Auf katholisch.de vertritt Christoph Strack, Leiter des Bereichs Religionen der Deutschen Welle, den Standpunkt, dass Gotteshäuser mehr seien als Museen. Nun ist das ein mehrdeutiger Satz mit unterschiedlichen Konnotationen.
Er kann meinen, dass Kirchengebäude nicht nur Museen sind. Das ist unbestreitbar. Neben der ästhetischen und politischen Funktion erfüllen Kirchen und Tempel vorrangig religiöse Funktionen. Und man kann fragen, inwiefern beides – die Erfahrung der ästhetischen Funktion und die Erfahrung der religiösen Funktion Hand in Hand gehen kann oder ob man, weil heutzutage vorrangig Menschen mit dem Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung die berühmten Tempel und Kirchen betreten, beides voneinander trennt.
Und es ist nicht der laizistische Staat, sondern die katholische Kirche selbst, die weltweit diese Trennung eingeführt hat, indem sie bei ästhetisch ausgezeichneten Räumen zwischen den Baedeker-Christen und den anderen Gläubigen trennt. Wer in Florenz den Dom betreten will, muss sich entscheiden, ob er dies als Gläubiger (kostenlos) macht oder als Baedeker-Christ (gegen Entgelt). Wer in Venedig den Dom betreten will, muss sich entscheiden, ob er dies als Gläubiger (kostenlos) macht oder als Baedeker-Christ (gegen Entgelt). Wer in Wien den Stephansdom betreten will, muss sich entscheiden, ob er dies als Gläubiger (kostenlos) macht oder als Baedeker-Christ (gegen Entgelt). Wer das Baptisterium der Kathedrale von Padua betreten will, hatte keine Wahl: Zugang nur gegen Geld – dafür steht die Kathedrale jederzeit offen.
Weltweit praktiziert der Katholizismus das so. Das kann man bedauern, sollte sich dann aber als Kritik zunächst und vor allem an die Kirche richten und sollte nicht erst dort beklagt werden, wo der Staat der Finanzträger ist. Wenn Eintrittsgeld für Kirchen falsch ist, dann bitte schön, sollte die Kritik an der katholischen Praxis in Florenz, in Venedig, in Wien beginnen. Ich erinnere mich, schon als junger Erwachsener vor fast 50 Jahren in Sevilla mit derartigen Forderungen nach Eintrittsgeldern für den Besuch einer Kathedrale konfrontiert gewesen zu sein. Insofern können eigentlich keine grundsätzlichen theologischen Überlegungen gegen solche Praktiken wie die geplanten bei Notre Dame in Paris sprechen.
Nebenbei bemerkt, fand ich immer schon eine Art Kulturkarte für Kirchenmitglieder sinnvoll, die ja mit ihren Kirchensteuern die Kirchen mitfinanzieren, und deshalb andere Eintrittspreise als Nichtmitglieder zahlen müssten. Museen praktizieren das schon seit langem.
Womit wir bei der zweiten Bedeutung des Standpunkts wären, dass Gotteshäuser mehr seien als Museen. Denn man kann diesen Satz auch als negatives Urteil über Museen deuten. „Kirchen sind kein Museum. Nie. Mögen Museen manchmal wirken wie geistliche Orte, bleiben lebendige Gotteshäuser stets weit mehr. Eine Einladung.“ Demnach wären Museen tot, versteinert, geronnenes Kulturgut, während Kirchen leben und Teil der Lebenspraxis wären. Selten so gelacht. 90% ihrer Zeit sind Kirchen völlig nutzlose, herumstehende Ensemble aus Stein, petrifizierter Glaube, dem es an innerem Leben fehlt. Museen dagegen sind Kulturträger schlechthin, fordern und fördern die Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart. Wer Kunstwerke der Vergangenheit als tote Gegenstände begreift, ist ein Banause. Er begreift nicht einmal, warum die vielen Millionen Menschen Notre-Dame besuchen: ganz sicher nicht, weil sie dort Gott näher wären. Sie besuchen die Kirche aus kulturgeschichtlichen und ästhetischen Gründen – die Mehrzahl der Besucher:innen hat mit der Religion längst abgeschlossen. Für Jugendliche, so schreibt Wolfgang Vögele in Ausgabe 152 von tà katoptrizómena, dem Magazin für Theologie und Ästhetik, ist die Kirche hoffnungslos von gestern, tot, verstaubt:
Unter vielen Jugendlichen gilt die … Kirche als peinlich, in Jugendsprache ausgedrückt: C-R-I-N-G-E. Man meint, es mit einem eingestaubten Verein älterer Leute zu tun zu ha-ben, hoffnungslos vormodern, hoffnungslos prä-digital, in Routinen erstarrt. Man spürt weder Begeisterung noch Botschaft. Wir machen es so, weil wir es schon immer so gemacht haben. Was soll man an einer Kirche attraktiv finden, in der alte Leute die Musik von gestern mit Botschaften von vorgestern kombinieren und in hölzernen Ritualen feiern?
Der Mehrwert einer Sache steigert sich nicht, indem man ihn nur oft genug beschwört, der Mehrwert muss auch vorhanden sein. Und da scheint es mir so zu sein, dass die vom Tourismus angesteuerten Gebäude einen ästhetischen Mehrwert bieten, der den Menschen tatsächlich etwas wert ist. Vor den Eingängen für religiöse Besucher gibt es jedenfalls keine langen Warteschlangen, die Nachfrage nach diesem Mehrwert scheint begrenzt zu sein.
„Andreas“, sagte meine paduanische Zimmerwirtin vor einiger Zeit zu mir, „wir gehen doch nicht in die Basilika des Hl. Antonius oder in die Kathedrale, wir haben mit der Chiesa di San Francesco unsere eigene Kirche, wo wir zusammen feiern.“ Und diese Kirche ist auch, das merkt man bereits, wenn man sich ihr nähert, religiös in Gebrauch. Und ähnliche Antworten auf die Frage ihrer praxis pietatis werden auch all die anderen Menschen rund um die Touristenkirchen dieser Welt geben. Aus religiösen Gründen brauchen wir Notre Dame nicht.
Kirchen sind andere Orte als Museen – das ist das Ergebnis der modernen Ausdifferenzierung der Welt. Beides sind für die Mehrheit der Menschen Heterotope, fremde Orte, an und in denen über den Sinn der Welt in ganz unterschiedlicher Form nachgedacht wird – religiös oder ästhetisch. Nur ganz selten gehen beide Formen Hand in Hand. Was sich beide aber nicht leisten können, ist ihre Aufgabe und ihre Vitalität gegeneinander auszuspielen.
Mein Vorschlag für Paris wäre, es den anderen ästhetisch ausgezeichneten katholischen Orten dieser Welt gleichzutun: ein kostenloser Eingang für die Gläubigen zum Beten und ein kostenpflichtiger Eingang für die Baedeker-Christen zum Betrachten. Warum nicht? Ich bin mir sicher, vor letzterem werden sich dennoch Schlangen bilden.