Die Doppelmoral mit der Doppelmoral

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Die Seite der rechten Schwarmintelligenz The Germanz veröffentlicht mal wieder einen Text von BorisRreitschuster, der sich mit einem Nazi-Vergleich der SPD-Co-Vorsitzenden Esken beschäftigt. Der gesamte Text ist eher der Kategorie des rasenden Gefasels der Gegenaufklärung zuzurechnen, voller logischer Sprünge und unsinniger Sätze wie dem, dass sich von Adolf Hitler über Stalin und Mao bis hin zu Mussolini und Pol Pot alle für die Guten gehalten hätten. Das wird er wohl kaum belegen können, ohne dabei das Wort Gut einigermaßen zu verdrehen. Jedenfalls verbinde dies die gerade Genannten mit allen Gutmenschen der Gegenwart, die sich für Übermenschen hielten. Wer das für einigermaßen verquast hält, dürfte Recht haben.

Saskia Erben hatte nun in Österreich die AfD als Nazi-Partei bezeichnet, genauer, sie hatte sie mit Goebbels verglichen. Das, so meint Reitschuster, gehe gar nicht: „Den Gegner ‚Nazi‘ zu nennen – das ist die vernichtendste Beschimpfung, die in Deutschland möglich ist. Das ultimative Totschlag-Argument. Die ultimative Verrohung der Sprache.“ Es sei denn, so würde ich jedenfalls meinen, das Argument träfe zu. Wenn man einen Nazi einen Nazi nennt, dürfte das wohl kaum eine Beschimpfung sein, kein Totschlag-Argument und keine Verrohung der deutschen Sprache. (Die Ansammlung von Superlativen in Reitschusters Satz deutet an, dass er genau weiß, dass sein Argument Unsinn ist, man soll gar nicht darüber nachdenken, denn es ist ja so superlativ schlimm.) Reitschuster nennt das eine „verbale Atombombe“. Nun ist es ja gerichtsfest, dass man einige der führenden AfD-Funktionäre Faschisten nennen darf, die angebliche Atombombe also längst von bundesdeutschen Gerichten gezündet wurde, lange bevor Frau Esken das nur wiederholte und es auf die gesamte Partei anwendete. Reitschuster weist nun darauf hin, dass gegen Esken in Osterreich wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt werde. Das besagt aber gar nichts, ich könnte heute gegen Herrn Reitschuster wegen irgendetwas eine Anzeige erstatten und es würde gegen ihn ermittelt. Ermittlungen sind ein normaler staatsanwaltschaftlicher Vorgang, noch nichts Ehrenrühriges. Die Mehrzahl der Verfahren werden eingestellt.

Aber man kann ja mal schauen, wer eigentlich Anzeige gegen Frau Esken gestellt hat. Da ist z.B. Gerald Grosz, ein früherer rechtspopulistischer Politiker, der 2023 beim Aschermittwoch der AfD Markus Söder als „Södolf“ und Landesverräter bezeichnet hatte. Daraufhin hat Söder Strafanzeige gestellt und Grosz wurde nach aktuellem, bisher allerdings noch nicht rechtskräftigem Beschluss des Amtsgerichts zu 36.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Die Vorwürfe lauten auf Beleidigung von Personen des politischen Lebens sowie auf Verstoß gegen das Versammlungsgesetz – Grosz soll bei der Veranstaltung unerlaubt ein Messer bei sich gehabt haben.

Somit haben wir den Fall, dass jemand, der von einem deutschen Gericht dafür verurteilt wurde, dass er einen deutschen Politiker mit Adolf Hitler verglich und dies für rechtens hielt, nun Strafanzeige gegen eine deutsche Politikerin stellt, weil diese die AfD mit der NSDAP verglich, was dieser nicht für rechtens hielt. Vermutlich handelt es sich aber simpel um eine Retourkutsche, nach dem Motto: Wenn die mich anzeigen, zeige ich die auch an. Man wird sehen. Mir scheint, Frau Erben hat dabei wesentlich größere Chancen als Herr Grosz.

Theolog:innen sind etwas ganz Besonderes

Vom Missbrauch des Kirchenamtes für politische Positionen.

Und schon wieder ist es passiert. Nach dem Erscheinen der ForuM-Studie waren sich doch alle irgendwie einig, dass ein Teil des Problems des Missbrauchs und des Umgangs mit Missbrauch in der Evangelischen Kirche in der unangemessen hervorgehobenen Rolle der Pfarrer:innen in der Kirche und in den Gemeinden bestand. Trotz aller Egalisierungsbemühungen des Protestantismus im 16. Jahrhundert sei man, was die Rolle der Pfarrer:innen angeht, ganz unsensibel wieder in Hierarchisierungen verfallen. Das habe zu einer Situation geführt, die nicht nur paternalistisch geprägt gewesen sei, sondern auch zum Missbrauch der eigenen hervorgehobenen Stellung für Verbrechen und Vergehen eingeladen habe.

Soweit der damalige Konsens, unmittelbar nach Erscheinen der ForuM-Studie. Und da haben auch viele Engagierte ihre Stimme erhoben, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Evangelische Kirche daran arbeiten müsse, den Mythos der besonderen Rolle ihrer Theolog:innen und Pfarrer:innen zu dekonstruieren und alle religiösen Subjekte wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen.

Überraschenderweise finde ich einige der Namen derer, die damals für die Dekonstruktion der hervorgehobenen Rolle der Pfarrer:innen und Theolog:innen in der Kirche plädiert haben, auf einer Unterschriftenliste wieder, die gerade vehement die CDU für ihre angekündigten Asylbeschlüsse auf ihrem Parteitag kritisiert und dazu dekretiert: Die CDU ist unchristlich.

Und was steht nun unter dieser Liste, schön fett gedruckt, damit es auch jeder lesen kann und beachtet? Diese Liste ist

Und man muss das ausgelassene „nur“ mitlesen, sonst hätte man ja schreiben können: Bitte unterzeichnen Sie diesen Appell. Das ist aber nicht gemeint, sondern man meint: möglichst keine Nicht-Theolog:innen auf unseren Listen. Wo kämen wir denn auch hin, wenn hier jedes Gemeindeglied unterschreiben würde. Das finde ich cool, dass das so unverhohlen eingeräumt wird. Nur den Theolog:innen kommt die Aura und die Kompetenz zu, die CDU als unchristlich zu verwerfen.

Direkt darunter ist ein Link auf die Liste derer, die bis zum Abend des 5.5.2024 bereits unterschrieben haben. Und auch hier bittet man darum, dass „Ort, Kirchengemeinde und Position“ angegeben werden. Plötzlich spielt die Position wieder eine ausschlaggebende Rolle.

Nun kann man fragen, ob die zahlreichen Pfarrer:innen, die unter Angabe ihrer Kirchengemeinde diese Liste unterschrieben haben, dies auch im Auftrag ihrer Gemeinde tun. Haben sie im Presbyterium ihrer Gemeinde abgestimmt, ob sie für die Gemeinde unterschreiben? Ich vermute nicht. Es dürften genügend Vertreter:innen in den Gemeindegremien sitzen, die es gar nicht so lustig finden, wenn die CDU frei weg als „unchristlich“ bezeichnet wird.

Wenn also ein Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Berlin Süd-Ost diese Liste unterschreibt, als was tut er dies? Wenn ein promovierter Pastor einer Hamburger Kirchengemeinde dies unter Angabe seiner Gemeinde signiert, wer hat ihn beauftragt? Ich glaube nicht, dass dies das korrekte Amtsverständnis ist. Es ist eben keine Privatmeinung, die hier artikuliert wird, sondern eine Meinung kraft des Amtes. Das wiederum finde ich missbräuchlich.

Die Meister des ausgestreckten Zeigefingers

Wer Bibelverse zitiert, sollte doch auch den Kontext bedenken. Zur Kritik der Theologen an der CDU.

Und da sind sie wieder, die Meister des ausgestreckten Zeigefingers, die mit Vorliebe auf Andere deuten, sie als „unchristlich“ bezeichnen und sich einzelne Verse aus der Bibel picken, um ihre politischen Parolen damit abzufedern.

750 Theolog:innen haben sich zusammengetan, um die drohenden Asylbeschlüsse auf dem Parteitag der CDU als unchristlich zu denunzieren. Das kann man machen, wenn man geklärt hat, wer überhaupt über das Etikett „christlich“ verfügen darf. Das ist bei der CDU immer schon problematisch gewesen, wird aber nicht besser, wenn nun ihre Gegner:innen meinen, dasselbe tun zu können. Ob sich die CDU als christlich etikettiert, oder die Kritiker die CDU als unchristlich – beides finde ich unberechtigt.

Nun berufen sich die Kritiker:innen der CDU auf einen biblischen Vers, um ihre Etikettierung zu rechtfertigen. Diese Kalenderspruch-Rhetorik ist immer problematisch, denn Bibelverse haben einen Kontext und der ist selten so, wie es sich die Zitaten-Sammler:innen wünschen. Im vorliegenden Fall picken sie sich Jesaja 16, 3f. heraus. Das ist – kontextbefreit – ein netter Satz zur Apologie der eigenen Haltung in der Flüchtlingsfrage, aber mehr auch nicht.

Sobald man näher hinschaut und den Kontext berücksichtigt, wird es schwierig. Schon der Tonfall gegenüber dem Volk der Moabiter ist in Jesaja 16 schwer erträglich. Er ist paternalistisch durch und durch, mit stolzgeschwellter Brust bietet man dem feindlichen, nun aber bedrohten Volk die Hilfe an. Lass sie nur kommen, sie werden auch wieder gehen, wenn der Herr die rechten Leute dort an die Regierung und Macht gebracht hat. Die EU könnte es nicht besser sagen.

Ist es das, was uns die Kritiker:innen der CDU vermitteln wollen? Oder haben sie gar nicht an die Moabiter gedacht, sondern fanden den Spruch nur einfach cool – so wie der Killer in Pulp Fiction immer einen coolen Spruch aus der Bibel zitiert, bevor er abdrückt.

Die CDU könnte die Steilvorlage ihrer Kritiker:innen aber durchaus aufgreifen, und darauf hinweisen, dass es in der biblischen Geschichte ganz unterschiedliche Fraktionen gab, die in der Flüchtlingsfrage gegensätzliche Positionen vertraten.

Als Israel versuchte, sich unter persischer Herrschaft neu zu konstituieren, stellte sich die Frage, ob man den Völkern gegenüber auf radikale Absonderung oder auf friedliche Koexistenz setzen sollte. Eine Richtung will die nationale Identität durch eine scharfe Abgrenzung nach außen herstellen. Als Protagonisten dieser Strömung verbieten Esra und Nehemia in Fortführung deuteronomistischer Absonderungsgedanken z.B. Ehen mit ausländischen Frauen (Esr 10; Neh 13). Die andere Richtung ist Ausländern gegenüber aufgeschlossen und setzt sich für Toleranz ein. So entwerfen die Bücher Rut und Jona in Auseinandersetzung mit nationalistischen Strömungen ein positives Ausländerbild, um so für eine offene Einstellung zu werben. In diesem Konfliktfeld, das seinen Niederschlag auch in eschatologischen Entwürfen findet, sind die unterschiedlichen Positionen gegenüber Moab zu sehen.[Wibilex, Art. Moabiter]

Und schon sieht die Welt ganz anders aus. Auch die CDU könnte sich mit ihrer Politik der nationalen Abgrenzung auf die Bibel beziehen, nur eben nicht auf dieselben Verse. Von wegen unbiblisch oder unchristlich. Persönlich finde ich die Rut-und-Jona-Haltung auch sympathischer, bin aber weit davon entfernt, die Haltung Esras und Nehemias als unbiblisch zu verwerfen.

Mit Zahlen hat es die konservative Schwarmintelligenz nicht so

Wenn zwei mehr als die Hälfte von zehn ist – dann stimmt etwas nicht mit der mathematischen Intelligenz.

Klaus Kelle verstolpert sich in seinem islamophobischen Grimm wieder mal in der Statistik. Anfangs verwechselt er Fiktion mit Realität, versteht in guter alter Sturm-und-Drang-Ästhetik Kunst als seismographisches Element künftiger Wirklichkeiten. Aber die Unterwerfung von Houellebecq ist ein Roman, keine Zukunftsforschung. Das sollte man tunlichst unterscheiden. Nun warnt uns Klaus Kelle mit eindringlichen Worten vor einer islamischen Mehrheitsgesellschaft in wenigen Jahren. Schon bald, etwa 2050 werden die muslimischen Bürger:innen in der Bundesrepublik Deutschland die Mehrheit bilden.

Das ist ja spannend. Sein Beleg für diese These? Eine Behauptung von Thilo Sarrazin aus dem Jahr 2010, als dieser schrieb, schon in 30 Jahren werde die Mehrheitsgesellschaft muslimisch sein. Und da konnte er ja von der Flüchtlingskrise noch gar nichts wissen. Nun ist die Hälfte der von Sarrazin in den Blick genommenen Zeit um und da sollte man doch denken, dass die Muslime, wenn schon nicht 50%, dann aber doch 25% der deutschen Bevölkerung ausmachen. Das haben sie nicht ganz geschafft – diese bösen Politiker:innen der Grünen, die ja ganz Deutschland ‚überfremden‘ wollen. Nach der letzten Erhebung entspricht der Bevölkerungsanteil aktuell etwa 6,7% der Gesamtbevölkerung.

Nun könnte man sagen, was nicht ist, kann ja noch werden. Aber auch Zukunftsprognosen können nicht einfach aus dem hohlen Bauch erfolgen, sondern müssen wissenschaftlich solide sein. Das Pew-Forschungsinstitut hat für 2050 eine Prognose vorgelegt. Und wie immer bei wissenschaftlichen Prognosen gibt das Institut eine Varianz an, je nachdem wie die Rahmenbedingungen sich ändern. Nach dem Szenario 1 (keine weitere Zuwanderung) kommt das Institut für 2050 aufgrund der Geburtenrate auf einen muslimischen Anteil von 8,7%. Das Szenario 2 geht von einem moderaten Anstieg aus, eher Migration als Flüchtlingsstrom. Dann käme man auf 10,8% der Gesamtbevölkerung. Im Szenario 3 geht es um einen kontinuierlichen Flüchtlingsstrom wie 2015 und hier käme man auf 19,5% der Gesamtbevölkerung. Für Christen wird für das Jahr 2050 übrigens ein Gesamtbevölkerungsanteil von 59% vermutet. Nun könnte man sagen, der Anteil der Christen sei ja heute schon geringer, aber dann verwechselt man Kirchenzugehörigkeit und religiöse Orientierung. Man wird nicht Atheist, nur weil man aus der Kirche austritt. Klaus Kelle aber müsste erklären, inwieweit 20% Muslime gegenüber 80% von Nicht-Muslimen eine Mehrheit bilden können. Aber vermutlich ist das mal wieder die schweigende (diesmal muslimische) Mehrheit, von der Kelle so gerne fantasiert.

Ein Buchstabe zu viel oder: Die EKD auf fremdem Territorium

Die EKD redet über Flugzeuggastronomie – oder doch nicht? Man weiß es nicht genau.

Das ist lustig .- kann aber vorkommen. Die EKD veranstaltet ihren ersten deutschen evan­ge­li­schen Hochschultag, Veranstaltungsort ist die Universität Heidelberg und geladen sind veritable Gäste. Es gibt einen Hauptvortrag von Christoph Markschiess, ein Podium unter dem scheinbar unvermeidlichen Titel „Hier stehe ich!“ – Freiheit und Wahrheit in schwierigen Zeiten. Und dann gibt es noch vier Module unter der Überschrift „Interdisziplinäre Entdeckungen zu Freiheit, aktueller Forschung, Religion und Gesellschaft“. Es geht in den Modulen um Künstliche In­telligenz, Nachhaltigkeitsforschung, sowie um religiöse Freiheit und Universität. Und dann gibt es ein doch etwas überraschendes Modul unter der Überschrift „Am Limit. Perspektiven aus Theologie und Astrophysik“. Damit hätte ich nicht gerechnet, denn bisher ist mir nicht bekannt, dass deutsche Professor:innen der Evangelischen Theologie sich damit beschäftigen. Zwar haben wir deutsche theologische Wissenschaftler, die dazu forschen und in New York, in Santa Barbara und Mountain View, Providence, Kopenhagen und auch Florenz mit wissenschaftlichen Vorträgen auftreten und dazu auch publiziert haben – aber die sind in dem Modul nicht vertreten. Die deutsche theologische Fach­wissenschaft zum Thema Astrophysik vertritt Malte Krüger. Nichts gegen diesen Wissenschaftler – als internationaler Experte zum Thema ist er bisher nicht aufgefallen. Aber deutsche Theologen sind ja Generalisten.

Lustig, um auf meinen Eingangssatz zurückzukommen, ist nun an der Ausschreibung, dass der Veranstalter, also die EKD, die Professur des eingeladenen fachkompetenten Gastes Alfred Krabbe verändert hat. Dieser ist in Stuttgart Professor für Flugzeugastronomie und extraterrestrische Raumfahrtmissionen.

Das fand die EKD wohl zu wenig bodenständig und formulierte es um, indem man einen Buchstaben hinzufügte. Nun ist er Professor für Flugzeuggastronomie und extraterrestrische Raumfahrtmissionen. Und das ist für die theologischen Vielflieger der EKD ja auch viel naheliegender: um die Bordverpflegung sollte sich durchaus auch ein Professor an einer bundesdeutschen Universität kümmern. Eigentlich hätte man auch bei den Raumfahrtmissionen noch ein e zufügen können, dann wäre es ein wirklich interessantes Gespräch geworden. Denn Raumfahrtemissionen sind ein wichtiges Thema für die Nachhaltigkeit.

Und immer wieder dieselbe Rede

Der Papst kehrt zur alten Rollenverteilung von Kunst und Kirche zurück: Kunst spielt für die Kirche eine wichtige Rolle, wenn sie ethisch präfiguriert ist.

Wofür sollte Kunst denn auch sonst da sein – außer eine Rolle zu spielen in den ethischen Debatten und Reflexionen dieser Welt? Seit 500 Jahren arbeitet die Kunst daran, nicht mehr automatisch diesen metaphysischen, ethischen und religiösen Präjudizierungen unterworfen zu werden, sondern selbst zu bestimmen, was Kunst als Kunst macht. Aber die Kirche kann es nicht lassen. Sie kennt keine Eigenwertigkeit der Kunst. Dabei heißt Kunstwerke zu schaffen, besondere Werke zu schaffen, Werke, die sich durch ihre Differenz zu allen anderen Bereichen menschlichen Lebens auszeichnen. Das Werk der Künstler:innen steht „neben den lebensnotwendigen Werken der eigentlichen Arbeit, neben der Wissenschaft, neben Kirche und Staat“ – „Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernst zu nehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen, ohne von jener loszukommen“ (so Karl Barth 1920). Letztlich geht es beim Satz des Papstes um eine metaphysische Ingebrauchnahme der Kunst: die an der Buchstäblichkeit, dem Material orientierte Kunst soll vom Geist in die Sinndeutung eingebunden werden. Dagegen geht es im Interesse der Kunst darum, die Autonomie der kulturellen Bereiche vor der theologischen und religiösen Hegemonie zu bewahren.

Nun hatte die katholische Kirche immer schon ein gebrochenes Verhältnis zu Immanuel Kant und seiner Bestimmung menschlicher Erkenntnisse in den drei Kritiken (Kritik der reinen Vernunft – Kritik der praktischen Vernunft – Kritik der Urteilskraft). Mit der Autonomie der Künste, ihrer ihr immanenten Zweckhaftigkeit ohne äußeren Zweck wusste sie nichts anzufangen. Gelobt und geliebt wird die Kunst, wenn sie zweckrational eingebunden werden kann, wenn sie also gegen »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit und für das ökologische Gleichgewicht« ankämpft. Und was ist mit all der anderen Kunst (die vermutlich einen Großteil aller Kunstwerke ausmacht)? Kirchlich bzw. religiös ist sie uninteressant. Aber was macht die Kunst als Kunst noch attraktiv, wenn sie doch nur das visualisiert, was der Stellvertreter Gottes auf Erden eh‘ schon jeden Sonntag von der Kanzel kundtut? Gegen »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit und für das ökologische Gleichgewicht« zu sein, ist eine Art Teilnahme am ethischen Buzzword-Bingo, aber kein Element der Kunst. Das Modell nach dem auch dieser Papst zu denken scheint, ist das der vorgängigen Themen und Texten, denen die Kunst ihre visuelle Gestaltungskraft andienen darf. Das ist ein mittelalterliches und frühneuzeitliches Verständnis von Kunst, das diese als Religions- oder Ethik-Design begreift. Vor allem aber ist es ein illiberales Verständnis von Kunst. Wenn die Kunst nur Rollen einzunehmen hat, ist sie nicht frei, allenfalls Hofnarr am Tisch der Mächtigen und der Diskursgestalter. Frei ist sie aber nur als souveräne Kunst, die sich Formwerdung und inhaltliche Bezüge selbst wählt.

Über Freiheit als „Methode der Kunst“ hat am Ende des 20. Jahrhunderts der Künstler, Theologe und Philosoph Thomas Lehnerer reflektiert. Im Anschluss an Immanuel Kant skizziert Lehnerer ästhetische Erfahrung als ein „Empfinden aus Freiheit“ und Bildende Kunst als eine „Methode aus Freiheit“. Das Empfinden von Schönheit ist danach „die vielleicht ganz alltägliche, aber unbedingte Freude daran, dass etwas ohne Not und Grund – frei – sich bewegt, dass etwas lebendig ist in dieser Welt, einfach so. – Freie Lebendigkeit spüren, das ist Schönheit … Schönheit als solche (als Empfinden aus Freiheit) beruht weder auf Natur noch auf Kultur … Schönheit ist ein an sich selbst freier, unbedingter, dennoch aber subjektiv wahrnehmbarer Glücksfall.“ Kunstwerke sind im Gegenzug Gegenstände, die den ‚Zweck‘ haben, dieses „Empfinden aus Freiheit“ auszulösen. Thomas Lehnerer hat vehement bestritten, dass sich Kunst und Religion im Sinne einer gemeinsamen Gattung konstellieren lassen: „Dort wo Kunst ihren Selbstbezug ausformuliert, wo sie ihre Autonomie zur Geltung bringt und dadurch als Totalität sich ausweitet, wo sie m.a.W. ihrem Begriff radikal folgt, ist sie bestimmte Negation von Religion“. Unter diesen Gesichtspunkten „bleiben alle religiös-theologischen Bemühungen, Kunst zu verstehen, limitiert.“ Daher besteht die Perspektive der Begegnung von Kunst und Kirche in der Anerkenntnis dieser Differenz. Geführt werden müsste „ein Diskurs zwischen Kunst und Theologie, in dem beide Seiten ihre Position stark machen und in dem deshalb wirklich etwas auf dem Spiel steht. Es sollte ein Gespräch sein, bei dem die Einigung nicht bereits im Vorhinein programmiert ist, ja vielleicht sogar nicht einmal angestrebt werden muss…, ja (das Gespräch) eigentlich keine Übereinstimmung zum Ziel haben (kann)“ (Alle Zitate Thomas Lehnerer).

Einsichtig werden muss, dass die religiöse Interpretation und in diesem Fall die päpstliche Interpretation des Engagements der Kunst den ästhetischen Charakter der Kunstwerke, ihr Kunsthaftes verfehlt. Man sucht nur das Eigene im Fremden und jubelt auf, wenn man meint, etwas Gemeinsames gefunden zu haben. Man kann aber sicher sein, dass die Kunst in ihren Werken diese scheinbare Gemeinsamkeit wieder unterlaufen wird. Genau das ist nämlich der ästhetische Prozess, der sich eben nicht ethisch stillstellen lässt: er nennt sich „Die Souveränität der Kunst“

Kunst ist eben nicht deshalb interessant, weil sie eine Verbündete im Kampf gegen »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit und für das ökologische Gleichgewicht« ist, sondern weil sie Kunst ist. Nicht das „Was“ eines Werkes macht die Kunst interessant, sondern das „Wie“, nicht der Inhalt, sondern die Form.

Es gab einmal einen Papst, aber auch nur einen einzigen, der das zu würdigen wusste.

Aus der Papstrede in München 1980:
Eine grundsätzliche neue Beziehung von Kirche und Welt, von Kirche und moderner Kultur und damit auch von Kirche und Kunst wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil geschaffen und grundgelegt. Man kann sie bezeichnen als Beziehung der Zuwendung, der Öffnung, des Dialogs. Damit ist verbunden die Zuwendung zum Heute, das „Aggiornamento” … Die Welt ist eine eigenständige Wirklichkeit, sie hat ihre Eigengesetzlichkeit. Davon ist auch die Autonomie der Kultur und mit hr die der Kunst betroffen. Diese Autonomie ist, echt verstanden, kein Protest gegen Gott oder gegen die Aussagen des christlichen Glaubens: sie ist vielmehr der Ausdruck dessen, dass die Welt Gottes eigene, in die Freiheit entlassene Schöpfung ist, dem Menschen zur Kultur und Verantwortung übergeben und anvertraut. Damit ist die Voraussetzung gegeben, dass die Kirche in ein neues Verhältnis zur Kultur und zur Kunst eintritt, in ein Verhältnis der Partnerschaft, der Freiheit und des Dialogs. Das ist umso leichter möglich und kann umso fruchtbarer sein, als die Kunst in Ihrem Land frei ist und sich im Raum der Freiheit verwirklichen und entfalten kann. … Die Kirche sieht die Berufe der Künstler und Publizisten in einer Bestimmung, die zugleich die Mitte, die Größe und die Verantwortung Ihrer Berufe bezeichnet. Nach christlicher Auffassung ist jeder Mensch Bild und Gleichnis Gottes. Dies trifft hinsichtlich der schöpferischen Tätigkeit in einer besonderen Weise für den Künstler und den Publizisten zu. Ihr Beruf ist Ihrer jeweiligen Aufgabe entsprechend ein schöpferischer Beruf. Sie geben der Wirklichkeit und dem Stoff der Welt Form und Gestalt. Sie verbleiben nicht in der bloßen Abbildung oder in der Beschreibung der Oberfläche. Sie versuchen, die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt zu „verdichten“ im ursprünglichen Sinn des Wortes. Sie wollen in Wort, Ton, Bild und Gestaltung etwas ahnen lassen und vernehmbar machen von der Wahrheit und Tiefe der Welt und des Menschen, wozu auch die menschlichen Abgründe gehören. Dies zu sagen, bedeutet keine heimliche christliche oder kirchliche Vereinnahmung der Kunst und der Künstler, der Medien und Publizisten, sondern eine Würdigung aus der Sicht des christlichen Glaubens, eine Würdigung, die erfüllt ist von Positivität, von Respekt und Anerkennung.

Ist die Kirche am Ende?

Das Heft 148 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es widmet sich zum einen der KMU VI und der ForuM-Studie, den neuesten Untersuchungen zur Kirche, aber auch vielen weiteren aktuellen Themen.

Editorial

VIEW

Protestantische Befindlichkeiten
Meinungen, Mehrheiten, Mentalitäten im aktuellen Protestantismus – Eine Sichtung der KMU VI
Wolfgang Vögele [28 S.]

Was hätten Sie denn erwartet?
Die Ev. Kirche und der Missbrauch –
Kurze Notizen zur Aufarbeitungsstudie ForuM
Andreas Mertin [10 S.]

FILM

„Gott verletzt und verbindet,
Gottes Hand zerschlägt und heilt“ (Hiob 5, 18)
Leidensbewältigung von Frauen im Film
Inge Kirsner [10 S.]

FRANZ BLEI

Franz Bleis »ästhetische Theorie vom formbildenden Faktor der Umgebung«
Konzeptionen der Verräumlichung kulturprogrammatischer Perspektiven
Burckhard Dücker [10 S.]

ANTISEMITISMUS

Antisemitismus und Universität
Ein Blick auf eine Studie mit erhellenden Erkenntnissen
Andreas Mertin [8 S.]

Stimmt das: „Antisemitismus ist keine Meinung!“?
Gedanken über problematische Sätze im öffentlichen Diskurs
Andreas Mertin [10 S.]

‚Schwachsinniger Akt von mutwilligem Vandalismus‘
Antisemitischer / israelkritischer Ikonoklasmus als Posse
Andreas Mertin [6 S.]

CAUSERIEN

Betreutes Denken 
I – Wenn KI Dich beschützt und bewahrt – samt einem halluzinatorischem Anhang
II – Die KI spricht: Du sollst Dir kein Bildnis machen
Andreas Mertin [10+4 S.]

RE-VIEW

Lichtlyrik nach dem Zimzum
Bewegte Langzeitfotografie im modernen sakralen Raum
Kapelle der Salesianer Benediktbeuern Obernbayern
Leo Sograph [8 S.]

Hugo Distler. Sämtliche Schriften
Eine Rezension
Mathias Kissel [4 S.]

Glaube und Hass. Antisemitismus im Christentum
Ein Buchhinweis
Andreas Mertin [4 S.]

Unter Beteiligung
Literaturhinweise auf Publikationen aus dem Umfeld von tà katoptrizómena
Redaktion

POST

Rechte Rhetorik bei der Schwarmintelligenz
Verstreute Notizen
Andreas Mertin [8 S.]

Frohe Ostern!

Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik wünscht Frohe Ostern!

1440 malte der Klosterbruder und Künstler Fra Angelico ein Bild an eine Wand einer Zelle des Klosters San Marco in Florenz, das, wenn man es in seine Teile zergliedert, auch als moderne Annäherung an Ostern gelesen werden kann.

Am Anfang steht das suchende Schauen:

Dann folgt die Überraschung, die erklärungsbedürftig ist:

Unerklärlich erscheinende Ereignisse bedürfen der kommunikativen Vergewisserung unter Menschen, weshalb Freund:innen zu Rate gezogen werden:

Und aus der kommunikativen Vergewisserung kommt der religiöse Schluß: er muss auferstanden sein:

Damals wie heute bezieht sich die Erzählung von der Erfahrung der Auferstehung auf Menschen, die durch den Graben der Geschichte vom eigentlichen Geschehen getrennt sind und nur in der Meditation die Ereignisse vergegenwärtigen können.

Und wer jetzt noch wert auf das ganze Bild in der Klosterzelle des 15. Jahrhunderts legt, hier ist es:

Frohe Ostern!

Falschmeldungen und Verzerrungen

Wie man Hass erzeugt, indem man mit Worten die Fakten verschleiert.

Klaus Kelle veröffentlicht auf seinem Blog einen Text vom Blog von Boris Reitschuster, in dem dieser ein Posting auf X von Yvonne Kussmann bespricht. Ein Spiel über die Bande. Die Schlagzeile lautet: Opfer zweiter Klasse: Zwei Mordopfer, denen keiner eine Träne nachweint. Das ist, man ahnt es schon, unwahr (ganz abgesehen vom impliziten Widerspruch, dass Reitschuster beteuert, er habe beim Lesen des Posts geweint). Denn eine kurze Suche zeigt, dass nicht nur die Medien über die Tat berichtet haben, sondern sich auch zahlreiche Menschen und Politiker:innen betroffen dazu geäußert haben. Aber man kann ja einfach mal das Gegenteil behaupten – wer überprüft das schon? Das Posting von Frau Kussmann lautete so:

„Zwei ukrainische Jungs, die Schutz in Deutschland erhielten, werden von einer Bande Migranten auf offener Straße getötet. Außer ein paar Meldungen in diversen Medien geschieht nichts. Kein einziger Politiker äußerte sich bis dato.

Wer entdeckt die Fehler? Ohne weitere Recherche kann man schon auf der semantischen Ebene die Demagogie spüren. Natürlich sind auch die „zwei ukrainischen Jungs“ Migranten, was sollten sie sonst sein? Eine derartige Schlagzeile hört sich aber in rechten Ohren nicht mehr so gut an: Zwei Migranten werden von einer Migranten-Bande getötet. Das hätte keinen Rechten interessiert. Also muss man so tun, als gehörten die einen als Fast-Bio-Deutsche zu ‚uns‘ und die anderen als Migranten eben nicht. Das stellt die Fakten auf den Kopf. Haupttäter ist ein deutscher Staatsbürger mit türkischem Hintergrund. Opfer des Geschehens aber sind in Wirklichkeit:

die bereits erwähnten zwei 17- und 18jährige Ukrainer,
ein 14jähriger Syrer und
eine 13jährige Deutsch-Libanesin

Man unterschlägt die anderen Opfer einfach, sind ja nur Migranten. Tatverdächtig sind:

ein 14jähriger Grieche,
zwei 14- und 15jährige Syrer und
ein 15jähriger Deutsch-Türke

Die Polizei vermutet, dass diese zu einer bekannten Jugendbande gehören und die anderen Jugendlichen berauben wollten. Das ging grauenhaft schief. Zumindest gilt der Deutsch-Türke als einschlägiger Intensivtäter. Damit stellt sich die Sachlage aber ganz anders dar. Weiterhin gibt es Opfer und der Tat Beschuldigte, aber von den acht am Ereignis Beteiligten sind zwei Deutsche, nämlich ein Opfer und der Haupttäter. Da kann man aber nicht mehr eine so schöne Migranten-feindliche Story draus machen. Das stört Boris Reitschuster überhaupt nicht. Er schreibt:

Und jetzt stellen wir uns einfach mal kurz vor,
die zwei jungen ukrainischen Flüchtlinge wären von Deutschen getötet worden.

Sind sie aber – von einem deutschen Staatsbürger. Und nun? In Potsdam hätte man vermutlich gesagt: diesen nichtintegrierten Deutschen schieben wir ab und alle anderen gleich mit.

Boring

Manche Rechte meinen, die Gesellschaft stehe auf dem Kipppunkt zur Verrohung. Was ist daran dran?

Es ist wieder einmal Zeit, sich mit dem rechten Rand unserer Gesellschaft zu beschäftigen, also jenen, denen beginnend mit der Partei „Die Linke“ bis zur CDU/CSU alles zu linksradikal ist. Ja, diese Leute gibt es, die die CDU für linksextrem halten und sich selbst, obwohl sie eine extrem kleine Gruppe am rechten Rand der Gesellschaft sind, für die Mitte. Und damit das klappt, müssen sie sich als Vertreter einer angeblich schweigenden Mehrheit ausgeben.

Nun schweiNun schweigt die Mehrheit ja gar nicht, sie äußert sich dezidiert. Bei der Bundestagswahl 2021 gab es 61,68 Millionen Wahlberechtigte. Davon haben 76,6 Prozent an der Wahl teilgenommen. Um auf eine schweigende Mehrheit zu kommen, müsste man also 31 Millionen Wahlberechtigte hinter sich wissen. Und die können sich nur bei den Nichtwählern verstecken. Aber auch dann kämen die als „links“ verschrienen Parteien auf eine satte Mehrheit, fast Zweidrittel der Wahlberechtigten votieren für sie. Da bleibt kein Raum für eine alternative „schweigende Mehrheit“. Ich vermute, die Argumentation läuft so, dass man die Nichtwähler, die AfD, die Sonstigen und mehr als die Hälfte der CDU/CSU-Wähler zusammenrechnet, um auf die schweigende Mehrheit zu kommen. Und nicht einmal dann wäre die Mehrheit gesichert.

Natürlich gibt es Einzelthemen, bei denen es Mehrheiten jenseits der politischen Willensbildung der Bevölkerung gibt, etwa bei der Anwendung der Todesstrafe für bestimmte Taten. Aber das hat mit schweigender Mehrheit nichts zu tun.

Einer, der der schweigenden und natürlich rechts-konservativen Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck verhelfen will, ist Klaus Kelle. Er betreibt diverse meinungsstarke, aber selten sachkompetente Portale, mit denen er die Stimmung in Deutschland verändern will. Ein aktueller Aufmacher ist die Behauptung: „Diese Gesellschaft kippt“ (hier oder hier). Nun kippt im Augenblick ja vieles, es hängt immer davon ab, wo man gerade einmal steht. Für manche ist das Klima am Kipppunkt, für andere der gesellschaftliche Konsens (Spaltung), für dritte die Verrohung der Gesellschaft. Zu diesen dritten gehört Kelle

Jeder sieht, dass sich unsere Gesellschaft verändert. Und das, was wir da sehen, ist nicht gut. Als Beobachter und Aufschreiber kann ich mir jeden Tag ein Thema vornehmen und einfach nur Fakten aufschreiben, bei denen Ihnen Angst und Bange wird. Nehmen wir heute mal die Verrohung in unserer Gesellschaft, insbesondere unter Jugendlichen.

Und dann beschreibt er fast schon genüsslich einen Vorfall, bei dem drei Jugendliche einen Obdachlosen getötet haben, verhaftet wurden und dafür nun vor Gericht stehen und verurteilt werden. Und derartige Fälle, so behauptet Kellen anschließend, seien alltäglich:

Glauben Sie bloß nicht, dass das ein bedauerlicher Einzelfall wäre, solche Taten geschehen jeden verdammten Tag

Jeden verdammten Tag? Eine Kriminalstatistik für solche Taten (also Tötungen durch Jugendliche) nennt er nicht. Nach seiner Behauptung müsste es also etwa 365 Mordfälle durch Jugendliche pro Jahr geben. Das kommt mir extrem unwahrscheinlich vor. Nun kann man herausfinden, dass etwas mehr als 30 Minderjährige pro Jahr Opfer von Tötungsdelikten werden. Dagegen werden knapp fünfzig Jugendliche pro Jahr einer derartigen Tat verdächtigt. 50 sind aber keine 365. Statt einer pro Tag, weniger als einer pro Woche. Das ist schon ein Unterschied, zumal wie in diesem Fall ja auch mehrere Jugendliche für dieselbe Tat angeklagt werden. Ich weiß nicht, auf welchen „Werten“ eine rechtskonservative Ideologie basiert, die derart hemmungslos die Wirklichkeit verzerrt. Christliche Werte dürfen es nicht sein.

Deutschland geht vor die Hunde, und die grün-woke „Partycrowd“ tanzt dazu.

Schauen wir uns das einmal an. Wie steht es um die Jugendkriminalität seit 1991, als der von Kelle hochgeschätzte Helmut Kohl die Grundlagen für ein besseres Deutschland legte? Und schauen wir, wie danach während der Kanzlerjahre von Schröder und Merkel alles den Bach runterging. Oder doch nicht? War es vielleicht ganz anders, dass nämlich in der Zeit von Helmut Kohl die Jugendkriminalität so gestiegen ist, dass sie erst von der von Kelle viel geschmähten Angela Merkel gesenkt werden konnte? Man weiß es nicht? Doch:

Ja natürlich, früher war alles besser, bis Helmut Kohl kam. Ihm gelang es nach 1991, also in den letzten 8 Jahren seiner Amtszeit, die Zahl der Verdächtigten von knapp 140.000 auf 302.000 mehr als zu verdoppeln. Auf diesem Niveau hielt sich die Zahl in der Zeit Gerhard Schröders lange und erst unter der geschmähten Angela Merkel ging die Zahl der Verdächtigten deutlich zurück. Wer also die Mär erzählt, unsere Gesellschaft wäre in Sachen Jugendkriminalität an einem Kipppunkt, muss sich noch in der Amtszeit von Helmut Kohl wähnen. Ich bin weit davon entfernt, die gerade genannten Politiker für die Entwicklung der Kriminalitätsstatistik verantwortlich zu machen, nur so einfach, wie Herr Kelle es sich macht, sollte man es sich nicht machen und kontrafaktisch das Gegenteil von dem behaupten, was tatsächlich abgelaufen ist.

Panik erzeugen kann jeder, der Fake-News verbreiten kann, indem er etwa eine Nachrichtenseite aufsetzt. Darum geht es. Die Menschen sollen sich unsicher fühlen und deshalb zu rigiden Law-and-Order-Lösungen greifen, egal, ob die nun von der AfD oder der Werteunion angeboten werden. Da ist es völlig gleich, dass einem alle Fachleute erklären, die Statistik zeige, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Man kann einfach das Gegenteil behaupten – das haben wir durch Donald Trump und seinem postfaktischen Zeitalter gelernt. Die gefühlte Bedrohung bleibt ja bestehen. Und der gewünschte Effekt wird sich schon einstellen.

Konservativer Journalismus war früher auch schon mal besser – aber das ist auch nur so ein Gefühl. Aber früher hat der konservative Journalismus ja auch noch Werte verteidigt und nicht versucht mit dem rechten Rand zu paktieren. Zu Recht hieß es in der ZEIT einmal, der Unterschied der beiden Bewegungen laute: „Die einen wollen zerstören, die anderen erhalten“. Und man hat das Gefühl, einige Konservative wollten dann doch lieber zerstören als bewahren.