dem einige religiöse Menschen eine Darstellung der Eucharistie erkennen wollten. Nach all den zwischenzeitlichen Debatten kann nun eines sicher gesagt werden: es handelt sich nicht um eine Darstellung eines Abendmahles, wohl aber um das Bild eines olympischen Festes, dessen Mahltisch nach dem Abendmahl von Leonardo da Vinci in Mailand konstruiert wurde. Insofern laufen die Angriffe der Bischöfe und ihrer lautstarken Unterstützer:innen ins Leere. Wenig beachtet wurde leider in der Diskussion, welches mythologische Bild für die Szene auf der Brücke über der Seine verwendet wurde. „Fest der Götter“ hört sich harmlos und anlassbezogen korrekt an. Und von der „Hochzeit von Peleus und Thetis“, die von den Göttern gefeiert wird, weiß der normale Mensch nichts. Was könnte schon an einer Hochzeitsfeier problematisch sein? Es geht doch nur um ein Bild – nicht um eine Geschichte. So jedenfalls bekundete es einer der Planer der Eröffnungsfeier, der Historiker Boucheron im Interview mit der FAZ. Aber ganz so ist es nicht, es unterschätzt die Macht der Bilder und es unterschätzt die Macht der Erzählung (der Geschichte), die in den Bildern zur Darstellung kommt. Im Paris des Jahres 2024 wird ein Wettstreit von Sportler:innen (und Nationen) gefeiert, der angeblich offen, frei und für alle zugänglich ist. Inzwischen wissen wir, dass das nicht wahr ist, dass die Diskussionen über Identität und Nationalität die sportlichen Aktivitäten (nicht nur beim Boxen) überlagern.

Aber darum geht es mir im Folgenden nicht. Als Kunsthistoriker interessierte es mich, worauf sich die queere Community mit jenem tatsächlich verwendeten Bild bezog, das dann zum Anlass der kontroversen Diskussionen wurde. Und da war ich dann doch einigermaßen erschrocken. Ich habe selten eine derartig anti-queere und menschenfeindliche Mythologie gelesen, wie die dem Bild zugrunde liegende.

Um es kurz zu sagen: das Bild zeigt uns eine Feier der olympischen Götter, die sich bei einem bachanalen Mahl darüber freuen, dass ein queeres Wesen von einem Mann in einer Höhle überfallen, vergewaltigt und geschwängert wurde! Die Götter hatten diesen Überfall kunstvoll orchestriert, denn es war ein Puzzlestein in ihrem Plan, die Menschheit endgültig zu vernichten. Dazu musste ein Sterblicher die Nereide Thetis gegen ihren expliziten Willen schwängern, damit sie in der Folge den fast unschlagbaren Kriegshelden Achilles gebären sollte.

Die Nereide Thetis aber versteht und verhält sich queer, weshalb Peleus sie gewaltsam daran hindern muss, andere Identitäten anzunehmen und er muss sie auf ihre biologische Identität als Frau zurückführen: „Zwinge sie, was sie auch sei, bis früheres Wesen sie herstellt.“ Nur so kann sie ihren reproduktiven Pflichten nachkommen und Achilles gebären. Und dieser Achilles soll zum trojanischen Krieg beitragen, mit dem Zeus den Untergang der Menschheit realisieren wollte. Gaia, die Mutter Erde, hatte sich bei ihm beschwert, dass die Menschen ihr allmählich zur Last fielen und sich vor allem gotteslästerlich verhielten, weshalb Zeus sie doch bitte schön vernichten möge. Und weil mit der Vergewaltigung der Thetis der erste Teil des Planes funktioniert hatte, feiern nun die Götter ausgelassen und statten den Vergewaltiger Peleus im Rahmen des Festes mit den mächtigsten Waffen der Zeit aus.

Soweit zur ganz und gar nicht menschen- und queer-freundlichen Grunderzählung, die in Paris beiläufig reproduziert wurde. Aufgefallen ist das nicht, weil wir als Zeitgenoss:innen des 21. Jahrhunderts nur einen nackten Bacchus zu sehen brauchen, um unser Gehirn abzuschalten und in einen Weinrausch zu verfallen. Aber Dionysus ist eine durch und durch ambivalente Gestalt und die griechisch-römischen Götter sind es auch. Ich fand es deshalb sinnvoll, einmal die gerade paraphrasierte Geschichte(n) aus dem ersten und zweiten Buch der Kypria (500 v.Chr.) und den Metamorphosen des Ovid zu rekonstruieren, die dem Pariser Bild zugrunde liegt.

Die Planer der Pariser Eröffnungsfeier haben sich darüber hinaus bei der Konzeption auf Walter Benjamin berufen, dessen Denkbilder und geschichtsphilosophischen Thesen sie inspirierend  fanden. Nur vom Christentum wollten sie nichts wissen. Meine zweite Frage ist daher, ob man Walter Benjamin so einfach beerben kann, ohne auf die explizite Messianität seiner Gedanken einzugehen. Funktioniert der türkische Schachspieler aus Benjamins erster geschichtsphilosophischer These auch ohne den theologischen Zwerg in seinem Innern? Ich glaube nicht.

Beide Aspekte habe ich in einem Aufsatz bearbeitet, der im nächsten Heft 151 von tà katoptrizómena erscheinen wird, aber jetzt schon von der Container-Seite des kommenden Heftes aufgerufen, gelesen und heruntergeladen werden kann. Sie finden ihn unter folgender Adresse: www.theomag.de/151/index.htm

tà katoptrizómena wird 150

Das Heft 150 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es ist ein Jubiläumsheft und wirft einen Blick auf die Geschichte des Magazins.

Editorial

VIEW

Achtundsechzig. Sechsundachtzig
Versuch einer Laudatio auf ‚tà katoptrizómena‘,
zugleich Blatt- und Selbstkritik
Wolfgang Vögele [12 S.]

Only for a moment, and the moment’s gone
tà katoptrizómena in Kontinuität und Wandel
Andreas Mertin [42 S.]

tà katoptrizómena als protestantisches Spiegelschiff
Von Smakken, Kuffen, Galioten und anderen (publizistischen) Transportmitteln
Andreas Mertin [6 S.]

CAUSERIEN

„Nicht schon wieder!“
Wann hört diese Krawall-Theologie endlich auf?
Andreas Mertin [14 S.]

Schlager-Theologie? Sich (nicht) einlullen lassen …
Heidschi Bumbeidschi bum bum – Teil III
Andreas Mertin [22 S.]

LEBENSKUNST

Gemeinsame Anstrengung: Lebenskunst.
Erinnerung an ein zentrales theologisches Thema samt kurzem Bericht
von einer wissenschaftlichen Tagung in Wildbad-Rothenburg
Wolfgang Vögele [10 S.]

MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

Und das nennt ihr „Blasphemie“?
Olympia und ein Fresko von Leonardo da Vinci

Nur meinungsstark ist ja auch keine Lösung.
Über woken Anti-Wokismus und kulturpolitische Schuldzuweisungen.

Raum ist in der kleinsten Hütte.
Von Rehen, Lichtkegeln und protestantischer Raumlehre

Kannibalismus „unter dem Deckmantel der Kunst“?
Eine Osnabrücker Posse in drei Akten

Unaufgeklärtes Denken.
Eine Linzer Posse

RE-VIEW

Bill Viola (1951-2024)
Andreas Mertin [2 S.]

Radikaler Universalismus jenseits von Identität
Eine Buchempfehlung
Andreas Mertin [4 S.]

Kapitalismus – Popkultur – Universitäre Kultur
„Sehnsucht nach dem Kapitalismus“ – Eine Rezension
Andreas Mertin [12 S.]

Never again

Der sehr empfehlenswerte Verfassungsblog veranstaltet gerade ein Blog-Symposium zum Thema „Never again“. Bisher war jeder der eingestellten Beiträge absolut lesenswert.

Die Initiatoren schreiben zu ihrem Symposium:

Verfassungen werden durch historische Narrative und kollektive Erinnerungen geprägt. Historische Traumata wirken sich auf nationale und internationale Gesetze und Politiken aus. Die Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen nachfolgender Generationen sowohl der Täter- als auch der Opfergruppen spielen eine Rolle bei der Gestaltung der sozialen und politischen Vorstellungen davon, was eine gerechte und faire Ordnung erfordert.

Dieses Blog-Symposium befasst sich mit den verfassungsrechtlichen und rechtlichen Verpflichtungen, Orientierungen und Argumenten, die das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts hervorgebracht haben, und mit der Frage, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben.