Zeitgenossenschaft

Die 151. Ausgabe von tà katoptrizómena ist erschienen. Sie widmet sich der Frage der „Zeitgenossenschaft“. Darüber hinaus gibt es eine Fülle weiterer Beiträge.

Editorial

ZEITGENOSSENSCHAFT

Vom Problem, ‚Zeitgenossenschaft‘ zu bestimmen
Kursorische Notizen
Andreas Mertin (16 S.)

Wenn Zeitgenossen sich treffen
Zum Beispiel Dante und Giotto in der Scrovegni-Kapelle
Andreas Mertin (6 S.)

„You try to scream,
but terror takes the sound before you make it“
.
1979-2024: Eine Zeitgeschichte der Angst
im Alien-Film-Zyklus
Andreas Mertin (20 S.)

KORRESPONDENZ

Lieber lesender Bruder
Protestantische Anmerkungen zum Lesebrief Seiner Heiligkeit
Wolfgang Vögele (10 S.)

OLYMPISCHE NACH-GEDANKEN

Bacchanales (Abend-)Mahl
Ein kritischer Nachtrag zur Kritik der Olympia-Inszenierung
Andreas Mertin (12 S.)

Der späte Triumph der olympischen Religion
Eine Collage mit einigen religiösen Geschichten und einem bitteren Epilog
Andreas Mertin (12 S.)

ANDREAS MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

„Heil Dir im Siegerkranz“
Eine sächsische Bildlektüre (4 S.)

Tsunami der Dummheit?
Zur rechten Schwarmintelligenz – samt Appendix zur rechten Geheimwaffe (6 S.)

Überraschung: Die schweigende Mehrheit gibt es nicht.
Vom Scheitern einer Wunderwaffe (4 S.)

Wenn die Regierung Wähler:innen kontrollieren will
Ein sprachlicher Missgriff eines Regierungsbeauftragten (4 S.)

Ist das schon Ikonoklasmus ,,, oder kann das weg?
Zu einer merkwürdigen Renaissance des Neu-Platonismus (6 S.)

RE-VIEW

International Conference on Religion and Film
Hollywood California 26.06. – 28.06.2024
Jochen Mündlein (4 S.)

“The Song of Songs Through the Ages”
Eine Rezension
Claudia D. Bergmann (4 S)

Manuscripts and Performances in Religions, Arts, and Sciences
Eine Rezension
Claudia D. Bergmann (3 S.)

Auf dem Tisch der Redaktion
Buchhinweise
Redaktion (1 S.)

Presse-, Meinungsfreiheit und der Kampf gegen rechte Bewegungen

Warum die temporäre Aufhebung des Verbots von Compact ein Gewinn für den Rechtsstaat ist.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat das Verbot der Zeitschrift Compact durch das Bundesinnenministerium in einem Eilbeschluss bis zur Entscheidung im Hauptverfahren vorläufig aufgehoben. Als Herausgeber einer Zeitschrift begrüße ich diese Entscheidung ausdrücklich.

Nicht, weil ich auch nur im Ansatz die politische Haltung der Compact-Redaktion und ihre Form der aggressiven Agitation gegen Andersdenkende und Minderheiten teile, sondern weil ich meine, dass eine Bundesinnenministerin nicht einfach ein Presseorgan ohne Einbezug eines Gerichts verbieten können darf. Das Presserecht ist ein hohes schützenswertes Gut in einer Demokratie und auch die Meinungsfreiheit darf nur unter Abwägung grundrechtlicher Überlegungen eingeschränkt werden. Deshalb ist es gut, dass das BVG Leipzig dem zunächst einmal einen Riegel vorgeschoben hat.

Man muss sich ja nur einmal vorstellen, das Bundesinnenministerium geriete einmal in die Hände einer heute als rechtsextrem angesehenen Partei, dann wird schnell deutlich, welches Instrumentarium die gegenwärtige Bundesinnenministerin durch ihre Vorgehensweise künftigen Minister:innen geschaffen hätte. Gnade der freien Presse, wenn sich rechtsextreme Minister:innen einmal dieses Instrumentariums bedienen könnten.

Ich verstehe, dass einige nun entsetzt sind, weil sie den Kampf gegen die Rechten oder gegen Antisemitismus geschwächt sehen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir das Recht so einrichten würden, dass es jeweils nur zu den von uns gewünschten Ergebnissen führt, ohne das Vorgehen gegen die Grundrechte und Menschenrechte abzuwägen, hätte das mit „Recht“ wenig zu tun, es wäre reine Willkür. Auch der Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft muss rechtsstaatlich korrekt durchgeführt werden.

Und wenn Presseartikel einem nicht gefallen, weil sie gegen die Menschenwürde Einzelner oder von Gruppen verstoßen, dann muss man rechtsstaatlich gegen sie vorgehen und kann nicht pauschal auf ministerieller Ebene einfach Presseorgane verbieten. Das wären Rückfälle in obrigkeitsstaatliche oder feudale Zeiten – und diese Gefahr besteht zur Zeit bedauerlicherweise. Vieles von dem, was in Compact steht, ist schwer erträglich, aber vermutlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Wir können nicht einfach Dinge verbieten, die uns nicht gefallen. Die Meinungsfreiheit ist laut Bundesverfassungsgericht ziemlich weit auszulegen. Im Zweifelsfall muss man gegen Behauptungen und Lügen juristisch vorgehen und die Gerichte werden dann über die einzelnen Texte entscheiden. Erst wenn sich das häuft und verdichtet, müssen andere – rechtsstaatliche – Mittel eingesetzt werden. Anders geht es nicht. Zurzeit aber gibt es die Neigung, gut obrigkeitsstaatlich am Recht vorbei die Dinge zu entscheiden (Documenta, Compact etc.) So geht es aber nicht.

Nur Bilder, keine Geschichten?

Nach dem Streit um das angebliche Abendmahlsbild bei der olympischen Eröffnungsfeier 2024 in Paris lohnt es sich, sich auch einmal mit der Mythologie des tatsächlich verwendeten Bildes zu beschäftigen. Und die ist erschreckend: menschen- und queer-feindlich.

[Den ausführlichen Text finden Sie hier: www.theomag.de/151/index.htm]

Bei der Diskussion um die religiösen bzw. mythologischen Bilder, die auf der Eröffnungsfeier der olympischen Sommerspiele 2024 in Paris Verwendung fanden, galt die Hauptaufmerksamkeit jenem „Bild“, in dem einige religiöse Menschen eine Darstellung der Eucharistie erkennen wollten. Nach all den zwischenzeitlichen Debatten kann nun eines sicher gesagt werden: es handelt sich nicht um eine Darstellung eines Abendmahles, wohl aber um das Bild eines olympischen Festes, dessen Mahltisch nach dem Abendmahl von Leonardo da Vinci in Mailand konstruiert wurde. Insofern laufen die Angriffe der Bischöfe und ihrer lautstarken Unterstützer:innen ins Leere. Wenig beachtet wurde leider in der Diskussion, welches mythologische Bild für die Szene auf der Brücke über der Seine verwendet wurde. „Fest der Götter“ hört sich harmlos und anlassbezogen korrekt an. Und von der „Hochzeit von Peleus und Thetis“, die von den Göttern gefeiert wird, weiß der normale Mensch nichts. Was könnte schon an einer Hochzeitsfeier problematisch sein? Es geht doch nur um ein Bild – nicht um eine Geschichte. So jedenfalls bekundete es einer der Planer der Eröffnungsfeier, der Historiker Boucheron im Interview mit der FAZ. Aber ganz so ist es nicht, es unterschätzt die Macht der Bilder und es unterschätzt die Macht der Erzählung (der Geschichte), die in den Bildern zur Darstellung kommt. Im Paris des Jahres 2024 wird ein Wettstreit von Sportler:innen (und Nationen) gefeiert, der angeblich offen, frei und für alle zugänglich ist. Inzwischen wissen wir, dass das nicht wahr ist, dass die Diskussionen über Identität und Nationalität die sportlichen Aktivitäten (nicht nur beim Boxen) überlagern.

Aber darum geht es mir im Folgenden nicht. Als Kunsthistoriker interessierte es mich, worauf sich die queere Community mit jenem tatsächlich verwendeten Bild bezog, das dann zum Anlass der kontroversen Diskussionen wurde. Und da war ich dann doch einigermaßen erschrocken. Ich habe selten eine derartig anti-queere und menschenfeindliche Mythologie gelesen, wie die dem Bild zugrunde liegende.

Um es kurz zu sagen: das Bild zeigt uns eine Feier der olympischen Götter, die sich bei einem bachanalen Mahl darüber freuen, dass ein queeres Wesen von einem Mann in einer Höhle überfallen, vergewaltigt und geschwängert wurde! Die Götter hatten diesen Überfall kunstvoll orchestriert, denn es war ein Puzzlestein in ihrem Plan, die Menschheit endgültig zu vernichten. Dazu musste ein Sterblicher die Nereide Thetis gegen ihren expliziten Willen schwängern, damit sie in der Folge den fast unschlagbaren Kriegshelden Achilles gebären sollte.

Die Nereide Thetis aber versteht und verhält sich queer, weshalb Peleus sie gewaltsam daran hindern muss, andere Identitäten anzunehmen und er muss sie auf ihre biologische Identität als Frau zurückführen: „Zwinge sie, was sie auch sei, bis früheres Wesen sie herstellt.“ Nur so kann sie ihren reproduktiven Pflichten nachkommen und Achilles gebären. Und dieser Achilles soll zum trojanischen Krieg beitragen, mit dem Zeus den Untergang der Menschheit realisieren wollte. Gaia, die Mutter Erde, hatte sich bei ihm beschwert, dass die Menschen ihr allmählich zur Last fielen und sich vor allem gotteslästerlich verhielten, weshalb Zeus sie doch bitte schön vernichten möge. Und weil mit der Vergewaltigung der Thetis der erste Teil des Planes funktioniert hatte, feiern nun die Götter ausgelassen und statten den Vergewaltiger Peleus im Rahmen des Festes mit den mächtigsten Waffen der Zeit aus.

Soweit zur ganz und gar nicht menschen- und queer-freundlichen Grunderzählung, die in Paris beiläufig reproduziert wurde. Aufgefallen ist das nicht, weil wir als Zeitgenoss:innen des 21. Jahrhunderts nur einen nackten Bacchus zu sehen brauchen, um unser Gehirn abzuschalten und in einen Weinrausch zu verfallen. Aber Dionysus ist eine durch und durch ambivalente Gestalt und die griechisch-römischen Götter sind es auch. Ich fand es deshalb sinnvoll, einmal die gerade paraphrasierte Geschichte(n) aus dem ersten und zweiten Buch der Kypria (500 v.Chr.) und den Metamorphosen des Ovid zu rekonstruieren, die dem Pariser Bild zugrunde liegt.

Die Planer der Pariser Eröffnungsfeier haben sich darüber hinaus bei der Konzeption auf Walter Benjamin berufen, dessen Denkbilder und geschichtsphilosophischen Thesen sie inspirierend  fanden. Nur vom Christentum wollten sie nichts wissen. Meine zweite Frage ist daher, ob man Walter Benjamin so einfach beerben kann, ohne auf die explizite Messianität seiner Gedanken einzugehen. Funktioniert der türkische Schachspieler aus Benjamins erster geschichtsphilosophischer These auch ohne den theologischen Zwerg in seinem Innern? Ich glaube nicht.

Beide Aspekte habe ich in einem Aufsatz bearbeitet, der im nächsten Heft 151 von tà katoptrizómena erscheinen wird, aber jetzt schon von der Container-Seite des kommenden Heftes aufgerufen, gelesen und heruntergeladen werden kann. Sie finden ihn unter folgender Adresse: www.theomag.de/151/index.htm

tà katoptrizómena wird 150

Das Heft 150 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es ist ein Jubiläumsheft und wirft einen Blick auf die Geschichte des Magazins.

Editorial

VIEW

Achtundsechzig. Sechsundachtzig
Versuch einer Laudatio auf ‚tà katoptrizómena‘,
zugleich Blatt- und Selbstkritik
Wolfgang Vögele [12 S.]

Only for a moment, and the moment’s gone
tà katoptrizómena in Kontinuität und Wandel
Andreas Mertin [42 S.]

tà katoptrizómena als protestantisches Spiegelschiff
Von Smakken, Kuffen, Galioten und anderen (publizistischen) Transportmitteln
Andreas Mertin [6 S.]

CAUSERIEN

„Nicht schon wieder!“
Wann hört diese Krawall-Theologie endlich auf?
Andreas Mertin [14 S.]

Schlager-Theologie? Sich (nicht) einlullen lassen …
Heidschi Bumbeidschi bum bum – Teil III
Andreas Mertin [22 S.]

LEBENSKUNST

Gemeinsame Anstrengung: Lebenskunst.
Erinnerung an ein zentrales theologisches Thema samt kurzem Bericht
von einer wissenschaftlichen Tagung in Wildbad-Rothenburg
Wolfgang Vögele [10 S.]

MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

Und das nennt ihr „Blasphemie“?
Olympia und ein Fresko von Leonardo da Vinci

Nur meinungsstark ist ja auch keine Lösung.
Über woken Anti-Wokismus und kulturpolitische Schuldzuweisungen.

Raum ist in der kleinsten Hütte.
Von Rehen, Lichtkegeln und protestantischer Raumlehre

Kannibalismus „unter dem Deckmantel der Kunst“?
Eine Osnabrücker Posse in drei Akten

Unaufgeklärtes Denken.
Eine Linzer Posse

RE-VIEW

Bill Viola (1951-2024)
Andreas Mertin [2 S.]

Radikaler Universalismus jenseits von Identität
Eine Buchempfehlung
Andreas Mertin [4 S.]

Kapitalismus – Popkultur – Universitäre Kultur
„Sehnsucht nach dem Kapitalismus“ – Eine Rezension
Andreas Mertin [12 S.]

Never again

Der sehr empfehlenswerte Verfassungsblog veranstaltet gerade ein Blog-Symposium zum Thema „Never again“. Bisher war jeder der eingestellten Beiträge absolut lesenswert.

Die Initiatoren schreiben zu ihrem Symposium:

Verfassungen werden durch historische Narrative und kollektive Erinnerungen geprägt. Historische Traumata wirken sich auf nationale und internationale Gesetze und Politiken aus. Die Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen nachfolgender Generationen sowohl der Täter- als auch der Opfergruppen spielen eine Rolle bei der Gestaltung der sozialen und politischen Vorstellungen davon, was eine gerechte und faire Ordnung erfordert.

Dieses Blog-Symposium befasst sich mit den verfassungsrechtlichen und rechtlichen Verpflichtungen, Orientierungen und Argumenten, die das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts hervorgebracht haben, und mit der Frage, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben.

Und das nennt ihr „Blasphemie“?

Die Erregung um das re-inszenierte Fresko von Leonardo da Vinci bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele ist bigott. Die queere Bewegung hat alles Recht der Welt, sich auf Leonardo zu berufen.

Die Rechten der Welt, die reaktionären Verteidiger des christlichen Abendlandes schäumen, weil während der Eröffnung der olympischen Spiele vor Milliarden Menschen dargestellt wurde, dass Gott auch LGBT-Menschen zum Abendmahl eingeladen hat. Dies feiert zu meinem Gedächtnis hatte der Herr gesagt und Pariser Drag-Queens und Trans-Menschen haben sich – zumindest in einer an Leonardo da Vinci angelehnten Inszenierung – darangehalten.

Nun kann man gut fragen, ob sie hier wirklich – wie die Verteidiger des christlichen Abendlandes unterstellen – das Abendmahl zelebrieren, oder die Zelebration nicht doch einem ikonischen Bild eines Künstlers gilt, von dem man nun bei aller Ungewissheit der Fakten, eines sagen kann: er hat abweichend von den sexuellen Normen gelebt. Er war entgegen allen Konventionen seiner Zeit nicht verheiratet, er hatte gegen alle Konventionen keine Kinder, er war von Anfang an von sehr jungen Knaben und Männern umgeben, die ihm treu ergeben waren bis ans Lebensende. Und er war zumindest einmal wegen Homosexualität angeklagt (und wurde freigesprochen, weil die Anzeige anonym war). Wenn Leonardo da Vinci aber eines ganz sicher nicht war, dann dies: spießbürgerlich.

Das Christentum, das über die längste Zeit seines Bestehens die verfolgt oder auch verbrannt hat, die seinen Normen nicht folgten, hat kein Recht, sich affirmativ auf Leonardo da Vinci zu beziehen und so zu tun, dass man in seinen religiösen Gefühlen verletzt würde, wenn LGBT-Menschen Leonardos Bilder re-inszenieren. Die Konzeption des Mailänder Abendmahls ist eine spezifische Erfindung von Leonardo. Er verabschiedet sich von der antijudaistischen Norm, bei der ein Jude herausgestellt auf der anderen Seite des Tisches als „Anderer“ der Verachtung preisgegeben wird. Bis in die Gegenwart ist es dem Christentum nicht gelungen, sich Leonardos Haltung wirklich anzueignen. Auch deshalb kann sich die queere Community auf ihn berufen.

Das Abendmahl, das Jesus Christus gefeiert hat, hat nun ganz sicher nicht so ausgesehen, wie das Letzte Mahl, das Leonardo da Vinci 1498 in Mailand ikonisch geschaffen hat (das gilt für nahezu alle Abendmahlsbilder der Kunstgeschichte – sie sind visuelle Poesie, keine Dokumentations-Fotografie). Zu Jesu Zeiten saß und aß man halbliegend im römischen Stil, wovon die Mosaiken von Ravenna noch einigermaßen Auskunft geben.

Wäre das Mosaik von Ravenna Vorbild für die Pariser Inszenierung genommen worden, hätten die Konservativen es vermutlich gar nicht wiedererkannt – außer am Heiligenschein vielleicht. Aber den kann man ja auch mal mit einer Oblate verwechseln wie ich gelesen habe. Und so schimpft man nun auf die LGBT-Community und träumt davon, was man mit denen anstellen würde, wenn man noch wie im Mittelalter die Macht hätte.

Und was das konkret bedeutet, kann man bei dem französischen Philosophen, Humanisten und Essayisten Michel de Montaigne (1533-1592) nachlesen. Er berichtet in seinem Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581, wie in Rom seinerzeit mit queeren Häretikern umgegangen wurde, die eine kirchliche Feier imitierten:

„Römische Kirchenrechtler sagten mir, da die andere Vereinigung, jene von Mann und Frau, nur durch die Ehe legitimiert werde, seien diese Schlaumeier auf die Idee verfallen, ihre hiervon abweichende Art würde, wenn durch die Rituale und heiligen Handlungen der Kirche sanktioniert, gleichermaßen legitim. Acht, neun Portugiesen dieser kuriosen Sekte hat man jedoch verbrannt.“

Da können die Künstler:innen aus Paris ja froh sein, dass wir heute in anderen Zeiten leben, es gibt zwar Shitstorms, aber keine Autodafés mehr. Aber wenn man könnte, da bin ich mir sicher, würde die rechte Meute gerne die Queeren wieder auf den Scheiterhaufen schicken.

So aber bleibt es bei der suprematischen Erregung: es geht um die Vorherrschaft des Mannes beim Abendmahl. Da haben nur echte Männer etwas zu suchen – queere Menschen und Drag-Queens sind ausgeschlossen. Und diese Ansicht ist, da sie ein falsches Gottesbild abgibt, nun wirklich blasphemisch. Wer behauptet, Gott würde keine Frauen, Queere oder Drag-Queens zum Mahl einladen, um es auf ihre kulturspezifische Art zu feiern, lästert Gott (das an die Adresse von Bischof Oster). Es ist ein Eingriff in die Souveränität Gottes.

Popkulturell, um auch das zu notieren, ist die visuelle Aneignung von Leonardos Personengruppe ein gar nicht so seltenes Phänomen. Nahezu jede Fernsehserie, die kultischen Charakter hat, re-inszeniert irgendwann Leonardos Bild oder stellt ein Foto-Shooting nach dem Bild online. Das ist eine Hommage an den Künstler, keine Erinnerung ans biblische Abendmahl. Es spielt mit dem kulturellen Wissen der (jugendlichen) Fans: sie sollen schauen, wie das berühmte Fresko von Leonardo umgesetzt wurde. Wo ist Judas platziert und mit welcher Filmfigur wird er assoziiert, wer spielt Petrus und wer den Lieblingsjünger Johannes? Das hat seit Jahrzehnten Tradition und markiert eine kulturelle Kompetenz, über die offenbar jene nicht verfügen, die nun gegen die Pariser Inszenierung protestieren. Sie erweisen sich als kulturell ungebildet, weil sie nicht wissen, was in der Gegenwart Stil ist.

Auf jener Plattform, die immer einer (rechten) Schwarmintelligenz bedarf, um denken zu können, schreibt ein Kolumnist Folgendes:

… entsprach es einfach der „Vielfalts“-Definition der Pariser Regie, sich vor der ganzen Welt zu entblößen und zu zeigen „seht, wie wir unsere Religion mit Füßen treten…“?

Ich weiß nicht, was die Schwarmintelligenz unter ‚unsere Religion‘ versteht. Vom Sinn des Satzes kann es sich ja nur auf die französische Religion beziehen (kaum auf die antike olympische Religion des Zeus). Aber in Frankreich herrscht die Laizität, da gibt es keine „unsere Religion“. Und die olympischen Spiele sind kein katholischer Weltjugendtag, bei dem die rechte Weltanschauung präsentiert werden kann. Bei den olympischen Spielen artikulieren und wetteifern Menschen aus der ganzen Welt in ihrer ganzen Vielfalt. Und entblößt hat sich die Pariser Regie schon gar nicht. Wer kommt auf solche Worte und welche Bilder zirkulieren in seinem Kopf?

Dem staunenden Publikum wurde …  eine spöttische Live-Inszenierung des letzten Abendmahls Jesu Christi präsentiert, arrangiert nach dem berühmten Gemälde da Vincis.

Wie schon gezeigt, ist das unwahr. Das Fresko des sich nicht an den sexuellen Normen seiner Zeit orientierenden Künstlers Leonardo da Vinci stand im Zentrum, und ihm gegenüber dürfen alle Menschen zeigen, wie sehr sie ihn verehren, deuten oder sein Werk sich aneignen. Sogar ehemalige Jesuitenschüler wie Luis Buñuel dürfen das:

Am Schluss schreibt der Kolumnist: Und der Himmel weinte die ganze Zeit. Armes Olympia! Ich glaube freilich nicht, dass der der Diversität zugeneigte Zeus, zu dessen Ehren Olympia ja stattfindet, so reagiert hätte. Eher wohl nicht.

Die Biennale di Venezia 2024

Das Heft 149 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es widmet sich vor allem der aktuellen Biennale, aber auch dem Film und weiteren Erscheinungen der Kunst und Kultrurpolitik.

Editorial

LA BIENNALE DI VENEZIA – PREVIEW

זריםבכלמקו – Worin noch niemand war: Heimat
Zur Programmatik der diesjährigen Biennale
Andreas Mertin [6 S.]

La Biennale di Venezia ist das Pfingsten der Kunst
Von der Vielfalt und der Einheit der Kunst
Andreas Mertin [4 S.]

Kunst als Welterkenntnis
Der Pavillon von Israel auf der Biennale 2024
Andreas Mertin [14 S.]

Doch nicht mit denen! Gegen Israel geht immer
Oder: Die Sehnsucht der Kritiker nach den Fleischtöpfen des „Nationalstaatendioramas“
Andreas Mertin [6 S.]

Thresholds – Schwellenwerte
Der deutsche Pavillon auf der Biennale di Venezia 2024
Andreas Mertin [10 S.]

Der Vatikan, zwei Päpste, ein Künstler und die Biennale
Ein komplexes Verhältnis
Andreas Mertin [8 S.]

LA BIENNALE DI VENEZIA – VIEW

Venezianische Kunst
Verstreute Beobachtungen von der Kunst-Biennale 2024
Wolfgang Vögele [10 S.]

„Die Steine von Venedig“
Mit der Summerschool Art & Religion auf der Biennale di Venezia 2024
Andreas Mertin [16 S.]

KUNST

Wenn etwas dazwischen kommt
Gedanken zur Kunst von Christian Hasucha
Karin Wendt [17 S.]

FILM
Die rächende Braut
Eine Notiz zu Truffauts „Die Braut trug schwarz“
Hans J. Wulff [4 S.]

Die toten Bräute
Überlegungen zur Seriendramaturgie halblanger deutscher TV-Serien
H.J. Wulff [12 S.]

CAUSERIEN

Eine „witch-hunting campaign“?
Das Mimimi der Blockwarte, Denunzianten und Spielverderber
Andreas Mertin [4 S.]

444
Wie ein Antisemitismusbeauftragter sein Amt missversteht
Andreas Mertin [6 S.]

RE-VIEW

Bazon Brock: „Eine schwere Entdeutschung“
Eine Buchempfehlung
Andreas Mertin [2 S.]

Man kann es auch zerreden – Nachtrag zum ESC

Boykottaufrufe sind noch kein Antisemitismus, es kommt auf den Kontext an.

Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, ist sehr begabt darin, alles was geschieht, auf die simple Formel Antisemitismus zu reduzieren. Whatever is, ist Antisemitism. Dieser inflationäre Gebrauch des Etiketts „Antisemitismus“ ist nicht hilfreich, weil dort, wo die Bezeichnung wirklich gebraucht wird, sie keine Trennschärfe mehr entwickelt. Aktuell sagt er mit Blick auf den Eurovision Song Contest und den dort stattfindenden Proteste (nach Wahl!):

»Es entspricht einem gängigen antisemitischen Muster, Israelis kollektiv in Haftung für Handlungen ihrer Regierung oder ihrer Armee zu nehmen, die sie oftmals selbst verurteilen«

Das mag ja sein, nur trifft das in diesem Fall überhaupt nicht zu. Die israelische Künstlerin ist als Vertreterin des Landes Israel dort, das hat der israelische Staatspräsident explizit so gesagt. Also dürfen die Protestierenden die Künstlerin als solche auch wahrnehmen und in den Boykott einbeziehen. Boykottaufrufe sind noch kein Antisemitismus (auch wenn die IHRA das behauptet), sondern legitimes Mittel im politischen Kampf. Das betont auch das von der amerikanischen Regierung zugrunde gelegt Nexus-Papier zum Verhältnis zum Antisemitismus. Sie ermahnen die Adressat:innen unter der Überschrift Verwechseln Sie Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus:

  • Kritik an der Politik der israelischen Regierung oder eine Ablehnung derselben ist nicht antisemitisch.
  • Harte Charakterisierungen Israels, die unfair sein mögen, sind nicht unbedingt antisemitisch.
  • Selbst Yitzhak Rabin warnte einst, dass die Aufrechterhaltung der Besatzung zu Apartheid führen würde. Er war sicherlich kein Antisemit.
  • Gewaltfreie Aktionen, die auf eine Änderung der israelischen Politik drängen, sind nicht generell antisemitisch.
  • Der Boykott von Waren, die im Westjordanland und/oder in Israel hergestellt werden, ist nicht antisemitisch, es sei denn, er richtet sich speziell gegen Israel wegen seines jüdischen Charakters.

Man kann beobachten, dass die Protestierenden das auch so machen, denn die andere jüdische Künstlerin auf dem Festival, Tali Golergant (* 2000 in Jerusalem), die Vertreterin Luxemburgs, wird ja nun gerade nicht für Israel verantwortlich gemacht. Ja, es ist so, Künstler:innen, die  für Israel auftreten. leiden enorm unter den Boykottaufrufen. Aber erkennbar geht es in diesem konkreten Fall nicht um ihr Jüdischsein, sondern um die Repräsentanz für den Staat Israel. Einen Boykott fordern dürfen die Protestierenden also, es kommt auf die Veranstalter:innen an, dass sie dem konsequent widerstehen.

