Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi im Gespräch über die Juden im Koran und in der Perspektive muslimischer Gesellschaften.

Ourghi, Abdel-Hakim (2024): »Eine heikle Angelegenheit«. Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft. In: Jüdische Allgemeine, 07.01.2024.

Online verfügbar unter https://www.juedische-allgemeine.de/politik/eine-heikle-angelegenheit/

Staatsräson und Grundrechte

Unter dem Pseudonym Clara Neumann schreibt eine Autorin über die aufbrechenden Konflikte zwischen angemahnter Staatsräson und den in der Verfassung garantierten Grundrechten.

Clara Neumann (Anonym) (2023): Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten: Auf dem Weg zu einer präziseren Antisemitismusdefinition.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/das-spannungsverhaltnis-zwischen-staatsrason-und-grundrechten/

Majetschak,Louise; Cemel, Liza (2023): IHRA-Definition als ‚Diskursverengung‘? Replik auf Clara Neumann.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/ihra-definition-als-diskursverengung/ .

Ambos, Kai; Barskanmaz, Cengiz; Bönnemann, Maxim; Fischer-Lescano, Andreas; Goldmann, Matthias; Mangold, Anna Katharina et al. (2023): Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung. Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht-eine-rechtliche-beurteilung/.

Theologische Debatte

Albrecht Grözinger beobachtet und kommentiert den aktuellen Kampf der theologischen Lager und legt seine Sicht der Sachlage vor.

Grözinger, Albrecht (2023): Oberlicht und Bodenhaftung | Anmerkungen zur theologischen Diskussion um die KMU 6. In: Zeitzeichen : evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/10864

Rechtsfragen

Was ist Recht und was ist Unrecht bei den Ereignissen in Israel und bei den Diskussionen zum Thema Naher Osten?

Ab und an ist es ganz gut, von Juristen auf den Boden der (Rechts-) Tatsachen geholt zu werden. Es ist ja das eine, was einem das das eigene, oft durch Moral bestimmte (Rechts-) Gefühl sagt, was man in der konkreten Situation des Nahost-Konflikts sagen darf bzw. sollte und was nicht, was man bekunden kann und was strafbare Billigung von Straftaten wäre. Da ist es gut, wenn Experten einem die Sachlage erläutern. Zu diesen Experten zählt unbestritten der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer. Auf Legal Tribune Online gibt es eine Kolumne, die sich „Eine Frage an Thomas Fischer“ nennt, und in der er aktuelle Fragen des Rechts und der Rechts-Kultur erörtert. Aktuell lautet die Frage „Ist der Jubel über Terror strafbar?“ Ich empfehle seine Darlegungen sehr zur Lektüre. Sein Fazit lautet:

1. Das Bejubeln von konkreten bzw. von hinreichend konkretisierbaren Tötungsdelikten der „Hamas“-Miliz in Israel ist nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar.
2. Die öffentliche Verbreitung der Parole „from the river to the sea / Palestine will be free“ ist im konkreten Bedeutungszusammenhang nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar. …
3. Allgemeine „Solidaritäts“-Bekundungen mit den politischen, humanitären oder rechtlichen Anliegen „der Palästinenser“ oder einzelner Gruppen von ihnen sind nicht strafbar, sondern unterfallen Art. 5 Abs. 1 GG. Entsprechende öffentliche Demonstrationen sind über Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art 2 Abs. 1 GG auch dann gerechtfertigt, wenn die dort vertretenen politischen Positionen einer Mehrheit der (deutschen) Bevölkerung abwegig erscheinen. Die palästinensische Flagge ist kein Kennzeichen der Organisation Hamas und daher nicht nach § 86a StGB strafbar.

