Was produziert eigentlich so ein Celebrity-Leben an CO2-Ausstoß? Und wer stört sich daran?
Heute mal etwas ganz anderes. Gerade finde ich im RSS-Feed eine Meldung einer Tageszeitung, dass sich die Sängerin Taylor Swift um ihre Sicherheit sorgt. Da ich vor kurzem über sie geschrieben habe, frage ich mich interessiert, worum es wohl geht. Und dann bekommt das Ganze kafkaeske Züge.
Es gibt eine Website, die sorgfältig notiert, wie viel CO² unsere Prominenten mit ihren Privatjets verbrauchen und so unsere Umwelt nachhaltig zerstören. Und auf dieser Website ist Taylor Swift die Nummer eins. Sehr einleuchtend zeigt die Webseite, wie rücksichtslos die Künstlerin mit der Umwelt umgeht – wirklich brutal und unerträglich. Ich kann nur allen jugendlichen und erwachsenen Fans der Künstlerin empfehlen, einmal eine Sekunde innezuhalten und nachzudenken, was dieses Verhalten eigentlich bedeutet. Es ist schockierend, man könnte kotzen. Den durchschnittlichen CO²-Verbrauch der Menschen auf dieser Erde findet man übrigens hier.
Und Taylor Swift sorgt sich nun, und das ist das Kafkaeske daran, dass jemand Anstoß daran nehmen könnte, dass durch ihre Flugaktivitäten die Zukunft künftiger Generationen zerstört wird und deshalb darauf irgendwie reagiert. Sie empfindet das als Stalking durch die Website. Ich nicht.
Es wäre nicht nur der Letzten Generation anzuraten, sich einmal diesen Zusammenhängen zuzuwenden. Denn dann müssten sie sich mit einer ganzen Gruppe auseinandersetzen und anlegen, der dieses umweltschädliche Verhalten offensichtlich kein größeres Problem ist und die doch teilweise genauso alt ist wie die Letzte Generation.
Sicher, Taylor Swift ist schon 32 Jahre alt, Drake 36, Kim Kardashian 42 und Floyd Mayweather sogar schon 45, aber alle sind keine Angehörigen der Boomer-Generation, dennoch eifern sie dieser in Sachen Umweltzerstörung erkennbar nach. In dieser Liste der durch Flüge generierten CO²-Belastungen (in Tonnen) heißt es nicht, je oller, je doller, sondern je jünger, je schlimmer
Die gewaltsamen Suffragetten als Vorbilder der „Letzten Generation“.
Ich habe ja in der Ausgabe 140 des Magazins für Theologie und Ästhetik über die symbolischen Bildzerstörer der „Letzten Generation“ geschrieben. Da wusste ich noch nicht, dass die „Letzte Generation“ darin historische Vorgängerinnen hatten, die nicht nur symbolisch, sondern auch real Bilder zerstörten. Und es handelt sich um solche Vorgängerinnen, auf die sich Vertreter:innen der „Letzten Generation“ auch heute explizit berufen (Vgl. dazu hier und hier). Und diese Vorbilder waren die Suffragetten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch diese Bewegung unterlag einem schleichenden Radikalisierungsprozess, der am Ende auch Gewalt gegen Sachen und Personen beinhaltete.
1914 betrat Mary Richardson die National Gallery in London und verübte einen Anschlag auf das Kunstwerk „Venus vor dem Spiegel“ von Diego Velázquez aus der Zeit zwischen 1647-1651. Mit einem Fleischerbeil zerstörte sie das Glas vor dem Kunstwerk und zerschnitt dieses dann. Zur Rechtfertigung verwies sie auf die Verhaftung einer anderen Suffragette einen Tag zuvor und auf die sexistische Anlage des Bildes. Dies erschien ihr ausreichend, dieses Werk nicht nur symbolisch, sondern real zu beschädigen. Von dieser Attacke gibt es, und das ist es, worüber ich hier schreiben möchte, unterschiedliche Fotografien, genauer: von den Ergebnissen der Attacke. Und die sind etwas widersprüchlich.
Nach dem ersten ‚Foto‘ hätte sich die Suffragette auf den unteren Körperteil der Venus fokussiert. Dort sehen wir sieben Schnitte im Bild. Das zweite ‚Foto‘ zeigt aber ein ganz anderes Tatortbild. Hier sehen wir mindestens acht Schnitte vor allem im oberen Körperbereich der Venus. Es gibt keine vernünftige Logik, die diese beiden angeblichen Fotos miteinander verbinden könnte – außer der Tatsache, dass sie scheinbar dasselbe Attentat zeigen. Handelt es sich also um zwei ganz unterschiedliche Bilder vom selben Ereignis? Aber warum zeigen sie unterschiedlich verletzte Körperregionen? Müssen wir alternativ davon ausgehen, dass ein Bild ein Symbolbild ist und das andere ein Dokumentarfoto?
Faktisch, auch das soll nicht unerwähnt bleiben, gibt es sogar noch ein drittes Foto, das wiederum den beiden anderen punktuell widerspricht: Hier sieht man tiefe Brüche in der Leinwand, während sich die Schnitte über den ganzen Körper verteilen. Es passt noch am ehesten zum zweiten Bild, weicht aber in Details von ihm ab. Alle drei Bilder werden wie Fotos behandelt. Das ist etwas mysteriös. Es zeigt, wie schwierig es ist, selbst unstrittige Vorgänge zu bewerten. Am plausibelsten scheint mir angesichts der Vehemenz der Aktion das dritte Foto zu sein. Das erste Bild dürfte eine Pressemontage sein, die imaginativ „annährungsweise“ vorgegangen ist, das zweite gibt die Situation als Gesamtbild aufgrund des dritten Originalfotos wieder. Es gibt auch noch Illustrationen zum Geschehen.
In der Zwischenzeit sind andere Fragen anhand solcher Kunstwerke diskutiert worden. Heute diskutieren manche darüber, ob das Publikum nicht grundsätzlich vor derartigen ‚sexistischen‘ Werken geschützt werden müsse (vgl. hier und hier) und die Argumente sind nicht besser geworden, nur dass wir die Werke nicht mehr zerstören, sondern sie abhängen und ins Depot verbannen oder symbolisch mit Kartoffelbrei oder Torten bewerfen. Viel mehr Einsicht in die Bedeutung von Kunst kann man daraus aber nicht erkennen.
Abschließen möchte ich mit dem warnenden Hinweis, mit dem Claudia Mäder ihren entsprechenden Artikel in der NZZ beendet:
Vor allem aber sollte jeder, der sich heute in die Tradition der prominenten Suffragetten stellt, deren Geschichte bis zum Ende verfolgen. Während Emmeline Pankhurst zur nationalistischen Kriegstreiberin wurde und Männer, die keine Uniform trugen, als Feiglinge verachtete, landete Mary Richardson bei den Faschisten. 1932 trat sie der British Union of Fascists bei, ab 1934 führte sie die Frauensektion der Partei. Nach eigenem Bekunden ist es der Mut zur Tat gewesen, der die Frau, die 1914 einen Velázquez aufschlitzte, zwei Jahrzehnte später an den Schwarzhemden faszinierte. (Quelle)
Gibt es eine globale Tendenz, vor Eröffung einer Ausstellung nicht nur die Inhalte auf politische Korrektheit zu überprüfen, sondern auch die Haltung der Künstler:innen und Kurator:innen zu untersuchen?
In der FAZ schreibt Konstantin Akinscha über die Absage der 9. Moskauer Kunstbiennale unter dem Titel „Szenografie der Gefühle“. Nun ist eine derartige staatliche Zensur-Maßnahme in Zeiten eines russischen Angriffs-Krieges vielleicht gar nicht so überraschend, interessanter sind da schon die Begründungen, die Akinscha erwähnt:
„Die Absage der Moskauer Biennale war kein Einzelfall. Die Behörden verboten Dutzende von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Außerdem führten sie ein neues Zensursystem ein. Früher beruhte die Ausstellungserlaubnis auf der Beurteilung der für diese ausgewählten Werke. Heute müssen die Organisatoren die schwarzen Listen mit unerwünschten Künstlern konsultieren, deren Werke unabhängig von ihrem Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden dürfen.“
Und irgendwie hatte ich da ein Déjà-vu. Das hatte ich in diesem Jahr doch schon einmal gehört und gelesen? Kann es also wirklich sein, dass ein totalitäres System wie Russland einem demokratischen System wie der Bundesrepublik Deutschland strukturell doch ähnlicher ist, als man vermuten möchte – zumindest im Umgang mit Kunst-Ausstellungen? Denn das war es doch, was in den vergangenen zehn Monaten in Deutschland gefordert wurde: dass die Veranstalter und die sie fördernden staatlichen Institutionen nicht nur die für die Ausstellung ausgewählten Werke vorab kontrollieren sollten, sondern – und das ist hier viel gewichtiger – dass die Organisationen nach vorab aufgestellten Listen unerwünschter Künstler:innen und Kurator:innen entscheiden sollten, wer an Kulturveranstaltungen teilnehmen darf und wer nicht. Die Liste in Deutschland trug die Überschrift: Welche Haltung hat X zur Organisation BDS? Es scheint, als liege nur wenig zwischen dem russischen Zugriff auf die Kunst und der deutschen Infragestellung der Kunstfreiheit. Auch bei uns wird gegen alle grundgesetzlichen Bestimmungen gefordert, der Kunst Fesseln anzulegen. Nur das mit dem Verbieten klappt noch nicht so recht.
Kann sich Landesbischof Kramer bei seiner Übersetzung der Bergpredigt zu Recht auf den Pazifismus berufen? Die Vulgata sagt ja!
Colt Peacemaker
Auf Zeitzeichen.net kommentiert Redakteur Philipp Gessler unter der Überschrift „Isolierter radikaler Pazifist“ die Predigt und die späteren Synodenauftritte des Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, der für eine stärkere Beachtung pazifistischer Haltungen in den gegenwärtigen Krisen eintritt. Aber Gessler macht das nicht in einer Form, die Darstellung und Kommentar sauber trennt, sondern er nimmt bereits in der Beschreibung Wertungen vor. Er schreibt:
„Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ So übersetzt der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Friedrich Kramer, eine zentrale Seligpreisung Jesu in der Bergpredigt. … Das kann man eine freie Interpretation nennen – oder Chuzpe. Denn Kramer stützt mit dieser theologisch ziemlich freihändigen Übersetzung seine Position in der Friedensfrage.
Das suggeriert, es wäre sozusagen eine private Übersetzung des Landesbischofs. Dagegen, so betont Gessler später in seinem Kommentar, stünde in der griechischen Bibel etwas anderes, wie ja auch in der Lutherbibel erkenntlich sei: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Nun steht von Friedensstiftern auch nichts im griechischen Text, dort heißt es Μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί, was man dann wohl eher mit Friedensmacher oder für Freunde des heutigen Amerika auch schön westernmäßig mit Peacemaker übertragen könnte. Und Frieden machen kann man mit vielen Mitteln – mit dem Colt, aber auch mit dem Pazifismus. Denn Kramer kann für seine Übersetzung, die keinesfalls eine freie, dreiste oder unangemessene Übersetzung ist – auf eine ältere christliche Tradition verweisen, älter zumindest als die Lutherbibel, nämlich die Übersetzung der Vulgata: „beati pacifici quoniam filii Dei vocabuntur“ heißt es dort. Und da haben wir die Pazifisten wieder mit im Boot. Von einer freihändigen oder gar dreisten Übersetzung (Chuzpe = jiddisch für „Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit, Unverschämtheit“) kann also keine Rede sein, es sei denn, man wollte den katholischen Glaubensgeschwistern auch noch schnell eins auswischen. In der christlichen Übersetzungsgeschichte sind die Pacifici gut belegt. Noch im Wörterbuch der Gebrüder Grimm schwingt das nach. Dort wird als sprachlicher Bezug für friedfertig auf das lateinische pacificus verwiesen.
Den weiteren Tenor des Kommentars von Gessler würde ich als eine nur leicht getarnte Form der versuchten Gesinnungskontrolle bezeichnen, etwa wenn Kramer vorgeworfen wird, bei seiner Meinung zu bleiben. Dass Kramer damit in der Evangelischen Kirche allein stehe, wie der Text insinuiert, ist lächerlich. Er mag unter den Synodalen damit nicht auf Gegenliebe stoßen, die oft genug in der Synode auch Parteipositionen vertreten. Aber in der gesamten evangelischen Bevölkerung dürfte es wohl anders aussehen. Damit bekommt Kramer noch nicht Recht, aber er vertritt immerhin einen Teil des Protestantismus und vor allem auch jene friedensorientierten Kirchen, die Kriegsbeteiligung grundsätzlich ausschließen. Und der Ökumeneredakteur Gessler sollte doch auch diese Kirchen aus dem protestantischen Ordo auf dem Schirm haben.
Schon wieder wurden zwei Kunstwerke bzw. ihre Rahmen attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya.
Goya und die beiden Mayas
Schon wieder wurden zwei Kunstwerke attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya im Prado in Madrid. Allmählich werden die Attacken zu einem Who is Who der Kunstgeschichte. Mit den Inhalten der Bilder hat es nichts zu tun, bloß mit ihrer Prominenz. Von Goya gibt es ja zum Anliegen der Letzten Generation durchaus passende Werke, etwa aus der schwarzen Serie „Saturn verschlingt seine Kinder“. Aber darum geht es wohl nicht. Es ist ein dummer Angriff auf die Kulturgeschichte der Menschen, ein Angriff, der die Kunstwerke nicht als Argumente im gesellschaftlichen Diskurs begreift, sondern als wohlfeile Ziele zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit.
Puzzlesteine zum Stand der Digitalisierung in Kirche und Bildung
Es sind immer wieder kleine Puzzlesteine, die einen ins Nachdenken bringen. Nachdem Anne Gidion zur Bevollmächtigten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union geworden war, beschrieb ein Kollege sie als „Lobbyistin der EKD“ bei der Bundesregierung und bei der EU. Das ist sie wohl nicht, denn sie leistet dort Seelsorge und bespricht mit den Regierungen und Verwaltungen die gemeinsam interessierenden Fragen. Allenfalls könnte man sie als ELD-Diplomatin bezeichnen, aber selbst das finde ich unangemessen. Das zweite, was der Kollege bemerkte war, dass Anne Gidion zu wenig auf Twitter aktiv sei. Ist das das Kriterium für heutige Theolog:innen, dass sie auf dem Netzwerk aktiv sind, in dem massenwirksam gehetzt, gemobbt und gefaked wird? Ich hatte gedacht, 2022 wäre das Jahr, in dem die Menschen aus Twitter aussteigen, weil es mit dem Gewissen unvereinbar ist, dort vertreten zu sein. Twitter sei, so las man es gerade in der FAZ, ein „Laden, der zu nichts anderem da ist als zur suchterzeugenden Fabrikation, Vervielfältigung und Weiterverarbeitung finster-klebriger Erregungsschmiere.“ Nicht erst seit Elon Musks Übernahme der Firma und der öffentlichkeitswirksam vollzogenen Bewillkommnung des Antisemiten Kanye West sehe ich nicht, wie man Twitter-Engagement zum Kriterium für Theolog:innen machen kann.
Dann kam jene Studie, die feststellt, dass die christlichen Influencerinnen entgegen den vollmundigen Ankündigungen gerade keine Menschen außerhalb der kirchlichen Blase erreichen können, sondern im Wesentlichen die mit der Kirche Hochverbundenen. Und nun? Keine Rettung der Kirche durch Digitalisierung, sondern nur eine bessere Binnenbindung im Ghetto? Das hätte man erwarten können, nur würde man gerne wissen, was daraus nun folgt.
Und schließlich veröffentlichte der NRW-Philologenverband eine Studie, die sich mit der Digitalisierung in der Bildung beschäftigt und zu dem ernüchternden Ergebnis kommt, es handele sich im Wesentlichen um ein Top-Down-Unternehmen von fachfremden Interessenverbänden und wenig pädagogischer Substanz. Da klingelte es mir ein wenig in den Ohren. Hatte ich Analoges nicht vor Jahren zur Digitalisierung in der Kirche geschrieben? Eine Top-Down-Unternehmung von Digital-Enthusiasten mit wenig theologischer Substanz? Ich meine ja (hier und hier). Aber das stieß auf heftigen Protest. Inzwischen ist es stiller geworden an der Digitalisierungsfront, von den erhofften Erfolgen hört man nichts, es herrscht das von mir erwartete weiße Rauschen.
Ralf Meisters Vorschlag einer sofortigen und endgültigen Zerstörung der sog. Wittenberger Judensau sollte unterstützt werden.
Bildersturm in einer Kirche. Dirck van Delen, 1630
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hat sich für die Entfernung und Zerstörung der „Judensau“ an der Fassade der evangelischen Stadtkirche Wittenberg ausgesprochen. „Man sollte sie nicht nur entfernen, sondern radikal vernichten, zerstören und kaputt machen“, sagte Meister am Sonntagabend in der Marktkirche in Hannover. Dies sei der richtige Umgang mit einer fehlgeleiteten, vernichtenden Ästhetik
Ralf Meister hat recht. Anders als ich es noch 2016 meinte, als ich das Thema zum ersten Mal im Magazin für Theologie und Ästhetik erörterte, reicht es nicht, die schreckliche Plastik an der Wittenberger Stadtkirche nur zu entfernen und sie in ein Museum zu stellen. Sie muss zerstört werden. Das macht aber nur Sinn, wenn dieser ikonoklastische Akt, dieser Bildersturm, der er ja nun einmal ist, als solcher bewusst geschieht und auch im Bewusstsein gehalten wird. So wie der reformatorische und vor allem der reformierte Bildersturm sich im Bewusstsein erhalten hat (leider etwas anders, als es die Initiatoren beabsichtigt hatten). Wir müssen uns in ebenso symbolischen wie archaischen Gesten (und das ist ein solcher Bildersturm) von einer Ausdrucksform lösen, die böse bis in das letzte Element ist. Es geht dabei überhaupt nicht darum, den christlichen Antijudaismus und den protestantischen Antisemitismus aus dem Gedächtnis zu löschen, sondern ganz im Gegenteil, durch einen ikonoklastischen Akt im Gedächtnis zu verankern. Der byzantinische Bilderstreit, der reformatorische Bilderstreit sind Belege dafür, dass das gelingen kann. Die Konsensgesellschaft sucht nach moderaten Lösungen, die niemandem wehtun, aber letztlich die Beleidigten permanent weiter verletzen. Wenn wir die Skulptur in Wittenberg als wirkmächtig ansehen, dann müssen wir dem auch begegnen. Natürlich verhindert man keinen Antisemitismus, indem man eine antisemitische Skulptur zerstört. Aber man schafft einen ikonischen Akt, der zeigt, dass der Judenhass ein zu bekämpfendes Element unserer Gesellschaft ist. Und das erreicht man nicht, indem man freundlich oder meinetwegen auch betroffen mit einer Texttafel erklärt, wie es den bedauerlicherweise zu 6 Millionen toten Juden gekommen ist, wozu dieses Objekt seit 800 Jahren seinen Beitrag geleistet hat.
Für die Beibehaltung des Objekts spräche, wenn man der Meinung wäre, dass der Antijudaismus weiter tief in der lutherischen Kirche verwurzelt wäre, wenn also die Entfernung der Skulptur einen identitätspolitischen Schaden bei der Gemeinde anrichten würde. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es genau darum geht: deutlich zu machen, dass die Abkehr vom Judentum zur eigenen Identität gehört. Und das nicht nur historisch.
Das andere ist, dass das Prozedere ja merkwürdig ist. Der Beleidigende entscheidet darüber, ob die Beleidigung an seinem Gebäude hängend bleibt, während nicht auf die die beleidigten Juden in Deutschland (und das sind nicht irgendwelche Wissenschaftler in Israel) gehört wird.
Es scheint nun doch etwas anderes zu sein, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk zeigt oder eine deutsche Kirchengemeinde.
Es ist nun doch etwas anderes, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk früherer Zeiten zeigt oder eine deutsche Kirchengemeinde. Die einen werden gezwungen, ihr Kunstwerk abzuhängen, weil kein Kommentar das Schmähwerk in seinem beleidigenden Charakter mindern kann, die anderen verweisen darauf, dass Kunstwerk und Kommentar eben zu ihrer Geschichte, also zu ihrer Identität im identitätspolitischen Sinn gehören. Und da haben sie vermutlich Recht. Bis heute gehört fatalerweise auch visueller Antisemitismus zur deutschen Identität. Wenn das angesichts öffentlicher Debatten etwas heikel wird, stellen wir einen Kommentar daneben, mit dem wir uns vom Antisemitismus im Bild distanzieren, lassen es dann aber wohlgemut als Kunstwerk hängen. Als ob ein Kommentar die Wirkmacht von Bildern brechen könne. Da sollte man aus der Kirchengeschichte etwas mehr gelernt haben. Die Wittenberger behaupten, sie hätten aus der Geschichte gelernt und gerade deshalb wollten sie die antisemitische Schmähplastik nicht entfernen, sondern direkt vor Ort kontextualisieren. Offen gesagt: ich glaube ihnen nicht. Ich halte ihre Kontextualisierung für ein Lippenbekenntnis, das folgenlos bleibt.
Die Wittenberger Kirche erweist sich – durchaus in der Tradition Martin Luthers – als Sammelstelle antijüdische Visualisierungen. Und sie hat ein gutes Gewissen dabei, weil sie sich ja vom Antisemitismus distanziert. Sie sagen: Wir haben nichts gegen Juden, aber Antijudaismus gehört nun einmal zu unserer Geschichte und das wollen wir zeigen.
Die documenta fifteen stellt uns ganz konkret die Frage: können wir noch Abendmahl feiern unter einem Bild, das Juden herabsetzt? Geht das nach der Kriteriologie, die wir in Kassel zur Anwendung gebracht haben? Ich könnte es nicht. Jeder Gottesdienst in der Wittenberger Stadtkirche vor dem Altarwerk von Lukas Cranach ist Gotteslästerung, weil es nicht möglich ist, im liturgischen Vollzug zwischen dem kulturgeschichtlichen Werk, vor dem man feiert, und dem liturgischen Bild, das zum Ritus gehört (es ist schließlich ein Altarbild) zu unterscheiden.
Natürlich kann man, wie das einige jüdische Kommentatoren vorgeschlagen haben, die Wittenberger Stadtkirche musealisieren und den Wittenberger Antijudaismus zum Demonstrationsobjekt am historischen Ort machen. Nur fragt sich, wie eine christliche Gemeinde damit umgeht, dass sie nun nicht mehr Gottesdienst feiert, sondern Kulturgeschichte vergegenwärtigt. Darin sehe ich ein religiöses Problem.
Was bedeutet es, wenn eine Tierschutzorganisation mit einer Einkaufstasche wirbt?
Und schon wieder erreicht mich ein Bettelbrief, dieses Mal von der Initiative „Vier Pfoten“.
Der Hund des Tobias – gemalt von Leonardo da Vinci
Der Streuner namens Puca steht exemplarisch für alle Tiere der Welt, die der menschlichen Hilfe bedürftig sind und deshalb wird eine Spende erbeten. Und sozusagen vorausgreifend wird ein Dankeschön für die kommende Spende beigelegt – eine Einkaufstasche.
Ich war mir nicht sicher, wo der Zusammenhang zwischen Tierhilfe und Einkaufstasche liegt, bis ich mich an Darstellungen aus der Kunstgeschichte erinnerte, die sich dem Buch Tobit widmeten und den Erzengel Raphael zusammen mit Tobias und seinem Hund zeigten. Das sind Darstellungen, bei denen Tobias einen Fisch an Stelle einer Einkaufstasche trägt.
Der Fisch des Tobias – gemalt von Leonardo da Vinci
Und das macht es ja nicht unplausibel, hier einen Zusammenhang zu sehen. Tierhilfe mit Hilfe von Einkaufstaschen. Allerdings musste im Fall des Tobias der Fisch geopfert werden, um dem Vater zu helfen, der zu erblinden drohte. Aber zumindest der Hund scheint überlebt zu haben. Die Tasche jedenfalls, die mir „Vier Pfoten“ proleptisch schenkt, ist praktisch. Das hat mich überzeugt. Und sie kommt sogar ohne die heute anscheinend obligaten Aufschriften und Logos aus. Das zumindest sollte eine Spende wert sein.
Heute bekam ich wieder einen dieser Briefe, die sich angesichts der kommenden Weihnachtszeit häufen, und die die Adressaten um Spenden angehen für Benachteiligte in der ganzen Welt. Heutzutage sind diese Briefe immer gefüllt mit Geschichten von ganz schrecklichen Lebensverhältnissen bestimmter in der Regel mit konkreten Namen bezeichneter Menschen. Der Appell an das Mitleid ist eine feste Größe dieser Schreiben.
Aber darüber will ich gar nichts Negatives sagen, die Arbeit vieler dieser Initiativen ist gut und unterstützenswert. Nur ihr Marketing lässt manchmal zu wünschen übrig. Die Christoffel Blindenmission ist schon früher durch merkwürdiges Werben aufgefallen. Im Interesse der Sache – dem Einwerben von Spenden – ist jedes Argument recht. Dieses Mal war es der Briefumschlag, der mich störte:
Ist es wirklich notwendig, zur Generierung von Spenden für die Notleidenden der Welt, den Hunger gegen das Wissen auszuspielen? Ich glaube nicht. Das Argument lautet, die Kinder seien zu hungrig, um zu lernen. Das mag ja sein, aber dann muss man doch nicht das Wissen durchstreichen. Ich weiß, es geht in der Werbung um den ‚gesunden Biss‘, das zur Formel verknappte Argument. Aber in diesem Fall nervt mich das.
Und dann sind wir im Deutschen hungrig nach Bildung und durstig nach Wissen, so jedenfalls legen es die im Duden belegten Substantive Wissensdurst und Bildungshunger nahe. Nur wären das nicht mehr so schöne Slogans gewesen.
In der Regel werden so auf Briefen entweder nicht entwertete Briefmarken oder falsche Adressen durchgestrichen. Wissen ist hier unzustellbar soll gesagt werden, weil das Geld für das Essen fehlt. Dagegen würde ich dann doch mit dem alten und neuen Testament daran festhalten, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein.