Deutungsarbeit V

Über einladende und ausgrenzende Räume der Religion

Inkludierende und exkludierende Räume. Eine Bild-Montage

Ich habe hier einmal zwei unterschiedliche Tafeln des Wurzacher Altars, die aber Szenen zeigen, die am selben Ort spielen, mittels Photoshop zu einem Bild zusammenmontiert. Darin erkennt man viele der Details wieder, die ich in den vergangenen Tagen erörtert habe. Was mich nun interessiert, sind die unterschiedlichen Raumschließungen und Raumöffnungen auf dem Bild. Auf der linken Seite sehen wir eher das einfache Volk, von den Hirten bis zu den Bürgern, auf der rechten Seite die gehobenen Schichten, allen voran die Könige mit ihrem Gefolge. Meine Frage ist: Ist es ein Zufall, dass die einen durch einen Holzzaun auf Distanz gehalten werden, während die anderen durch das den Torbogen direkt zu Christus Zutritt haben: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …? Es ist ja auffällig, dass das Christentum die Könige zu Heiligen verklärt hat, während die primären Zeugen namenlos und ohne religiöse Auszeichnung blieben.

Ich weiß, dass es andere Weihnachtsbilder gibt, auf denen die Hirten auch zu Jesus vordringen, aber auf diesem konkreten Altarwerk ist es wohl bewusst anders dargestellt, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Räume des Religiösen sind nie egalitär. Normalerweise bezieht sich das aber weniger auf die Menschen, sondern auf den Raum als solchen. Religiöse Räume sind Heterotope, Anders-Orte, in denen der Rest der Welt unter religiösen Paradigmen reflektiert wird. Das Christentum ist aber seit frühen Zeiten auch eine Ständegesellschaft gewesen, bei der einige dem Heiligen näher sind und vor allem näherkommen dürfen als andere. Das wird auf dieser Bildmontage überaus augenfällig. Die Frage ist, ob sich das in der Moderne geändert hat, oder ob wir nicht immer noch diese Unterscheidung von den Nahen und Fernen machen.

Das Bild des Nikolaus und der ‚bekehrte‘ Jude

Zu einer antijudaistischen Erzählung aus der Legenda aurea zum Hl. Nikolaus.

Glasfenster zu einer erzählung vom Hl. Nikolaus, dessen Bild einen Juden zur Bekehrung bringt.
Glasfenster mit einer Nikolauserzählung

Wir neigen ja dazu, uns aus all den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählungen des Christentums nur jene herauszupicken, die uns heute noch unproblematisch erscheinen. Dagegen verschweigen wir schamhaft all die anderen, die aber doch auch in den gleichen Erzählzyklus gehören. Das gilt nicht nur für den Heiligen Martin, sondern auch für den Heiligen Nikolaus, den wir immer für seine Goldklumpen für die verarmte Familie feiern, aber nicht für seine dingmagische Herabsetzung von Juden kritisieren. In der Legenda aurea findet sich folgende Geschichte, die oben auf dem Glasfenster aufgegriffen und gebündelt wird:

Als ein Jude sah, welche Wunder die Macht des Heiligen (scil. Nikolaus) wirken konnte, ließ er sich ein Bild von ihm machen, stellte es in seinem Hause auf, und wenn er eine längere Reise vorhatte, anvertraute er ihm seine Habe, wobei er Drohungen folgender Art auszusprechen pflegte: «Siehe, Nikolaus, alle meine Dinge anvertraue ich deiner Hut! Solltest du nicht alles gut bewachen, werde ich mich an dir mit Schlägen rächen!» Als er nun wieder einmal abwesend war, kamen Diebe, raubten alles und ließen nur das Bild zurück. Als der Jude bei seiner Rückkehr sah, wie man ihn beraubt an: «Herr Nikolaus! Ich hatte dich doch in meinem Hause aufgestellt, damit du meine Habe vor Dieben bewahrst! Warum wolltest du das nicht tun, warum hieltest du die Diebe nicht fern? So wirst du nun schreckliche Schläge bekommen und an Stelle der Räuber büßen! Meinen Schaden werde ich durch deine Qualen wieder wettmachen, und ich werde meine Wut mit Schlägen und Peitschenhieben kühlen!» Dann nahm der Jude das Bild und schlug und peitschte es grausam.

Da aber geschah Wunderbares und Staunenswertes: Als die Räuber die Beute untereinander teilten, erschien ihnen der Heilige Gottes, wie wenn er die Schläge empfangen hätte, und sprach: «Warum bin ich euretwegen so grausam gegeißelt und so schrecklich geschlagen worden? Warum musste ich so viel Qualen erleiden? Schaut, wie mein Leib voller blauer Flecken ist, wie er rot ist von Blutungen! Geht rasch hin und gebt eure Diebesbeute zurück! Sonst wird der allmächtige Gott gegen euch wüten, euer Verbrechen wird bekannt werden, und ihr werdet alle an den Galgen kommen!» Da sagten jene: «Wer bist du, der du so zu uns sprichst?» Der Heilige: «Ich bin Nikolaus, der Diener Jesu Christi, den der Jude für seine Habe, die ihr geraubt habt, so grausam gepeitscht hat.» Da liefen sie voller Angst zum Juden, berichteten vom Wunder, vernahmen von ihm, was er dem Bild getan, und gaben ihm alles zurück. So kamen die Räuber wieder auf den rechten Weg, der Jude aber nahm den Glauben an den Erlöser an.

Diese Geschichte ist böse in sich, konstruiert, um Juden verächtlich zu machen. Nicht nur, weil der geschilderte Jude als zu Bekehrender wahrgenommen wird (das ist fast noch der harmloseste Teil der Erzählung), sondern weil er als durch und durch unwahrhaftiger Jude dargestellt wird. Ein Jude, der durch seine Handlungen sich selbst als heuchlerisch überführt.

Nicht umsonst setzt die Erzählung damit ein, dass ein (natürlich reicher) jüdischer Bürger, der sein Geld in einer Schatztruhe hortet, sich insgeheim ein Kultbild zum Schutz seines Reichtums aufstellt. Er macht das, weil er, wie es einleitend heißt, an die Macht der Bilder glaubt. Schon das ist eine perverse, herabsetzende Darstellung.

Und wie ein guter orthodoxer Christ oder Katholik spricht er mit dem Bild, ganz der platonischen Urbild-Abbild-Theorie folgend – was dem Abbild geschieht, überträgt sich aufs Urbild. Auch das ist absurd und bösartig zugleich. Es zeigt, dass das Christentum dem Judentum eigentlich vorwirft, dass es das Bilderverbot aufgestellt hat, dem es selbst nicht folgen mag, und deshalb den Juden unterstellt, sich auch nicht daran zu halten. Im Gegenzug zeigt man, wie wirkmächtig das Christentum sich die Bilder (zumindest in seinen Erzählungen) vorstellt.

Und so ist alles weitere Dingmagie bis ins letzte Detail. Das hat eine Tradition seit dem byzantinischen Bilderstreit, in dem auch vehement mit der angeblichen Wirkmächtigkeit von Ikonen argumentiert wurde. Und wer sich darauf einlässt – konvertiert. Das glaube ich nun auch, nur ist das nicht ein erstrebenswerter Zustand, denn man konvertiert in eine Welt des Aberglaubens.

Deutungsarbeit IV

Hat der Hl. Josef für das neugeborene Jesuskind einen Brei am offenen Feuer zubereitet?

Detail eines Bildes aus dem Jahr 1437 mit dem Hl. Josef beim Kochen.
Der hl. Josef als Nährvater?

Auf der zweiten von mir aktuell betrachteten Tafel findet sich links am Bildrand die obige Darstellung. Man erkennt sofort die Übereinstimmung mit der nebenstehenden Figur des Heiligen Josef aus der vorherigen Tafel. Nur dass der dunkel-violette Untermantel fehlt, Josef keine Handschuhe und keinen Zimmermannsstab trägt und stattdessen eine Pfanne in der rechten Hand hat.

Dieses Motiv des Speise zubereitenden Josef tritt um 1400 in der Kunst auf und deutet auf eine volkstümliche Hinwendung zur Figur des Nährvaters hin. Er wird als treusorgender Gatte der Maria dargestellt, der sich um den Haushalt kümmert, während Maria sich dem Kind widmet. In der Literatur wird oft behauptet, Josef bereite hier einen Brei für das Christuskind. Das ist wohl wenig wahrscheinlich, denn auch im 15. Jahrhundert wusste man, dass Neugeborene nur Milch vertragen. Hier steuert offenbar der Wunsch nach Idylle die Wahrnehmung. Im 21. Jahrhundert kann dann sogar geschrieben werden, dass in Josef der ideale Mann dargestellt werde, weil er sich im Haushalt engagiere.

Das ist wohl eher Wunsch-Projektion, realistischer dürfte die Darstellung im Stundenbuch der Katharina von Kleve sein, die Maria beim Stillen und Josef beim genüsslichen Verzehr des von ihm vorher über dem offenen Feuer gekochten Breis zeigt.

Zweiter Advent

Ein Bild von Mariä Heimsuchung zum zweiten Advent

Mariä Heimsuchung, 1460, Museum Kremsmünster

Mariä Heimsuchung bzw. Visitatio Mariae – so wird die Begegnung von der schwangeren Maria mit ihrer schwangeren Cousine Elisabet bezeichnet. Es gibt viele wunderbare Bilder in der Kunstgeschichte zu diesem Ereignis, die wichtigsten habe ich in einer früheren Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik zusammengestellt.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts stoßen wir dann vermehrt auf intra-uterinären Darstellungen, die die beiden ungeborenen Kinder zu den zentralen Akteuren im Bild werden lassen.

Dargestellt sind beide Frauen auf dem 1460 entstandenen Bild aus Kremsmünster als junge Schwangere, was zumindest im Fall der Elisabet der Überlieferung widerspricht. Auch das Alter der Ungeborenen wird angeglichen

Wir werden nun also mehr oder weniger direkt nicht nur auf die Schwangerschaft der beiden Frauen aufmerksam gemacht, sondern sehen explizit auch noch eine Darstellung der beiden ungeborenen Kinder. Zum einen dient das der Klärung der unterschiedlichen Bedeutung beider Ungeborenen: Jesus ist wesentlich bedeutender als Johannes, was sich an der jeweiligen Gestik zeigt (Anbetung vs. Segen), zum anderen soll das im biblischen Text Beschriebene auch visuell zum Ausdruck kommen: die Freude des ungeborenen Johannes über die Begegnung seiner Mutter mit der mit Jesus schwangeren Maria. Wie hier auf dem Heimsuchungsbild aus dem Stift Kremsmünster aus dem Jahr 1460 thront Jesus auf diesen Bildern schon als Pantokrator ante portas, während Johannes sich kniend in eine Haltung der Anbetung ergibt.

Deutungsarbeit III

Notizen zu den Hosen des Josef

Ein weiteres Detail auf dem gerade von mir betrachteten Bild ist noch bemerkenswert. Und das ist der violette Schal, der quer über dem gut eingewickelten Jesuskind im Weidenkorb liegt. Es hat eine merkwürdige Form und wirkt wie zufällig abgelegt, ist aber natürlich wie immer auf spätmittelalterlichen Kunstwerken sorgfältig inszeniert.

Schaut man noch einmal auf das vorherige Bilddetail des Hl. Josef, dann erkennt man, dass das abgelegte Stück Stoff zur Kleidung des „Nährvaters“ gehört. Aber um welches Kleidungsstück handelt es sich? Die Form zeigt uns nun, dass es sich wohl um ein Beinkleid handelt, also quasi die Hose des Josef. Demnach hätte dieser sein Beinkleid ausgezogen, um das Neugeborene vor der Kälte zu schützen.

Tatsächlich finden wir vor allem in bestimmten rheinischen Traditionen dieses Motiv, bei dem sich Josef von Teilen seiner Beinkleidung trennt, um das Neugeborene besser auszustatten und vor der Kälte zu schützen. Die Web Gallery of Art schreibt dazu:

Was wir hier finden, ist die Geschichte von ‚Josephs Strümpfen‘. Der Vater Jesu sitzt am unteren Rand des Panels und schneidet eine seiner Leggings auf. Bestimmte … Weihnachtslieder erzählen, dass das Christ-Kind in Stoff aus dieser Unterwäsche gewickelt wurde. Aachens Kathedrale besaß einst als Relikt „Josephs Strümpfe“, die um 1400 Gegenstand intensiver Verehrung waren.

Träfe das zu, wäre auch der frierende Josef mit den Handschuhen aus der von mir betrachteten Tafel des Jahres 1437 zumindest unter seinem Mantel ohne Hose, eine Vorstellung nicht ohne Ironie. Wenn aber bereits 1400 und früher das frierende Christuskind ein Thema der Kunst war, kann es sich nicht auf die klimatischen Veränderungen im 15. Jahrhundert beziehen, sondern ordnet sich in eine kunstgeschichtliche Tradition ein. 1385, so lerne ich, schreibt ein sog. Werner der Schweizer in seinem Marienleben:

„Maria wand ir kindelin / in aerm klainu tüchelin, / Die man noch lat ze Ache sechen: / Ich warn und han es horen jechen. / Das su mit rechten maeren / Josephes hossen waeren / Zwai graewu tuchelu da sint. / Siner windelin, die man da vint.“

Deutungsarbeit II

Der heilige Josef in ungewöhnlicher Kleidung

Der Hl. Josef auf einem Kunstwerk des 15. Jahrhunderts

Die im vorherigen Beitrag betrachteten Menschen blicken u.a. auf diese Figur des hl. Josef, der hier in einer etwas ungewohnten Kleidung gezeigt wird. Dass er ein alter Mann ist, überrascht nicht, wohl aber die Fäustlinge, die er trägt. Das ist für Darstellungen seiner Person eher ungewöhnlich. Und so kann man sich fragen: wozu dienen die Fäustlinge? Heutzutage nutzen wir Handschuhe eher in der kalten Jahreszeit, um die Finger warmzuhalten. In früheren Zeiten allerdings waren Handschuhe auch ein Statussymbol, wie wir aus Porträtdarstellungen von Begüterten erkennen können, die die Handschuhe demonstrativ in der Hand halten. Aus dem Bilddetail selbst lässt sich nicht erschließen, weshalb Josef die Handschuhe trägt.

Man hat spekuliert, dass es eine Reaktion auf eine in der Mitte des 15. Jahrhunderts einsätzende Kältewelle in Europa sein könnte. Das ist möglich, überzeugt mich aber nicht richtig. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es hier entweder um Arbeitshandschuhe des Zimmermanns Josef geht oder auch um Statussymbole.

Deutungsarbeit

Was können wir aus Bilddetails erkennen?

Menschengruppe beim Bestaunen eines Ereignisses
Dtail eines spätmittelalterlichen Bildes

Ich „lese“ gerade ein Detail eines Bildes aus dem Jahr 1437. Was kann man aus einem derartigen Detail erkennen, welche Rückschlüsse kann man auf Einstellungen, Haltungen, Vor-Urteile, Ethnien, gesellschaftliche Stände usw. ziehen? Natürlich lebt vieles von den Vorerwartungen der Betrachter:innen, von ihren Vor-Urteilen und Urteilen gegenüber Bildern des Mittelalters und der Haltung der Menschen, die darin gespiegelt werden.

Zumindest kann man am Anfang vielleicht so viel sagen: es sind sehr unterschiedliche Leute, die hier in ganz verschiedenen Formen einen Blick auf ein Ereignis werfen, das uns im Augenblick noch verborgen ist. Zudem kann man anhand der dominanten Farben die Gruppe in zwei Hälften teilen.

Die linke, hell gekleidete Gruppe scheint vorwiegend aus Frauen zu bestehen, die, blickt man auf ihre Kleidung, wohl nicht den untersten Schichten der Bevölkerung angehören. Ihr Teint ist bei drei Figuren ostentativ weiß, bei einer Figur ist die Haut dunkel gegerbt. Betont wird durch die gefalteten Hände die Frömmigkeit der Betrachterinnen.

Die rechte, dunkler gekleidete Gruppe kann selbst noch einmal in zwei unterschiedliche Parteien aufgeteilt werden. Die beiden vorderen Figuren scheinen ebenfalls nicht einfache Arbeiter zu sein, sondern weisen sich durch ihre Kleidung als bessergestellt aus. Auffällig ist die rechte Figur, die etwas aus der Gruppe herausfällt, weil sie die anderen mit ausgestreckter Hand auf ein Geschehen hinweist, das wir noch nicht sehen.

Die hintere Reihe der rechten Gruppe ist – so kann man wohl doch sagen – derb gezeichnet. Es sind einfache Menschen mit unterschiedlichen Teints, deren Blicke sich nur bedingt auf das angezeigte Geschehen richten.

Offenkundig haben wir es hier mit Mitgliedern einer Klassengesellschaft zu tun, die einem uns unbekannten Geschehen beiwohnen. Sie sind vom eigentlichen Ereignis durch eine Holzwand abgetrennt, die vielleicht sogar die gesamte Gruppe in Frauen und Männer aufteilt. Sie sind in Erwartung – aber viel mehr lässt sich noch nicht sagen – außer vielleicht, dass es auch ethnisch eine buntgemischte Gruppe ist, wenn man den dunklen Teint einiger Figuren nicht auf die Sonneneinstrahlung zurückführt.

Alles Weitere lässt sich erst sagen, wenn wir wissen, was rechts von diesem Bilddetail passiert.

Longtermism und Shorttermism

Die Welt zwischen Problemverschiebung und Problemverdrängung

Wie steht es um die Zukunft des Menschen?

Ich lese gerade, aufmerksam geworden durch einen Artikel über die Extremisten der Aufklärung in der ZEIT, einen Artikel des Philosophen Émile P. Torres, den dieser vor einem Jahr im Aeon Magazine publiziert hat [Torres, Émile P. (2021): „Against longtermism“ In: Aeon Magazine, 19.10.2021. https://aeon.co/essays/why-longtermism-is-the-worlds-most-dangerous-secular-credo]. Ich empfehle den Artikel zur Lektüre, denn er plausibilisiert viel von dem, was aktuell rund um Twitter, FTX und Letzter Generation vor sich geht. Die Gedankenwelt, die Torres da zusammengetragen hat und kritisch begutachtet, ist schon erschreckend. Grob gesprochen könnte man zwischen shorttermism und longtermism und dem, was dazwischen denkbar ist, unterscheiden. „shorttermism“ wäre dabei ein Denken, dass sich wenig um die Zukunft und das absehbare Leiden der Menschen kümmert, sondern dem Hier und Jetzt die Priorität einräumt. Demnach wäre eine Einschränkung heutiger Lebenswelten zugunsten künftiger Generationen nicht angebracht. „longtermism“ dagegen orientiert sich an extrem ausgreifenden Zukunftsperspektiven, die um die Perfektibilität des Menschen kreisen. Im Blick auf eine derartige ferne Zukunft eines im Weltraum reisenden perfekten Menschen wäre die Besinnung auf heutiges Leid oder das Leid der nächsten Generationen bedingt etwa durch den Klimawandel durchaus zu vernachlässigen. Denn letztlich kommt es nur darauf an, dass irgendwann ein optimierter Mensch alle Beschränkungen überwindet. Dafür kann man auch den Tod von 75% der Weltbevölkerung in Kauf nehmen. Langfristigkeit meint dann eben nicht die nächsten 2000 Jahre, sondern Millionen oder Milliarden Jahre.

„If one takes a cosmic view of the situation, even a climate catastrophe that cuts the human population by 75 per cent for the next two millennia will, in the grand scheme of things, be nothing more than a small blip – the equivalent of a 90-year-old man having stubbed his toe when he was two.“ – „It might be ‘a giant massacre for man’, he adds, but so long as humanity bounces back to fulfil its potential, it will ultimately register as little more than ‘a small misstep for mankind’.”

Es ist letztlich die Logik von Kriegsherren, die da durchschimmert, denen es egal ist, wie viele Menschen sie opfern, Hauptsache am Ende steht der Sieg. Und zu diesen Kriegsherren gehören Elon Musk oder auch ein Glücksritter wie Sam Bankman-Fried. Sie fördern die Philosophie des Longtermism mit Millionen US-Dollar. Einig sind sich Short-Termisten und Long-Termisten darin, dass sie sich um die Klimakrise nicht zu sorgen brauchen, zumindest so lange nicht, wie ihre eigenen Konzepte davon nicht betroffen sind.

Erster Advent

Ein Kunstwerk von Robert Campin aus dem 15. Jahrhundert zum ersten Advent

Verkündigung an Maria

Das Bild von Robert Campin stammt aus dem Jahr 1420, es ist die Mitteltafel eines Triptychons und 61×63,7 cm groß. Die dargestellte Szene der Verkündigung spielt in einem bürgerlichen Wohnhaus und ist beziehungsreich ausgestaltet. Maria kniet demütig vor einer Bank auf dem Fliesenboden. Der Rand ihres Mantels ist mit einem Zitat aus dem Marienlied Salve Regina dekoriert. Die durchblätterten Bücher zeigen sie als Besitzerin göttlicher Weisheit. Die Bank ist mit Löwen verziert, so wie einst der Thron Salomos, der als Inbegriff der Weisheit galt. Die Glasmalereien der Fenster zeigen Propheten. Über dem Kamin hängt ein Christopherus-Bild.

Déjà-vu

Gibt es eine globale Tendenz, vor Eröffung einer Ausstellung nicht nur die Inhalte auf politische Korrektheit zu überprüfen, sondern auch die Haltung der Künstler:innen und Kurator:innen zu untersuchen?

In der FAZ schreibt Konstantin Akinscha über die Absage der 9. Moskauer Kunstbiennale unter dem Titel „Szenografie der Gefühle“. Nun ist eine derartige staatliche Zensur-Maßnahme in Zeiten eines russischen Angriffs-Krieges vielleicht gar nicht so überraschend, interessanter sind da schon die Begründungen, die Akinscha erwähnt:

„Die Absage der Moskauer Biennale war kein Einzelfall. Die Behörden verboten Dutzende von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Außerdem führten sie ein neues Zensursystem ein. Früher beruhte die Ausstellungserlaubnis auf der Beurteilung der für diese ausgewählten Werke. Heute müssen die Organisatoren die schwarzen Listen mit unerwünschten Künstlern konsultieren, deren Werke unabhängig von ihrem Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden dürfen.“

Und irgendwie hatte ich da ein Déjà-vu. Das hatte ich in diesem Jahr doch schon einmal gehört und gelesen? Kann es also wirklich sein, dass ein totalitäres System wie Russland einem demokratischen System wie der Bundesrepublik Deutschland strukturell doch ähnlicher ist, als man vermuten möchte – zumindest im Umgang mit Kunst-Ausstellungen? Denn das war es doch, was in den vergangenen zehn Monaten in Deutschland gefordert wurde: dass die Veranstalter und die sie fördernden staatlichen Institutionen nicht nur die für die Ausstellung ausgewählten Werke vorab kontrollieren sollten, sondern – und das ist hier viel gewichtiger – dass die Organisationen nach vorab aufgestellten Listen unerwünschter Künstler:innen und Kurator:innen entscheiden sollten, wer an Kulturveranstaltungen teilnehmen darf und wer nicht. Die Liste in Deutschland trug die Überschrift: Welche Haltung hat X zur Organisation BDS? Es scheint, als liege nur wenig zwischen dem russischen Zugriff auf die Kunst und der deutschen Infragestellung der Kunstfreiheit. Auch bei uns wird gegen alle grundgesetzlichen Bestimmungen gefordert, der Kunst Fesseln anzulegen. Nur das mit dem Verbieten klappt noch nicht so recht.