Robert Reich: Die zehn Gebote des Widerstands

Robert Reichs Aufruf zum Widerstand gegen ungerechte Verhältnisse

Man ist doch immer wieder überrascht, wie weit entwickelt die Widerstandsbewegung in den USA ist und wie verkümmert sie bei uns in Deutschland ist. Bei uns reicht es, wenn 100.000 auf die Straße gehen, um gegen rechts protestieren, aber damit ist noch keinem der von den Rechten Bedrängten geholfen. Ganz anders und ganz pragmatisch geht dagegen der frühere Arbeitsminister der USA, Robert Reich, vor, der auf seiner Website „Zehn Wege, Trump zu widerstehen“ veröffentlichte. Ich nenne sie in der Folge seine 10 Gebote, weil mir das theologisch naheliegender ist. Sein Eröffnungsbild ist die amerikanische Flagge, die aber wie Erdschollen in der Sonne unter der Hitze ausdunstet und zerbricht.

Robert Reichs erstes Gebot lautet: Schützen Sie die anständigen und hart arbeitenden Mitglie-der Ihrer Gemeinschaften, die keine Papiere besitzen oder deren Eltern keine Papiere besitzen. Das hört sich so selbstverständlich an, aber ist es ganz und gar nicht. In Deutschland unterstützt der allergrößte Teil der Gesellschaft die Abschiebung derer, die keine ausreichende Legitimation haben. Die Aufforderung, gerade sie zu schützen, ist daher etwas Besonderes.

Sein zweites Gebot lautet: Schützen Sie die LGBTQ+-Mitglieder Ihrer Gemeinschaft. Trump könnte das Leben für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queers und andere Menschen durch Durchführungsverordnungen, Gesetzesänderungen, Änderungen der Bürgerrechtsgesetze oder Änderungen bei der Durchsetzung solcher Gesetze erheblich erschweren. Noch(!) ist diese Gruppe in unserer Gesellschaft durch staatliche Maßnahmen nicht so gefährdet wie in den USA, aber es ist wichtig daran zu denken und darauf vorbereitet zu sein.

Sein drittes Gebot lautet: Helfen Sie mit, Beamte in Ihrer Gemeinde oder Ihrem Bundesstaat zu schützen, gegen die von Trump und seiner Regierung zur Rache angestiftet wird. Bei einigen handelt es sich vielleicht um Beamte der unteren Ebene, wie z. B. Wahlhelfer. Wenn sie nicht über die Mittel verfügen, sich rechtlich zu verteidigen, können Sie ihnen helfen oder eine Go-Fund-Me-Kampagne in Erwägung ziehen. Wenn Sie von jemandem hören, der ihnen schaden will, alarmieren Sie sofort die örtlichen Strafverfolgungsbehörden.

Sein viertes Gebot lautet: Beteiligen Sie sich oder organisieren Sie Boykotte von Unternehmen, die das Trump-Regime unterstützen, angefangen bei Elon Musks X und Tesla sowie allen Un-ternehmen, die bei X oder auf Fox News werben. Unterschätzen Sie nicht die Wirksamkeit von Verbraucherboykotten. Unternehmen investieren viel in ihre Markennamen und den damit verbundenen Goodwill. Laute, lautstarke, aufmerksamkeitsstarke Boykotte können den Marken-namen schaden und die Aktienkurse der Unternehmen senken. Das wäre ein höchst dringlicher programmatischer Ansatz in Deutschland, konkret gegen Diskriminierung vorzugehen.

Sein fünftes Gebot lautet: Unterstützen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten Gruppen, die gegen Trump prozessieren. In Deutschland wären das jene Gruppen, die gegen die AfD aufstehen und gegen sie prozessieren. Das zumindest erfüllen die Protestierenden auf unseren Straßen.

Sein sechstes Gebot lautet: Verbreiten Sie die Wahrheit. Besorgen Sie sich Nachrichten aus zuverlässigen Quellen und verbreiten Sie sie. Wenn Sie hören, dass jemand Lügen und Trump-Propaganda verbreitet, einschließlich lokaler Medien, widersprechen Sie ihm mit Fakten und den entsprechenden Quellen. Und dann nennt er eine Reihe von Quellen, denen er vertraut. Auch das wäre für Deutschland ein interessanter Punkt: welchen Medien können wir vertrauen?

Sein siebtes Gebot lautet: Fordern Sie Freunde, Verwandte und Bekannte auf, Trump-Propaganda-Sender wie Fox News, Newsmax, X und zunehmend auch Facebook und Instagram zu meiden. Sie sind voll von hasserfüllter Bigotterie und giftigen und gefährlichen Lügen. Manche Menschen können diese Propagandaquellen auch süchtig machen; helfen Sie den Men-schen, die Sie kennen, sich von ihnen zu entwöhnen. Gilt nicht nur in den USA, sondern überall.

Sein achtes Gebot lautet: Setzen Sie sich für fortschrittliche Maßnahmen in Ihrer Gemeinde und Ihrem Staat ein. Lokale und staatliche Regierungen haben nach wie vor große Macht. Schließen Sie sich Gruppen an, die Ihre Stadt oder Ihren Staat voranbringen, im Gegensatz zu den regressiven Maßnahmen auf Bundesebene. Betreiben Sie Lobbyarbeit, organisieren Sie und sammeln Sie Spenden für fortschrittliche Gesetzgeber. Unterstützen Sie progressive Politiker.

Sein neuntes Gebot lautet: Ermutigen Sie die Arbeiter zu Aktionen. Die meisten Gewerkschaf-ten stehen auf der richtigen Seite – sie wollen die Macht der Arbeitnehmer stärken und sich gegen Unterdrückung wehren. Sie können sie unterstützen, indem Sie sich an Streikpostenket-ten und Boykotten beteiligen und die Beschäftigten in den Betrieben, die Sie besuchen, ermuti-gen, sich zu organisieren. Auch das gilt weltweit.

Sein zehntes Gebot lautet: Behalte den Glauben. Geben Sie Amerika nicht auf. Denken Sie daran, dass Trump die Volksabstimmung mit nur 1,5 Punkten Vorsprung gewonnen hat. Nach al-len historischen Maßstäben war das eine knappe Angelegenheit. Im Repräsentantenhaus haben die Republikaner mit fünf Sitzen den geringsten Vorsprung seit der Großen Depression. Im Se-nat haben die Republikaner die Hälfte der für 2024 anstehenden Senatswahlen verloren, darunter in vier Staaten, die Trump gewonnen hat. Den Kampf optimistisch angehen: Wir schaffen das!

Und am Ende fügt Robert Reich hinzu: Achten Sie bitte darauf, dass in Ihrem Leben auch Platz für Freude, Spaß und Lachen ist. Lassen Sie sich nicht von Trump und seiner Finsternis vereinnahmen. Genauso wie es wichtig ist, den Kampf nicht aufzugeben, ist es von entscheidender Bedeutung, auf sich selbst aufzupassen. Wenn Sie von Trump besessen sind und in den Kaninchenbau der Empörung, Sorgen und Ängste abtauchen, werden Sie nicht in der Lage sein, weiter zu kämpfen. Mit Wolf Biermann gesungen:„Du lass Dich nicht verhärten in dieser harten Zeit, die allzu hart sind, brechen, die allzu spitz sind, stechen und brechen ab sogleich …“

Man müsste nun überlegen, was das Pendent dafür in unserer Gesellschaft wäre, was die EKD oder die DBK auf ihren Seiten programmatisch zu sagen hätte – nicht um Parteipolitik zu betreiben, sondern um die Gefährdeten und die Benachteiligten zu schützen und den Gläubigen klar zu machen, dass die Aufforderung zur Gnade, die die Bischöfin Budde an Donald Trump richtete, eben auch eine Aufforderung ist, die an jeden einzelnen Christen geht.

Text und Applikation

Ein lehrreiches Beispiel, wie Juristen mit dem Wort „Gnade“ umgehen

In der legendären Reihe “Poetik und Hermeneutik” gab es die Ausgabe „Text und Applikation“, die sich mit der je unterschiedlichen Hermeneutik von Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft auseinandersetzte. Theologen zeigten, wie sie die Paradieserzählung auslegten, Juristen besprachen ihre Hermeneutik am Fall Mephisto und Literaturwissenschaftler diskutierten über ihre Annäherung an Paul Valéry. Aber die Beteiligten schärften ihre Hermeneutik auch jeweils am fachfremden Gegenstand: also am theologischen Text, am juristischen Fall und dem Werk des Literaten. Die Grenzüberschreitungen sind meines Erachtens immer außerordentlich hilfreich. Und tatsächlich sind es diese drei Fachwissenschaften, an denen ich mich auch persönlich am stärksten orientiere. Wenn ich etwas lese, frage ich mich, was würden Theolog:innen, was würden Jurist:innen und was würden Literaturwissenschaftler:innen dazu sagen?

Daran wurde ich erinnert, als ich ein kurzes Video des Medienanwalts Jun sah, in dem er sich in juristischer Perspektive mit dem Wort Gnade auseinandersetzte, also jenes Wort, das in der Predigt im Gottesdienst nach der Amtseinführung von Präsident Trump eine Rolle spielte. Dabei war ja zunächst einmal auffällig, dass die Bischöfin keineswegs einen theologischen Gebrauch des Wortes „Gnade“ machte, sondern einen alltagssprachlichen. „In der Alltagssprache begegnet das Wort Gnade bzw. gnädig, um eine menschliche Verhaltensweise zu charakterisieren: gütig, wohlgesinnt, nachsichtig, mild, gönnerhaft, verzeihen, erbarmen“ (Ev. Kirchenlexikon, Art. Gnade). Und genau das erbat die Predigerin vom direkt adressierten Staatsoberhaupt: Sich menschlich zu verhalten. Insoweit ist dies noch keine spezifisch theologische Rede. Sie wird dies erst, wenn man es vor dem Hintergrund der Theologie sieht (also etwa einer Zwei-Reiche-Lehre oder von Barmen V oder dem anglikanischen Verständnis von Staat und Kirche), wenn diese der Kirche ein Wächteramt gegenüber dem Staat einräumt. Insoweit sich Trump mit dem Besuch des Gottesdienstes unter das Wort Gottes begibt, wird eine sinnvolle Lesart daraus.

Juristisch, auch darauf verweist das Kirchenlexikon, begegnet uns die Gnade in der „Begnadigung“ eines Menschen bzw. in der Formel, man müsse in gewissen Fällen „Gnade vor Recht“ ergehen lassen. Theologisch wäre die Rede von der Gnade, wenn sie die Beziehung zwischen Gott und Mensch betrifft und die liebende und rettende Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf beinhaltet. Darum ging es in der Ansprache an Trump aber nicht (oder nur indirekt an der Stelle, an der sie die von ihm so interpretierte Gnade Gottes bei der Verschonung seines Lebens beim gescheiterten Attentat als implizite Aufforderung ansah, nun auch selbst Gnade anzuwenden).

In der Sache sagt die Predigerin aber nur das, was auch viele Humanist:innen oder viele Philosoph:innen gesagt hätten. Ihre Brisanz bekommen ihre Worte aber durch den Resonanzraum, in dem sie gesagt wurden, dem Resonanzraum der von der Kirche verkündeten Gnade Gottes.

Die Frage des Medienanwalts Jun in seinem instruktiven Video lautete: Was ist das juristische Komplement für das Wort „Gnade“, also das, was die Bischöfin Budde für die Migrant:innen, die Ausgestoßenen, die Queeren einforderte. Und er meint mit guten Gründen, dass man die geforderte Gnade mit der Forderung nach der Wahrung der Menschenwürde vergleichen müsse. Exakt darum geht es.

Und das nicht nur, weil wir Theolog:innen reklamieren, dass die Idee der Menschenwürde ursprünglich eine jüdische und damit biblische Idee ist. Gnade kommt den Menschen zu, weil sie Gottes Ebenbilder sind. Das begründet ihre Menschwürde, die niemand ihnen nehmen kann und darf, kein Staat, kein Herrscher, kein US-Präsident. Die säkularisierte Gnade findet sich in vielen Gesetzen des Völkerrechts, in den Erklärungen der Menschenrechte, in staatlichen Verfassungen.

Mir geht es an dieser Stelle gar nicht so sehr um das Video von Jun (das ich jedem ans Herz lege), sondern um die Frage, woher es kommt, dass angesichts der Rede der Predigerin in Washington, Theolog:innen in eine Art schwärmerische Heldinnenverehrung verfallen, während es Nicht-Theologen gelingt, das Gesagte und Gemeinte konstruktiv in ihre Sprache zu übersetzen. Bis dahin hatte ich auf Bluesky Kommentare von Kolleg:innen gelesen, die die Bischöfin als Prophetin glorifizierten, lange über ihren Stil nachdachten, ihre Sprechweise, die medialen Referenzen und über all dem das Anliegen vergaßen, das sie ja in ganz säkularer Sprache artikuliert hatte: den Menschen ihr Recht auf Menschenwürde zukommen zu lassen. In diesem Falle gilt jedoch – anders als in der Kunst -: nicht das Wie, sondern das Was ist das Entscheidende.

Wir haben im Protestantismus (und nur über den kann ich sprechen) eine elende, um nicht zu sagen widerwärtige Art der Personalisierung – im Guten und im Schlechten geht es immer ad hominem. Während wir doch aus der ForuM-Studie lernen müssten, dass wir künftig keine Überhöhungen des Pfarramtes mehr kultivieren sollten, machen wir – wenn es uns nur in den Kram passt – genau das: wir machen eine Theologin zu einem herausgehobenen Menschen, ja zu einer Prophetin. Das finde ich falsch, es ist um es scharf zu formulieren Theologie im Verblendungszusammenhang, eine Theologie, die sich der Aufmerksamkeitsökonomie unterwirft. Wir sollten aber lernen, uns mit unserer jeweiligen Hermeneutik der Sache zuzuwenden und schauen, ob und wo wir zu Überschneidungen mit den Überzeugungen anderer Menschen kommen.

Heroisierungen helfen uns da nicht wirklich weiter. Und der Verweis auf die Figur der Prophetin auch nicht. Die Differenzierung zwischen richtigen und falschen Propheten ist eine a posteriori. Wer aus dem Konflikt verschiedener prophetischer Schulen am Ende als Sieger hervorgeht, wird zum wahren Propheten, der sich zurecht von Gott beauftragt sieht. Eine Nummer kleiner wäre besser. Freuen wir uns, dass jemand das Selbstverständliche getan hat: Menschlichkeit zu zeigen und zu fordern.

Nachtragendes und Tröstliches

Warum es manchmal besser ist, nicht durch Schreiben berühmt zu werden.

In ihrem im vorherigen Post angesprochenen Text klagt Angela Rinn darüber, dass bei einem Lagerbrand ein guter Teil ihrer Buchauflage bei der EVA verbrannt sei und wohl auch nicht mehr aufgelegt würde. Das brachte mich dazu, einmal bei der Deutschen Nationalbibliothek nachzuschlagen, welche ihrer Bücher denn heute schon digital zugänglich sind und daher den Flammen weitgehend unzugänglich. Und siehe da, es sind nicht wenige. Die Deutsche Nationalbibliothek hat ja bei den Buchmeldungen die Rubrik „Andere Auflagen“ und da wird verzeichnet, wie es um Digitalisierungen steht.

Der andere Weg wäre natürlich in den berühmten Schattenbibliotheken des Internets zu stöbern, ob jemand nicht Werke von Angela Rinn gescannt und so (illegalerweise) der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt und damit ihr Wissen geteilt hat. Auch wenn die deutschen Netzbetreiber das zu unterbinden suchen (im Augenblick meldet der Provider beim Aufruf der Library Genesis immer aufgrund einer in Deutschland geltenden DNS-Sperre „Seite wurde nicht gefunden“), so funktioniert das dennoch ohne größere Umwege und man wird auch fündig (17 Download-Angebote), wenn auch nicht mit ihren Werken bei der EVA. Aber auch so bleibt Literatur erhalten und geht nicht unter. Raubkopien nannte man das in den 68er-Jahren und es war durchaus üblich.

Nachzutragen wäre zudem, dass die bürgerliche Klage vom Verlust des Buches zu vergleichen wäre mit Platons Klage über den Verlust der Oralität durch die Hinwendung zur Schriftlichkeit. Platon meinte, „Geschriebenes sei nicht zur Wissensvermittlung geeignet, sondern nur als Gedächtnisstütze nützlich, wenn man den Inhalt bereits verstanden hat. Das Schreiben sei nur ein mangelhaftes Abbild des Redens. Der geschriebene Text scheine zu sprechen, aber in Wirklichkeit ‚schweige‘ er, denn er könne weder Verständnisfragen beantworten noch sich gegen unberechtigte Kritik zur Wehr setzen. Auf die individuellen Bedürfnisse des Lesers könne er nicht wie ein Gesprächspartner eingehen. Weisheit lasse sich daher auf diesem Wege nicht vermitteln“ (Zusammenfassung nach der Wikipedia). Soweit zum Nach(zu)tragenden.

Nun aber zum Tröstlichen: Angela Rinn sorgt sich um den Nachruhm, den Schreibende und Publizierende ja anstreben und der verloren gehe, wenn niemand mehr ihre Bücher lese. Ja, das ist so. Man bleibt heute als Massenmörder länger im Gedächtnis als fast jeder Autor. Aber das hat auch etwas Tröstliches, wenn wir an eine der für mich schönsten Geschichten von Arno Schmidt denken. Fasziniert hat mich die Erzählung zunächst in Zeiten, in denen ich selbst noch gar nicht oder doch nur wenig publizierte. Mit der Zeit wurde meine Haltung ambivalenter, denn nun gehörte ich ja auch zu den Publizisten, die von der geschilderten Handlung in der Erzählung betroffen waren. Kenner:innen werden wissen was ich meine: Tina oder über die Unsterblichkeit.

Nicht nur Homer kannte sich aus mit der Unterwelt. Auch Arno Schmidt, knapp 3000 Jah-re später, hat seinen Lesern zu einem Blick ins Jenseitige verholfen. Sein Elysium liegt geradewegs unter Darmstadt, und wie bei Homer im Hades wollen auch die Seelen in Schmidts Erzählung, allesamt mehr oder weniger bekannte Dichter, nichts wie weg. Lei-der steht dieser Sehnsucht der im Diesseits so hartnäckig angestrebte Ruhm im Weg. Denn es gilt die Regel: »Jeder ist so lange zum Leben hier unten verdammt, wie sein Name noch akustisch oder optisch auf Erden oben erscheint.« Der Maler und Graphiker Eberhard Schlotter hat die so witzige wie bitterböse Satire auf den Dichter-traum von der Unsterblichkeit mit 25 Radierungen illustriert. Und Text wie Bild lassen keinen Zweifel: Nicht die Unsterblichkeit kann das Ziel sein, sondern das gnädige Vergessen: »endlich in Ruhe tot sein«!

Soweit der Klappentext des Buches. [Nicht verschwiegen werden sollte an dieser Stelle, dass es von Arno Schmidt eine Gegengeschichte mit Goethe gibt, aber die lasse ich einfach mal beiseite.] Es kommt mithin auf die Perspektive an. Wenn man so lange in den Limbo verdammt ist, wie noch eine einzige Zeile aus Publikationszeiten bekannt ist, dann ist es vielleicht besser, die Buchkultur nicht allzu sehr zu schätzen und zu pflegen, denn dann verlängert man automatisch den Aufenthalt im Purgatorium (das übrigens durch einen Aufzug in einer Litfaßsäule in Darmstadt zugänglich sein soll).

Ein Bücherbrand auf Erden löst in diesem Purgatorium immer einen Freudentaumel aus. Endlich wieder ein paar Dichter-Seelen frei, endlich wieder ein paar Bücher weniger, endlich Hoffnung auf ein anderes Leben. Eine Doktorarbeit über die Biografie oder das Werk von Autor:innen löst dagegen im Gegenzug Entsetzen und Verzweiflung aus. Schon wieder Hunderte von Universitätsbibliotheken, die das in ihre Archive aufnehmen müssen und dem Vergessen entgegenwirken. Es ist sozusagen das auf den Kopf gestellte „Publish or perish“: Publish and perish! Wenn das all unsere Nachwuchs-Wissenschaftler:innen wüssten, denen nichts wichtiger ist, als durch eine Vielzahl von peer-reviewten Texten zu glänzen. Aber die lesen vermutlich auch keine Texte von Arno Schmidt, sondern schreiben fleißig weiter ihre Bücher und Aufsätze und verlängern so den Aufenthalt im Purgatorium.

Der Ruhm, so meine ich jedenfalls, sollte der dargestellten Sache, der Erkenntnis, dem prophetischen Satz selbst zukommen – nicht unbedingt dem Urheber als solchem. Das scheint mir ein Überbleibsel des Geniekults zu sein. Aktuell wäre ein Beispiel dafür jene Bischöfin, die etwas menschlich ganz Selbstverständliches in einem Gottesdienst sagt. Und plötzlich geht es nur noch um die Person als Heldin oder Prophetin im Gegenüber zu einer anderen Person und nicht um die Auseinandersetzung mit der Theologie des von ihr Ausgeführten. In Deutschland wäre jetzt über die Zwei-Reiche-Lehre und über Barmen V zu sprechen und kein Personenkult zu betreiben – auch wenn ich mich natürlich auch über ihre Intervention gefreut habe.

Prediger 12, 12 oder die Bibliothek zu Babel

Ein Plädoyer, bei Büchern und beim Schreiben mehr Digitaltät zu wagen – mit einer Ausnahme.

Ich lese gerade Angela Rinns Klage auf z(w)eitzeichen darüber, dass der Wert der Bücher in Zeiten der Digitalität zu sinken scheint: „Leibhaftiges Gedächtnis. Über den Wert von Büchern und Bibliotheken in der digitalisierten Welt“. Sie hat an einem Buch über Gedächtnis mitgearbeitet und fragt, welche Halbwertszeit dieses Buch wohl hat, wenn man überlegt, dass immer mehr Menschen nur noch auf das zugreifen, was digital zugänglich ist.

Als Autor kann ich diese Klage gut nachvollziehen. Das publizierte Buch ist ein Fetisch im eigenen Leben. Ich habe einen Schrank, der nur den von mir publizierten Texten in Büchern und Zeitschriften vorbehalten ist und dieser Schrank ist ganz programmatisch ein Bücherschrank, den ich von meinem Großvater übernommen und nun mit eigenen Elaboraten gefüllt habe. Diese Bücher (und dieser Schrank) haben einen elementaren Wert – für mich.

Dennoch übereigne ich Monat für Monat einen halben Regalmeter meiner sonstigen Bibliothek dem Altpapiercontainer, schlicht deshalb, weil die Bücher für den Augenblick geschrieben waren und deshalb überholt sind, weil sie auf kein Interesse bei Antiquariaten stoßen oder aus Themengebieten stammen, die mich temporär vor Jahren einmal interessiert haben und heute und auch künftig nicht mehr. Andere Bücher habe ich inzwischen digitalisiert zur Hand und kann wesentlich besser damit arbeiten, als wie in früheren Zeiten mich durch die Seiten zu quälen.

Ich bin also kein Buch-Fetischist – mit einer Ausnahme: die Andere Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger, von der ich über 300 Bände besitze, ist tatsächlich ein Buch-Fetisch für mich. Aber nicht wegen etwaiger Inhalte (so spannend sie auch sind), sondern weil ein Großteil von ihnen noch mit Bleisatz gedruckt wurde. Und wenn man schon von Büchern schwärmt, dann doch bitte von diesen. Wo die Fingerkuppen noch den einzelnen Buchstaben folgen können, wo Lesen noch dreidimensional erfolgt und nicht wie im Computersatz sich im Zweidimensionalen erschöpft. Diese Bücher – samt all den anderen die ich aus der Zeit zwischen 1700 und 1930 habe, kann ich nicht durch Digitalität ersetzen. Hier geht es weder um Gedächtnis, um Wissen oder Poesie, sondern um Haptik.

Und dennoch bin ich im letzten Vierteljahrhundert – wie all die jungen Leute um mich herum – zu einem Menschen des Digitalen geworden. Das Stöbern in alten Büchern, an die ich nie in meinem Leben gekommen wäre, die nun aber digitalisiert zugänglich geworden sind, war einfach faszinierend (Vom besonderen Vergnügen, alte Texte zu lesen).

Manchmal kaufe ich mir dann nachträglich ein solch leibhaftes Objekt (oder lasse es mir schenken), einfach weil ich mit den Fingern durch die mit Bleisatz bedruckten Seiten blättern möchte. Um die Argumente zu begreifen würde mir jedoch eine digitale Ausgabe genügen.

Ansonsten habe ich mich für das Digitale entschieden. Ein Grund dafür ist tatsächlich Kohelet 12, 12: Zu guter Letzt, meine Schülerin, mein Schüler, lass dich warnen: Das viele Büchermachen findet kein Ende, und viel Studieren ermüdet den Leib. Die Fülle der Bücher nimmt einfach nicht ab, sondern steigert sich von Jahr zu Jahr. Und die wenigsten Bücher lese ich noch von Anfang bis Ende. Da ist es viel besser, sie digital zur Verfügung zu haben, sie auf Stichworte durchforsten zu können und Zitate per Cut & Paste in die eigene Arbeit aufzunehmen.

Leibhaft – um das Stichwort von Angela Rinn aufzugreifen – sind mir nur noch bibliophile Bücher wichtig, Bücher, die mit einem offenen Rücken gebunden sind, Bücher und Hefte, die in Kleinstauflagen gedruckt sind, Bücher und Hefte, die mit Originalgrafiken versehen sind. Das lässt sich nicht digitalisieren. Ich habe mir gerade im Zürcher Antiquariat eine Ausgabe von Spektrum – internationale Vierteljahresschrift für Dichtung und Originalgrafik Zürich gekauft. Sie besteht exklusiv aus Lyrik und originalen Grafiken. So etwas zu publizieren ist heute undenkbar oder unbezahlbar. Und es ist ein Vergnügen, das Heft überhaupt nur hier auf dem Schreibtisch liegen zu sehen und ab und an darin zu blättern.

Und dennoch. Wer Bücher und Bibliotheken sagt, muss als literarisch Kundiger natürlich sofort an „Die Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges denken, 1941 geschrieben. Ein Lobpreis der Bücher (auch der scheinbar sinnlosen) und zugleich voller Weitsicht und Einsicht. An einer Stelle seiner Erzählung gibt es aber eine Fußnote und die lautet so:

„Letizia Alvarez de Toledo hat angemerkt, dass die ungeheure Bibliothek überflüssig ist; strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestünde. (Cavalieri sagte zu Anfang des Jahrhunderts, dass jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Flächen ist.) Die Handhabung dieses seidendünnen Vademecums wäre nicht leicht; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete teilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.“

Ich frage mich, ist das Internet, sind die digitalen Welten nicht genau das: ein einziger Band be-stehend aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter, gefüllt mit einer unendlichen Zahl von Texten, von denen ein Großteil unverständlich bleibt, dem man aber immer wieder neue Textfragmente entringen kann? Ob dieses eine Buch, die digitale Bibliothek von Babel noch eine Mitte hätte, wäre demgegenüber sekundär. Es wäre nur eine metaphysische Spekulation.

Als ich mich mit Freunden und Freundinnen vor 28 Jahren entschied, die Zeitschrift tà katoptrizómena nicht als gedruckte Zeitschrift zu konzipieren, sondern als digitale, da standen mir all diese Debatten um den Schatz und Nutzen der gedruckten Bücher vor Augen. Ich war mir aber auch im Klaren darüber, dass – wenn es um die Idee des geteilten Wissens geht – Bücher immer auch der Distinktion dienten. Digitalität kann das unterlaufen – muss es aber nicht. Open Access ist mit Printbüchern nur bedingt möglich – im Internet aber leichter zu realisieren. Sollte einmal eine Neutronenbombe das digital gespeicherte Wissen auf einen Schlag vernichten, dann wäre es, als hätte es nie existiert. Dieses apokalyptische Restrisiko muss ich eingehen.

Innerhalb nur eines Jahres 2 Mio. Antisemit:innen weniger in Deutschland

Wenn die Zahlen aus statistischen Erhebungen nur noch der Propaganda dienen.

Eine Schlagzeile wie die obige wird man in der deutschen Presse nicht finden, auch wenn sie zutreffend ist. Aber sie passt nicht ins Bild derer, die von gegenteiligen Meldungen profitieren. Mit besorgter Miene meldet sich der Lautsprecher Felix Klein und teilt der Bevölkerung mit, dass der Antisemitismus in Deutschland geringfügig zurückgegangen sei, weltweit aber auf dem höchsten Stand sei: „Negative Stereotype über Juden sind einer Befragung zufolge weltweit so verbreitet wie nie“.

Fangen wir mit Letzterem an: Was meint „wie nie“? In den letzten 80 Jahren, in den letzten 150 Jahren, in den letzten 2000 Jahren? Man weiß es nicht und er sagt es auch nicht. Tatsächlich meint er die letzten 10 Jahre (sic!), denn erst seit 2014 erhebt die ADL den Antisemitismus-Index. So aber entsteht der Eindruck, der weltweite Antisemitismus sei schlimmer als im 19. Jahrhundert, schlimmer als zur Zeit des Nationalsozialismus. Und doch wissen wir alle: das ist er keinesfalls. Aber mit Superlativen arbeiten manche Politiker gerne. Und sie kümmern sich nicht darum, ob die Daten der ADL Globalerhebung überhaupt valide Daten sind, sie lesen sie einfach als Fakten vor. Wer wird das schon nachprüfen?

Ich habe es getan und kann nur sagen, ich halte die Ergebnisse der aktuellen Ausgabe für überaus fragwürdig und unsolide. Befragt wurde 58.000 Menschen in 103 Ländern. Wenn man davon ausgeht, dass nur über 18-Jährige befragt wurden und nicht alle Länder der Erde untersucht wurden (wohl aber die bevölkerungsreichsten), dann müssten die Befragten für 4.780.000.000 Menschen repräsentativ sein. Da scheint mir die Zahl von 58.000 Befragten etwas gering zu sein, um verlässliche Ergebnisse zu bekommen oder man nimmt eine Fehlerquote über 10% in Kauf.

Für Deutschland sind die Ergebnisse nun so, dass 2024 9% der Befragten manifest antisemitische Haltungen haben. Ein Jahr zuvor hatte dieselbe Institution mit derselben Methodologie noch 12% an antisemitischen Haltungen erhoben. Das scheint (wenn die Daten verlässlich sind) auf den ersten Blick keine große Differenz zu sein, ist es aber doch. Die Zahl der Antisemiten ist innerhalb eines Jahres um 25% zurückgegangen. Das kann man als Erfolg verbuchen – es sei denn, man verdankt sein Amt den permanenten Warnungen vor steigendem Antisemitismus.

Noch deutlicher wird das Ganze, wenn man es in Bevölkerungszahlen umrechnet. Befragt werden Deutsche über 18 Jahre. In Deutschland leben knapp 70 Millionen Menschen, die älter als 18 sind. Wenn von 2023 bis 2024 der Prozentanteil von 12% (= 8,4 Mio.) auf 9% (= 6,3 Mio.) zurückgeht, minimiert sich die Zahl der Antisemiten um 2,1 Millionen Menschen. Die verbleibenden 6,3 Mio. Antisemit:innen können zwar in diesem Jahr umso aggressiver und gewalttätiger sein, das ändert aber nichts daran, dass der Antisemitismus (nicht aber die Zahl der antisemitischen Aktivitäten) zurückgeht. Man sollte nun meinen, dem Antisemitismusbeauftragten wäre eine solche Erfolgsmeldung recht: Aber aus unerfindlichen Gründen ist sie das nicht – wobei so unerfindlich ist das nicht. Im Augenblick verschärfen wir zahlreiche Gesetze unter Verweis auf einen angeblich steigenden Antisemitismus, da wären entgegenstehende empirische Befunde gar nicht erwünscht.

Nun aber zur Solidität der Erhebungen des ADL. Ich habe in der Vergangenheit auch regelmäßig auf deren Publikationen und Daten zurückgegriffen, nicht zuletzt, weil sie mir auch plausibel erscheinen. Das ist dieses Mal freilich nicht der Fall. Es gibt derartig eklatante Abweichungen, dass sie rational nicht mehr erklärt werden können. Entweder haben die Daten in früheren Erhebungen nicht gestimmt oder die Daten aus der aktuellen Erhebung sind falsch. Dann kann man aber keine Rückschlüsse auf steigenden oder sinkenden Antisemitismus ziehen.

Ein Beispiel: Das Land, das 2014 vor allen Ländern mit der geringsten Antisemitismusquote herausstach war Laos. Unter den etwa 7,5 Mio. Menschen gab es, folgt man den Daten der ADL, gerade einmal 0,2% manifest antisemitisch Denkende. Das konnte damit erklärt werden, dass a) keine Juden in Laos leben und b) Laos ein buddhistisches Land mit religionstoleranter Haltung ist. 2024, nur 10 Jahre später, offenbart die ADL-Erhebung eine ganz andere Lage. Nun sind mit 45% fast die Hälfte aller Bewohner:innen manifest antisemitisch. Das ist eine sagenhafte Steigerung von 22400% (zweiundzwanzigtausendvierhundert Prozent). Kein Statistiker der Welt wird das für seriös halten. Innerhalb von 10 Jahren soll also das Land mit der geringsten Antisemitismusquote zu einem Land mit einer überdurchschnittlich hohen Antisemitismusquote geworden sein? Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Nehmen wir ein weiteres Land, die Philippinen. Sie waren 2014 jenes Land, mit der zweitgeringsten Antisemitismusquote weltweit. Nur 3% der Bevölkerung dieses katholischen Landes zeigte derartige Einstellungen. Nur 10 Jahre später sollen es 42% sein, eine Steigerung von 1300%. Das ist statistisch völlig unglaubwürdig. Entweder stimmen die Daten von 2014 nicht oder die von 2024. Ähnliches gilt auch für die Zahlen von Vietnam, Tansania oder Uganda. So-lange das nicht aufgeklärt und korrigiert ist, sind keine ethischen und politischen Schlussfolgerungen aus dieser Erhebung möglich.

Wenn die anderen Daten stimmen sollten, könnte man aber vielleicht nicht nur auf das Negative schauen, sondern auch auf das Positive: in Qatar, im Iran, im Irak und auch in Marokko ist der Antisemitismus z.T. deutlich zurückgegangen. Im Iran gäbe es 6 Mio. weniger Antisemiten, im Irak 4 Mio. und in Marokko immerhin noch 2,6 Mio. Das sind gerade in Zeiten eines Nahost-Konflikts doch überraschend positive Meldungen. Aber davon wird man nichts hören.

Und noch etwas: in Zeiten, in denen der Bundestag und die Interessenvertreter:innen immer wieder Resolutionen verabschieden oder fordern, die in die Schulen und Hochschulen eingreifen, wäre es doch auch gut darauf hinzuweisen, dass der Antisemitismus in dieser Altersgruppe der geringste ist und darüber hinaus auch abnimmt, je höher die Bildung ist. Stattdessen müsste also in Erwachsenenbildung investiert werden und eine konsequente Zielgruppenorientierung durchgeführt werden.

Ich bin es jedenfalls leid, mit Zahlen aus nicht begriffenen oder evtl. falsch erhobenen statistischen Erhebungen hinters Licht geführt zu werden. Das ist unseriös, so lässt sich keine Politik machen. Wer Antisemitismus bekämpfen will, sollte nicht mit fragwürdigen Zahlen arbeiten.

Ein bisschen Spaß muss sein – oder: Die fetten Kühe von Baschan

Warum muss man mit Taylor Swift Gottesdienste veranstalten? Eine moralinsaure Kritik aus ökologischen und theologischen Gründen.

Vor mehr als 50 Jahren sang Roberto Blanco ein Lied, in dem er meinte, mit ein bisschen Spaß sei die ganze Welt voll Sonnenschein und dann komme das Glück von ganz allein. Man frage nicht nach Zeit und Geld, schlicht deshalb, weil es einem so gefällt. Ich weiß nicht, ob es damals schon Schlager- oder Popmusik-Gottesdienste gab, aber mentalitätsmäßig hätte es natürlich gepasst. Das sagen wir uns in den Gottesdiensten ja auch immer: ein bisschen Spaß muss sein.

An Roberto Blancos Lied musste ich denken, als ich die Nachrichten vom Taylor-Swift-Gottesdienst las. Ich weiß nicht, ob man die Künstlerin zu den von Amos am Anfang des vierten Kapitels seines Buches erwähnten stolzen Frauen zählen kann, aber sie ist denen näher, als man glauben mag. Unter allen Pop-Künstler:innen ist Taylor Swift die mit der schlechtesten Öko-Bilanz, nur noch übertroffen von jenen Protagonisten dieser Welt, die sich im Neuen Amerika zusammengetan haben, um die Welt zu beherrschen (Donald Trump, Bill Gates, Elon Musk). Und diese ökologische Bilanz geht zu Lasten der Ärmsten dieser Welt, sie müssen den Preis dafür bezahlen durch die Vernichtung ihrer Lebenswelten.

Ich hatte vor einigen Jahren kritisiert, dass in einem Chrismon Spezial Werbung für Kreuzfahrtreisen nach Alaska gemacht wurde und hatte einmal zusammengerechnet, dass die Reisenden dabei auf einer dreiwöchigen Reise allein für die Verkehrsmittel pro Person 7,7 Tonnen CO² verbrauchen. Das wären für Taylor Swift freilich nur Peanuts, damit gibt sie sich nicht ab. Allein im Januar 2024 verbrauchte sie für Kurzstreckenflüge mit ihren Privatjets 67 Tonnen CO². Ein bisschen Spaß muss sein, da ist die Welt voll Sonnenschein und das Glück kommt von ganz allein. „Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein, du und ich wir stimmen ein, schön ist es auf der Welt zu sein“ (Roy Black und Anita Hegerland).

Das jedenfalls müssen sich auch jene gedacht haben, die einen Gottesdienst unter der musikalischen Ägide der kulturindustriellen Produkte von Taylor Swift ankündigten. Das ist ja der Kern der christlichen Botschaft: „Dann segnete Gott [die Menschen], indem Gott zu ihnen sprach: »Seid fruchtbar, vermehrt euch, füllt die Erde und bemächtigt euch ihrer. Zwingt nieder die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und alle Tiere, die auf der Erde kriechen.«

Ich will nicht allzu moralinsauer reagieren [eigentlich aber schon], aber man hat doch den Verdacht, dass bei dieser Art der Gottesdienste eben nicht auf die Kompatibilität der Botschaft, sondern auf die Attraktivität der Sängerin für die angezielte Kundschaft geschielt wird. Es gibt genügend popkulturelle Lieder in den letzten 40 Jahren, die in einem herausragenden Sinn kom-patibel zum Christentum sind und nicht nur von Herzschmerz handeln. Leonard Cohen etwa mit dem großartigen „Halleluja“, Madonna mit „Like a prayer“, REM mit „Losing my religion“, Metallica mit „Until it sleeps“, Billie Eilish mit „All the good girls go to hell“. Und es wären hunderte wei-tere zu nennen. Taylor Swift gehört definitiv nicht dazu – sie ist schlicht nur populär. Natürlich wäre es angemessen gewesen, nicht nur die Musik von Taylor Swift zu performen, sondern auch Eintrittsgeld in Höhe ihrer Konzertkarten zu nehmen, das begänne mit etwa 112 Euro und ist bei einem halben Tausender für VIP-Karten noch nicht am Ende. Das wäre doch eine Idee. Und dann könnten sich die kirchlichen Veranstalter:innen angemessene Dienstfahrzeuge gönnen, so wie Taylor Swift ihre beiden Privatflugzeuge.

Taylor Swift ist unbestritten eine der großen Pop-Künstlerinnen dieser Tage. Sie ist eine Kultfigur (auch darum geht es in Amos 4) und sie fesselt die Menschen. Sie ist ein Aushängeschild der Kulturindustrie und wird von den Medien mit geradezu magischen Kräften versehen: nur ein Wort von ihr und Kamala Harris wird die kommende US-Präsidentin. Ja, eine falsche Prophetie. Taylor Swift ist jedoch ganz sicher keine Prophetin des Christentums, sie ist das Gegenteil. Mit den Worten Adornos: Religion wird hier zum Warenartikel. „Sie wird billig vermarktet, um einmal mehr einen sog. irrationalen Stimulus unter vielen anderen zu liefern, mit dem die Mitglieder einer berechnenden Gesellschaft berechnend dazu gebracht werden, die Berechnung unter der sie leiden zu vergessen. Das ist Religion a la Hollywood, noch bevor die Industrie sich hier engagiert hat.“

Die Tendenz zu kulturindustriell präfigurierten Gottesdiensten, zur Religion als Ware im Unterhaltungssegment beobachten wir schon länger. Sie ist durchgehend instrumentell motiviert. Aber was will man noch verkündigen, wenn die Mittel, die man zur Werbung einsetzt, der zu verkündigenden Botschaft diametral widersprechen? Taylor Swift produziert kulturelle Massenware, die Heilige Schrift ist – obwohl massenhaft verbreitet – ein Teil der Hochkultur. Sie ist nicht auf raschen Konsum angelegt, nicht auf Twitter-Verkürzungen, nicht auf die Befriedung der Menschen. Sie gehört nicht zum Brot-und-Spiele-Management der Herrschenden. Das vergessen jene, denen es auf möglichst viele Besucher:innen, auf religiöses Clickbaiting ankommt. Aber mit Roberto Blanco: Aber ein bisschen Spaß muss sein – und da muss die Botschaft vom Kommen Gottes auf die Erde (und auch die sozialkritische Botschaft von Amos) hinten anstehen.

Ein gutes Neues Jahr 2025!

wünscht das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik seinen Leser:innen

mit einem Bild von einem Feuerwerk, das eine über 500jährige Tradition hat: La Girandola. Begonnen wurde diese Tradition eines Feuerwerks über der Engelsburg in Rom bereits Ende des 15. Jahrhunderts. Mitgewirkt haben soll in den Anfängen zunächst Michelangelo, dann Bernini. Es wurde auch an Silvester gefeiert, vor allem aber am Tag von Petrus und Paulus am 29. Juni.