Und wie die europäische Bevölkerung gezeigt hat, kann man durch simple Gesten ganz bewusst Zeichen setzen. Das ist 1000mal wirkungsvoller, als der inflationäre Gebrauch des Wortes „antisemitisch“. Meine Tageszeitung hat alle ihre Leser:innen aufgefordert, am 11.05.2024 zum Telefon zu greifen, um Israel zu wählen. Und wie ich sehe, haben sich offenbar sehr viele Menschen in Deutschland auch so entschieden. Das ist ein gutes Zeichen.

ESC ist positive Kulturpolitik

Das Televoting zum ESC gibt ein ermutigendes Zeichen in Sachen Solidarität mit Israel.

https://eurovisionworld.com/eurovision/2024#switzerland

Der Eurovision Song Contest betont immer, er sei eine unpolitische Veranstaltung. Das muss er wohl auch, um nicht zur politischen Propaganda-Plattform zu werden. Dennoch ist er natürlich durch und durch politisch. Weniger in dem, was die Gruppen singen, sondern in dem, wie die Menschen europa- und inzwischen ja auch weltweit abstimmen. Das wurde dieses Mal besonders deutlich. Während alle auf die Schreihälse vor und in der Konzerthalle starrten, stimmte die europäische Bevölkerung ab – und das ziemlich eindeutig. Gehen wir einmal davon aus, dass der israelische Beitrag für alle erkennbar nicht der beste und auch nicht der zweit- oder drittbeste war, dann kann das Abstimmungsverhalten der europäischen Bevölkerung nur als eindrückliches kulturpolitisches Zeichen gelesen werden. Was immer Grata Thunberg und ihre propalästinensischen Mitstreiter:innen vorab und parallel agitiert haben, die europäische Bevölkerung, soweit sie überhaupt am ESC interessiert war, hat das nicht gekümmert. Sie wollten ein Zeichen der Solidarität mit Israel geben. Während die deutsche Publizistik und diverse Lobbyist:innen beredt über den grassierenden Antisemitismus klagten, griffen die Menschen in Europa zum Telefonhörer und setzten ein kulturpolitisches Zeichen.

  • 15 nationale Televotings setzen Israel auf Platz 1
    (Australien, Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien und der sog. Rest der Welt).
  • 7 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 2
    (Albanien, Irland, Moldavia, Österreich, Slowenien, Tschechien, Zypern).
  • 3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 3
    (Dänemark, Georgien, Island)
  • 3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 4
    (Aserbaidschan, Griechenland, Lettland).

Damit haben 28 von 37 nationalen Televotings Israel aus kulturpolitischen Gründen hervorgehoben (wenn man davon ausgeht, dass Platz 5 eine angemessene Wertung wäre). Das ist ein eindrucksvolles Zeichen der Solidarität. Und die, so vermute ich, bezog sich weniger auf den Nahost-Konflikt selbst, sondern vor allem auf die unangemessenen Versuche von Aktivist:innen, Israel und Jüd:innen aus der Kultur auszuschließen. Dagegen wollte man protestieren und ein Zeichen setzen. Die Solidarität, unter den Künstler:innen des ESC nicht wirklich funktionierte (das Verhalten Griechenlands und der Niederlande während der Pressekonferenz war unsäglich), wurde stattdessen von den Menschen in Europa durch ihre Abstimmungen zum Ausdruck gebracht. Dass Jury und Publikum aus der Ukraine und aus Kroatien jeweils 0 Punkte gaben, dürfte eher aus taktischen Gründen geschuldet sein, um einen Mitkonkurrenten zu begrenzen. Israel dagegen hat alle unmittelbaren Konkurrenten bedacht. Dass Israel bei seinem Voting die einzige weitere Jüdin im Wettbewerb bevorzugt (24 Punkte für Luxemburg), kann man nachvollziehen.

Was mir aber wichtig ist, dass den Menschen europaweit der Boykott-Aktivismus a la BDS und Thunberg zunehmend auf den Keks geht. Sie setzen der kulturpolitischen Ausgrenzung ein kulturpolitisches Zeichen entgegen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn derartige Wettbewerbe ganz frei von solchen Auseinandersetzungen wären, aber seien wir ehrlich: Der ESC ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein kulturelles Kampffeld – für Diversität, Queerness, für ein liberales und offenes Europa. Jene aber, die Kultur als ein rein politisches und national-politisches Kampffeld begreifen, sind dieses Mal krachend gescheitert, kaum jemand in Europa wollte ihnen folgen, selbst in jenen Ländern nicht, wo die größten Communitys der Palästinenser in Europa sind: Frankreich (mehr als 100.000), Schweden (bis zu 75.000), Großbritannien und Deutschland (offiziell 8000, geschätzt 175.000 bis 225.000) gaben im Televoting jeweils 12 Punkte für Israel.

Wäre ich pro-palästinensischer Aktivist, würde mir das zu denken geben. Offenbar ist die aktuelle Form des Aktivismus völlig kontraproduktiv, es stärkt die Seite, die man doch kritisieren will. Ich vermute, dass sich auch jenseits der kulturpolitischen Kampffelder dieser Effekt einstellt, also etwa im Blick auf die Universitäten und andere gesellschaftliche Bereiche.

Für die pro-israelisch Engagierten gäbe es dagegen Anlass zu viel mehr Gelassenheit und Souveränität. Man agiert aus einer Situation, in der ein Großteil der europäischen Bevölkerung hinter einem steht und dort Zeichen setzt, wo die liberale Kultur bedroht ist. Das spricht dafür, weniger auf kulturpolitische Begrenzungen und Vorgaben zu setzen, sondern den Rezipient:innen in Europa zuzutrauen, selbst Stellung zu beziehen. Das ist immerhin ein ermutigendes Zeichen.

P.S. Wie ich gerade sehe, geht der Kommentar von Jan Feddersen in der taz in dieselbe Richtung: Volksabstimmung pro Israel.

ESC oder: War früher alles besser?

Die aktuelle Kritik des ESC als queere Veranstaltung ist bigott – früher war es auch nicht anders.

In seiner Vögel-Kolumne beschäftigt sich Klaus Kelle mehr oder weniger unwillig mit dem aktuellen Eurovision-Song-Contest. Ist auch nicht mehr das, was es mal war, schreibt er, seitdem da auch queere Menschen zugelassen sind. Früher war das noch anders, da waren das noch echte werteorientierte Veranstaltungen für deutsche Sexisten, während heute diese Werte auf den Kopf gestellt sind. Und Kelle schwelgt in Erinnerungen an frühere ESC-Lieder, an France Gall (die auch schon mal in ihren Liedern für Fellatio Reklame machte) oder auch das „blonde Gift“ aus der Abba-Gruppe. Heute dagegen ist der ESC eine queere Veranstaltung und damit will ein wertekonservativer Katholik nichts zu tun haben. Marianne Rosenberg zum Beispiel, deren Queerhymne „Er gehört zu mir“ 1975(!) Teil des deutschen ESC-Vorlaufs war, wird verschwiegen, wie vieles andere auch. Ja, die früheren Zeiten waren – nein nicht besser, aber auch nicht schlechter als heute. Cora, das erste lesbische Paar in der Hitparade 1984 (Amsterdam. Liebe hat total versagt), hat immerhin in Sachen Beziehung eine wertebeständigere Biographie als Kelle, der gerne in seinen in Erinnerungen schwelgenden Texten darauf hinweist, mit wem er nach und nach so befreundet war. Heute, so meint Kelle, lohne der Blick auf den ESC nicht, weil er sich nur noch „zwischen androgynen Wesen, Trans- und Intersexuellen, lesbischen Außerirdischen, Menschen, die während des Auftritts ihr Geschlecht wechseln, oder was heute so alles denkbar und möglich ist“, abspiele. Wie viel Verachtung für das Leben seiner Mitmenschen artikuliert sich da. Gelobt sei der Kandidat, der verheiratet ist und Kinder hat, so wünscht es sich der Kleinbürger. Was ihn nicht daran hindert, Popmusikerinnen, die verheiratet waren und zwei Kinder haben, als „blondes Gift“ zu begehren. In solchen Kleinigkeiten war der konservative Mann schon immer großzügig. An deren Musik erinnert er sich nicht mehr, wohl aber an das „blonde Gift“. Das ist in Ordnung, die Gegenwart dagegen ist in Unordnung.

Angesichts der sexuellen Verwirrung in der Gegenwart seht sich mancher Konservative offenbar zurück zu Tony Marshall.

Dieser hatte schon vor mehr als vierzig Jahren Frauen am liebsten damit anbaggert, dass er sang, ich will „in deinem Wald“ der Oberförster sein. Wie unappetitlich. Wie gut, dass angesichts geänderter Hygieneverhältnisse das heute niemand mehr versteht.

Wer ernsthaft meint, in diesen Fragen sei die Welt früher besser gewesen, hat die Welt freilich noch nie verstanden. Man muss nicht die ursprünglich elfbändigen(!) „Viktorianischen Ausschweifungen“ von 1890 lesen, um zu wissen, dass gerade die Zeiten, die sich als keusch und wertekonservativ ausgeben, die wildesten und repressivsten zugleich waren. Aber das mindeste, was man wohl doch erwarten kann, auch von einem angeblich Wertekonservativen, ist, dass er die subjektiven Werte Anderer achtet und anerkennt, er muss sie ja nicht teilen. Aber diesen Minimalkonsens verweigert die rechte Schwarmintelligenz.