Aus der Perspektive des Völkerrechts räumt Wolff Heintschel von Geinig im Gespräch mit der taz mit einigen auch von den Medien eifrig kolportierten Vorurteilen auf: „Es ist nach dem humanitären Völkerrecht nicht verboten, bei Angriffen gegen zulässige militärische Ziele auch Zivilpersonen oder zivile Objekte in Mitleidenschaft zu ziehen … Selbst hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung müssen also nicht per se rechtswidrig sein.“ Zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Aufforderung an die Bevölkerung, in den Süden zu gehen: „Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sagt, dass dieses Verbot nicht mehr gilt, wenn es der Sicherheit der betroffenen Zivilpersonen dient oder überragende militärische Gründe dies fordern. Und hier haben die Israelis gute Argumente auf ihrer Seite.“ Grundsätzlich aber gelte das humanitäre Völkerrecht aber für alle am Konflikt Beteiligten: „Das humanitäre Völkerrecht findet gleichmäßig auf alle Konfliktparteien Anwendung. Es kann nicht eine Konfliktpartei erklären, sich darum nicht mehr zu scheren, weil es der Gegner auch nicht tue.“

Zur Codeformel „Free Palestine“

Was meint jemand eigentlich, wenn er von „Free Palestine“ redet? Über die schrecklichen Implikationen einer politischen Formel.

Inzwischen mehren sich die Bekundungen mancher als prominent Geltender, die durch Tweets oder Fotos trotz der Gräueltaten der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung ihre Solidarität mit den Palästinensern bekunden. Sie machen das, indem sie sich auf die eine oder andere Art und Weise des Slogans „Free Palestine“ bedienen.

Direkt am zweiten Tag der verbrecherischen Angriffe der Hamas auf die Bewohner (und Gäste) Israels tat dies die Rapperin Nura auf Instagram, indem sie einen Screenshot aus ihrem neuesten Musikvideo postete, der sie und ihre Sänger:innen vor dem Slogan „Free Palestine“ zeigte. Das war eine empathielose Geste, im besten Fall war sie nur gedankenlos, viel wahrscheinlicher gerade im Blick auf die abgeschlachteten Opfer bösartig.

Der Fußballer Mesut Özil, der schon öfter mit merkwürdigen Stellungnahmen aufgefallen war, bittet am 13.10.2023 auf X unter dem Hashtag #FreePalestine um Frieden im Nahen Osten, und postet dabei eine Fotomontage, die ihn vor dem Felsendom vor den miteinander verschränkten Fahnen der Türkei und der Palästinenser zeigt – Israel kommt nicht (oder allenfalls in Gestalt eines Soldaten) vor. Das zeigt in welche Richtung das freie Palästina gedacht wird: frei von Juden und Israelis. Bei Özil kann nicht mehr von Unbedachtheit gesprochen werden, es ist die bewährte Agitation, die sich nur vordergründig als humanitäre Geste kaschiert. Schon die Ästhetik des Bildes ist pure AgitProp-Ästhetik allein im Dienst der palästinensischen Sache.

All das verweist darauf, dass wir uns nicht nur in einem militärischen Konflikt im Nahen Osten wiederfinden, sondern auch in einen weltweiten Krieg mit Bildern, Worten und vor allem Slogans verwickelt sind. Worte und Bilder werden zu Waffen, der humanitäre Impuls als solcher wird zweitrangig.

Ich möchte deshalb auf eine Analyse des Slogans „Free Palestine“ verweisen, eine Auslegung, die ich teile. Ich fand sie auf dem empfehlenswerten Blog „Chaims Sicht“. Dort veröffentlicht Chajm Guski regelmäßig des Nachdenkens werte Impulse. Im Blogbeitrag „Ein leeres Land?“ setzt er sich am 12. Oktober 2023 mit dem Slogan „Free Palestine“ auseinander. Und er macht das unter dem m.E. zutreffenden Teaser: „Manchmal muss man Dinge bis zum Ende denken, um zu verstehen, um was es eigentlich geht.“ Er fragt, wie muss man sich das denken mit dem freien Palästina? Wie geht das praktisch, wenn eine Zwei-Staaten-Lösung nicht angestrebt und von der Hamas auch explizit abgelehnt wird? Wovon befreit man das Land? Und er sagt zu Recht: die Hamas-Lösung besteht darin, die israelische Bevölkerung auszulöschen. Das ist Genozid. Die zweite „Lösung“ wäre die Rückkehr der Juden in die Länder, aus denen sie gekommen sind. Aber was heißt das? Rückkehr in die arabischen Länder, aus denen sie gewaltsam vertrieben wurden? Bekommen sie dann den Besitz zurück, so wie die Palästinenser den Besitz zurückfordern, den sie angeblich vor 1948 hatten? Wenn aber ein Teil der jüdischen Bevölkerung im Land verbliebe, wie würde man mit ihnen umgehen? So wie mit anderen minoritären Gruppen in den arabischen Ländern? Fragen über Fragen. Lesen Sie den ganzen Beitrag ….>

Rechtsästhetik

Gibt es so etwas wie „Rechtsästhetik“ und was hätte das für Folgen?

Bis heute war mir nicht bekannt, dass es so etwas wie „Rechtsästhetik“ überhaupt gibt und wozu es hilfreich sein könnte. Heute erfahre ich, dass es nicht nur einschlägige Bücher dazu gibt [Damler, Daniel (2016): Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken. Berlin: Duncker & Humblot], sondern dass es auch gute Gründe dafür gibt, sich damit zu beschäftigen. David Boss schreibt auf dem auch für Theolog:innen sehr empfehlenswerten Verfassungsblog über die rechtlichen Dimensionen von Metaphern in der öffentlichen Rede. Konkret: Kann jemand dafür bestraft werden, dass er / sie anderen vorwirft, sie hätten „Blut an den Händen“ obwohl dies ja „nur“ metaphorische Rede ist? Das ist eine spannende Frage. Und Boss zeigt, wie man sich auf einem hohen Niveau, das in den Alltagsdiskussionen von Kirche und Theologie selten anzutreffen ist, mit dieser Frage auseinandersetzt. Ich habe dabei viel gelernt. Er stellt einleitend fest: „Metaphern sind nicht nur rhetorisches Stilmittel. Sie sind auch ein bedeutender Teil der Rechtswirklichkeit.“ Und er zeigt sehr eindrücklich, inwiefern das zutrifft. Ich wünschte, ich hätte schon früher solche Diskussionen über die juristische Bedeutung von Metaphern kennengelernt, es ist auch für die theologische und kulturwissenschaftliche Arbeit sehr erhellend. Boss schreibt:

Die bildliche Wirkung einer Metapher ist nie nur passiv-rezeptiv, sondern immerzu auch aktiv-gestaltend: A stellt sich etwas vor und schafft mit einer Metapher davon gleichzeitig eine Vorstellung von etwas. B stellt sich unter der Vorstellung von As Metapher wiederum etwas vor und kreiert darauf aufbauend eine eigene Vorstellung. In ihrer Prägnanz ist die Metapher somit nie aussageartig „wahr“ oder „falsch“, wie es demgegenüber die juristische Subsumtion unter Begriffe vorgibt zu sein. Sie hat eine eigenständige Potenz.“

Was mir bei Boss wieder in Erinnerung trat, war der Umstand, dass Metaphern eine eigene Wirklichkeit konstruieren, mit der man umgehen muss. Metaphern sind nicht nur rhetorische Stilmittel, sondern mit ihrem Gebrauch verändert sich die Wirklichkeit auch, ohne dass man das mit wahr oder falsch kategorisieren kann.

Aber das ist erst der Anfang. Jetzt kommen erst die (rechts-)hermeneutischen Fragen. Dazu muss ich hier nichts schreiben, ich verweise einfach auf seinen Text:

Boss, David: „Blood On Your Hands“: Die rechtliche Dimension von Metaphern im Fall Zooey Zephyrs, VerfBlog, 2023/8/03,
https://verfassungsblog.de/blood-on-your-hands-2/,
DOI: 10.17176/20230803-104311-0

Ist ChatGPT ein Predigt-Generikum?

Darf Chat-GPT als Generikum verstanden werden, das die gleiche Wirkmächtigkeit wie eine menschliche Predigt entfaltet?

Rudolf Bohren („Dass Gott schön werde. Praktische Theologie als Ästhetik“) würde sich zwar im Grabe umdrehen. Dennoch: KIs Predigten schreiben zu lassen, macht innerhalb eines solchen religiösen Systems Sinn, das sich entschieden hat, der Predigt keine kreativen, keine poetische, keine neuen Bedeutungen generierenden Aspekte zuzuerkennen. Wer KI als Predigtgenerator (und nicht nur zur Arbeit an der Predigtsprache) einsetzt, gibt ein homiletisches Urteil über Form und Funktion der Predigt im Gemeindegeschehen ab, er begreift sie als Gebrauchstext.

Denn auch der Hinweis darauf, dass in der kirchlichen Praxis Predigten doch selten Kunstcharakter oder bestimmte poetologische Standards erreichen, geschieht ja in der Absicht, Predigten künftig als Gebrauchstexte zu qualifizieren. Aktuell halten wir jedoch an der regulativen Idee fest, dass Predigten mehr als bloß Werbetexte oder Gebrauchsanweisungen sind und seelsorgerliche Gespräche mehr als ein Anruf im Callcenter. Und auch Gottesdienste sind – bei aller durchaus rationalen Konstruktion der Liturgie – mehr als Verkaufsveranstaltungen. Wenn man an diesem Mehrwert zweifelt, wenn man Gottesdienste für überschätzt und Predigten als schlichte Textgattung der Wiederholung religiöser Texte in anderen Worten ansieht, dann sind freilich KI-gesteuerte autonome Systeme denkbar, die das personen-zentrierte religiöse System ablösen können (und sollten).

Die Debatten um den angeblichen von einer Künstlichen Intelligenz generierten Gottesdienst auf dem Ev. Kirchentag in Nürnberg (der in Wirklichkeit nur mit Hilfe von ChatGPT zustande kam und von einem theologischen Subjekt namens Jonas Simmerlein authentifiziert wurde und damit eben kein autonomes, künstlich-intelligentes und künstlerisches Geschehen darstellt), kreisen also um die Frage, ob wir in den christlichen Gemeinden zu einer sozialen Vereinbarung kommen können, wollen bzw. werden, welche die von der KI generierten Predigten als genuin religiöse Texte anerkennt, nicht zuletzt, weil sie die Wandlung der Predigt vom poetischen Text zum Gebrauchstext vorantreibt. Ein (noch kleiner) Teil der theologischen und kirchlichen Welt scheint dazu zu neigen.

Aber die Frage ist nicht einmal ansatzweise entschieden. Wie bei der Kunst bestimmen darüber ja nicht ein paar technologie-animistisch Denkende, sondern die soziale Gruppe, in diesem Fall die religiöse Gemeinschaft. So wie ich die Mehrzahl der heutigen Gemeinden einschätze, haben sie nichts dagegen, dass ihre Prediger:innen mit ChatGPT zur Vorbereitung der Predigt experimentieren. Das machen auch Künstler.innen und Schriftsteller:innen mit ihren Artefakten. Es dürfte aber kaum Common Sense sein (und wohl auch nicht werden), dass die Predigenden durch Algorithmen ersetzt werden oder auch nur ersetzt werden könnten.

Der soziale Prozess, der Predigen von einem poetischen Vorgang zu einem Gebrauchstexte produzierenden Vorgang umwerten könnte, ist jedoch kein voluntaristischer Akt, bei dem ein paar akademische Theolog:innen nun entscheiden könnten, künftig auf menschliche Predigende zu verzichten. Es gibt auch keine dafür legitimierte Kirchenleitung, die einfach entscheiden könnte, dass Predigten eigentlich nur Werbetexte für die Kirche seien und daher Predigende als Werbetreibende auch ebenso gut durch Algorithmen ersetzt werden könnten. Manche meinen, wenn man zeigen könne, dass Maschinen genauso gut predigen können wie Menschen (im Sinne des Wirkungsäquivalents), dann würde das Pendel zugunsten der Maschinen ausschlagen. Aber sie missverstehen, was eine soziale Vereinbarung ist.

Mit Karl Barth (KD IV/3, S. 995f.) lässt sich die essentielle Aufgabe und Funktion der Predigt zunächst dahingehend zusammenfassen,

„dass die Gemeinde sich (und so auch die mithörende Welt) in ihr ausdrücklich an das ihr aufgetragene Zeugnis erinnert, erinnern lässt, sich seines Inhalts aufs neue vergewissert, in seinem Reflex Jesus Christus selbst aufs neue zu sich reden, sich aufs neue zu seinem Dienst in die Welt aufrufen lässt.“ Dabei ist die Predigt zugleich auch „selbständig vollzogene Aussage und Erklärung des Evangeliums, selbständig gewagter evangelischer Anruf.“

Diesen Kriterien genügt eine KI-generierte Predigt sozusagen a priori nicht. Wer anderes behauptet, denkt in Modellen von Generika, wonach die Predigt ein Wirkstoff ist, der nach­gebaut werden kann. Im kulturellen Sektor entspricht genau das aber magischem Denken.

Ein Generikum oder Nachahmerpräparat ist ein Arzneimittel, das wirkstoffmäßig mit einem bereits früher zugelassenen Arzneimittel übereinstimmt. Von dem Originalpräparat kann sich das Generikum bezüglich enthaltener Hilfsstoffe und Herstellungstechnologie unterscheiden. Es unterliegt einer vereinfachten Zulassung, bei der auf Unterlagen des Originalpräparats zurückgegriffen wird … Ein Generikum soll dem Originalprodukt in dessen beanspruchten Indikationen therapeutisch äquivalent sein, d. h., es muss ihm in Wirksamkeit und Sicherheit entsprechen.

Wenn also technologisch generierte Texte sich quasi als wirkungsäquivalent zu den bisherigen Predigten erweisen, schließt man daraus, dass sie die (aufwendigeren) Ursprungstexte (also die menschlichen Predigten) ersetzen können. Exakt das ist das Modell der Generika. Und man muss überlegen, ob man sich diesem Modell anschließen will, auch wenn man es nun auf kulturelle Phänomene anwendet (Kulturwissenschaft wie Naturwissenschaft versteht). Es ist das alte mittelalterliche Modell, bei dem man Kranke erst vor den Isenheimer Altar schleppte, und erst wenn Heilung sich nicht einstellte, zum Arzt wechselte. Das war dingmagisches Denken – und das Ergebnis im Verlauf der Geschichte kennen wir. Heute gehen wir lieber gleich zum Arzt. Predigten sind eher im Sinn von poetischen Texten und der Interpretation poetischer Texte zu verstehen. Und daran sollten wir festhalten.

Und ChatGPT sprach …

Sollte man die Digitalisierung der Kirche vorantreiben oder doch lieber ein wenig Vorsicht walten lassen?

Ziemlich süffisant berichtet Linda Gerner in der taz über einen Gottesdienst durch eine Künstliche Intelligenz auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg. Die KI agiert ihr zu schnell und hektisch:

„Das Bekenntnis des Vater-Unsers, einer der Mitmach-Momente jedes Gottesdienstes, kam etwas unvermittelt. Und zack, ehe die letzten aufgestanden sind, ist es auch schon vorbei. Sofort geht es weiter mit dem nächsten Punkt des Gottesdienstes: Predigt, Gebet, Segen – alles programmiert.“

Wo die menschlichen Liturg:innen die Gemeinde mit ihren Reaktionen beobachten, spult die KI das vorgegebene Programm ab. Und wie soll sie auch wissen, wie schnell oder langsam in evangelischen oder katholischen Gemeinden Gebete gesprochen werden. Und in der Frage der Geschwindigkeit unterscheiden sich die Konfessionen durchaus. Man müsste die KI also noch in protestantischer Liturgie-Geschwindigkeit adressatenorientiert schulen.

„Inhaltlich rasselt die KI dann die Bibelstellen nur so runter. Bei der Geschwindigkeit fällt es schwer, über die einzelnen Sätze ernsthaft nachdenken zu können … Für eine echte Gottesdienst-Atmosphäre fehlt das gemeinsame Singen, es fehlt sogar das Orgelspiel. Denn die von der KI ausgewählte Musik, die mehrfach abgespielt wird, wirkt, so fasst es eine Frau später zusammen ‚einfach nur wie Fahrstuhlmusik‘“.

Die KI schlägt als Musik das vor, was sie als Common Sense empfindet. Olivier Messiaen war nicht zu erwarten – Karlheinz Stockhausen auch nicht. Aber der Gottesdienst wird von den Enthusiasten tapfer verteidigt. Normale Gottesdienste seien ja auch unvollkommen meint eine junge Theologin. Aber das ist der falsche Maßstab. Zum Vergleich müsste man die Gottesdienste auf dem Kirchentag heranziehen und da dürfte es schwerfallen, schlechte(re) zu finden. Überhaupt nicht deutlich wird aus dem Bericht der taz, worin die KI nun besser ist. Argumentiert wird mit Einsparpotentialen, aber dieses neoliberale Argument leuchtet mir nicht ein. Ist die Predigt also theologisch besser? Offenbar nicht. Die KI redet über sich selbst – was nur schlechte Pfarrer:innen tun. Ist vielleicht der synästhetische Gesamteindruck überzeugender? Offenbar auch nicht, es ist eine klassische Berieselung. So what?

„Und Gott sprach: »Zu wenig ist es, dass du in meinem Dienst stehst«.“

Am gleichen Tag lese ich in der Japan Times einen Text von George Soros über die Gefährdung der Demokratien der Welt durch die sog. Polykrise“. Als zentrale Herausforderungen sieht Soros primär die Entwicklung der KI, dann erst den Klimawandel und schließlich den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das ist ganz interessant, denn Soros steht nicht in dem Verdacht, durch seine Vorsicht in Sachen KI irgendwelche Unternehmensinteressen zu bedienen. Soros stimmt den Kritikern der KI zu, wenn sie befürchten, diese könne letztlich unsere Zivilisation zerstören. Das Problem sieht Soros darin, dass allen zwar einsichtig ist, dass die KI reguliert werden muss, die großen Blöcke dieser Welt (also die offenen im Kontrast zu den geschlossenen Gesellschaften) sich nicht darüber einigen können, in welche Richtung die Regeln gehen sollen. Und in diesem Fall kommt es zum unregulierten Einsatz der KI.

„Aber wir können uns einer Sache sicher sein: KI hilft geschlossenen Gesellschaften und stellt eine tödliche Bedrohung für offene Gesellschaften dar. Das liegt daran, dass KI besonders gut darin ist, Kontrollinstrumente zu entwickeln, die geschlossenen Gesellschaften helfen, ihre Untertanen zu überwachen.“

Soros‘ Überlegungen stehen in einem deutlichen Kontrast zu dem Enthusiasmus, mit dem in der Evangelischen Kirche das Projekt der Digitalisierung des Glaubens vorangetrieben wird. Hier liegt der Hauptfokus darauf, was man denn alles digitalisieren könne: das agierende Personal (durch Avatare), die Predigt (durch ChatGPT), die Liturgie (durch programmierte Abläufe). Aus irgendwelchen merkwürdigen Gründen legt man noch Wert darauf, dass die zu beglückenden religiösen Subjekte leibhaft präsent sind (vor dem Monitor oder in der Kirche) und nicht durch Maschinen substituiert werden. Von den der Technik inhärenten Kontrollmechanismen redet man nicht. Worin liegt die eigentümliche Faszination für manche, den predigenden Menschen durch Maschinen zu substituieren? Offenkundig liegt ein Grund darin, dass man mit der Botschaft selbst gar nichts mehr anfangen kann und sie deshalb formalisierten Prozessen überlässt. Vom eigentümlichen Reiz biblischer Texte, ihrer Situierung in der biblischen Lebenswelt und der heutigen bleibt wenig übrig. Die Maschine, darauf ist sie programmiert, interpretiert Texte im Sinne des wahrscheinlichsten Folgewortes. Paradoxe Interventionen, von denen die Bibel so reich gesegnet ist, sind ihr fremd. Ob ein Text ein biblischer Text ist oder eine Gebrauchsanweisung für Toaster ist ihr egal. Es ist Zeit, wieder mehr Günther Anders zu lesen.

Fehlgeschlagen

Ulrich H. Körtner zur Frage: Warum solidarisiert sich die EKD mit der Letzten Generation?

Auf z(w)eitzeichen finde ich gerade einen lesenwerten Artikel von Ulrich H.J. Körtner zu fatalen Solidarisierung von Vertretern der EKD mit den Aktivisten der „Letzten Generation“.

Körtner, Ulrich H.J. (2022): Die letzte Generation? 2022 solidarisierte sich die EKD-Synode mit Klimaaktivisten. Warum?
Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/10214

Körtner schreibt:

Jesus als geistiger Ahnherr der „Letzten Generation“, der seiner moralischen Pflicht Folge leistete. Das ist Gesetzlichkeit pur. Die neutestamentlichen Schriften stellen Jesus als den dar, der wie kein anderer Mensch in ungebrochener Beziehung und Willenseinheit mit Gott lebt und handelt und der am Ende seines Weges betet: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Den Willen des Vaters tun ist aber nicht mit einer moralischen Pflicht im philosophischen Sinne zu verwechseln. Jesus verkündigt die anbrechende Gottesherrschaft, nicht Moral.