Innerhalb nur eines Jahres 2 Mio. Antisemit:innen weniger in Deutschland

Wenn die Zahlen aus statistischen Erhebungen nur noch der Propaganda dienen.

Eine Schlagzeile wie die obige wird man in der deutschen Presse nicht finden, auch wenn sie zutreffend ist. Aber sie passt nicht ins Bild derer, die von gegenteiligen Meldungen profitieren. Mit besorgter Miene meldet sich der Lautsprecher Felix Klein und teilt der Bevölkerung mit, dass der Antisemitismus in Deutschland geringfügig zurückgegangen sei, weltweit aber auf dem höchsten Stand sei: „Negative Stereotype über Juden sind einer Befragung zufolge weltweit so verbreitet wie nie“.

Fangen wir mit Letzterem an: Was meint „wie nie“? In den letzten 80 Jahren, in den letzten 150 Jahren, in den letzten 2000 Jahren? Man weiß es nicht und er sagt es auch nicht. Tatsächlich meint er die letzten 10 Jahre (sic!), denn erst seit 2014 erhebt die ADL den Antisemitismus-Index. So aber entsteht der Eindruck, der weltweite Antisemitismus sei schlimmer als im 19. Jahrhundert, schlimmer als zur Zeit des Nationalsozialismus. Und doch wissen wir alle: das ist er keinesfalls. Aber mit Superlativen arbeiten manche Politiker gerne. Und sie kümmern sich nicht darum, ob die Daten der ADL Globalerhebung überhaupt valide Daten sind, sie lesen sie einfach als Fakten vor. Wer wird das schon nachprüfen?

Ich habe es getan und kann nur sagen, ich halte die Ergebnisse der aktuellen Ausgabe für überaus fragwürdig und unsolide. Befragt wurde 58.000 Menschen in 103 Ländern. Wenn man davon ausgeht, dass nur über 18-Jährige befragt wurden und nicht alle Länder der Erde untersucht wurden (wohl aber die bevölkerungsreichsten), dann müssten die Befragten für 4.780.000.000 Menschen repräsentativ sein. Da scheint mir die Zahl von 58.000 Befragten etwas gering zu sein, um verlässliche Ergebnisse zu bekommen oder man nimmt eine Fehlerquote über 10% in Kauf.

Für Deutschland sind die Ergebnisse nun so, dass 2024 9% der Befragten manifest antisemitische Haltungen haben. Ein Jahr zuvor hatte dieselbe Institution mit derselben Methodologie noch 12% an antisemitischen Haltungen erhoben. Das scheint (wenn die Daten verlässlich sind) auf den ersten Blick keine große Differenz zu sein, ist es aber doch. Die Zahl der Antisemiten ist innerhalb eines Jahres um 25% zurückgegangen. Das kann man als Erfolg verbuchen – es sei denn, man verdankt sein Amt den permanenten Warnungen vor steigendem Antisemitismus.

Noch deutlicher wird das Ganze, wenn man es in Bevölkerungszahlen umrechnet. Befragt werden Deutsche über 18 Jahre. In Deutschland leben knapp 70 Millionen Menschen, die älter als 18 sind. Wenn von 2023 bis 2024 der Prozentanteil von 12% (= 8,4 Mio.) auf 9% (= 6,3 Mio.) zurückgeht, minimiert sich die Zahl der Antisemiten um 2,1 Millionen Menschen. Die verbleibenden 6,3 Mio. Antisemit:innen können zwar in diesem Jahr umso aggressiver und gewalttätiger sein, das ändert aber nichts daran, dass der Antisemitismus (nicht aber die Zahl der antisemitischen Aktivitäten) zurückgeht. Man sollte nun meinen, dem Antisemitismusbeauftragten wäre eine solche Erfolgsmeldung recht: Aber aus unerfindlichen Gründen ist sie das nicht – wobei so unerfindlich ist das nicht. Im Augenblick verschärfen wir zahlreiche Gesetze unter Verweis auf einen angeblich steigenden Antisemitismus, da wären entgegenstehende empirische Befunde gar nicht erwünscht.

Nun aber zur Solidität der Erhebungen des ADL. Ich habe in der Vergangenheit auch regelmäßig auf deren Publikationen und Daten zurückgegriffen, nicht zuletzt, weil sie mir auch plausibel erscheinen. Das ist dieses Mal freilich nicht der Fall. Es gibt derartig eklatante Abweichungen, dass sie rational nicht mehr erklärt werden können. Entweder haben die Daten in früheren Erhebungen nicht gestimmt oder die Daten aus der aktuellen Erhebung sind falsch. Dann kann man aber keine Rückschlüsse auf steigenden oder sinkenden Antisemitismus ziehen.

Ein Beispiel: Das Land, das 2014 vor allen Ländern mit der geringsten Antisemitismusquote herausstach war Laos. Unter den etwa 7,5 Mio. Menschen gab es, folgt man den Daten der ADL, gerade einmal 0,2% manifest antisemitisch Denkende. Das konnte damit erklärt werden, dass a) keine Juden in Laos leben und b) Laos ein buddhistisches Land mit religionstoleranter Haltung ist. 2024, nur 10 Jahre später, offenbart die ADL-Erhebung eine ganz andere Lage. Nun sind mit 45% fast die Hälfte aller Bewohner:innen manifest antisemitisch. Das ist eine sagenhafte Steigerung von 22400% (zweiundzwanzigtausendvierhundert Prozent). Kein Statistiker der Welt wird das für seriös halten. Innerhalb von 10 Jahren soll also das Land mit der geringsten Antisemitismusquote zu einem Land mit einer überdurchschnittlich hohen Antisemitismusquote geworden sein? Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Nehmen wir ein weiteres Land, die Philippinen. Sie waren 2014 jenes Land, mit der zweitgeringsten Antisemitismusquote weltweit. Nur 3% der Bevölkerung dieses katholischen Landes zeigte derartige Einstellungen. Nur 10 Jahre später sollen es 42% sein, eine Steigerung von 1300%. Das ist statistisch völlig unglaubwürdig. Entweder stimmen die Daten von 2014 nicht oder die von 2024. Ähnliches gilt auch für die Zahlen von Vietnam, Tansania oder Uganda. So-lange das nicht aufgeklärt und korrigiert ist, sind keine ethischen und politischen Schlussfolgerungen aus dieser Erhebung möglich.

Wenn die anderen Daten stimmen sollten, könnte man aber vielleicht nicht nur auf das Negative schauen, sondern auch auf das Positive: in Qatar, im Iran, im Irak und auch in Marokko ist der Antisemitismus z.T. deutlich zurückgegangen. Im Iran gäbe es 6 Mio. weniger Antisemiten, im Irak 4 Mio. und in Marokko immerhin noch 2,6 Mio. Das sind gerade in Zeiten eines Nahost-Konflikts doch überraschend positive Meldungen. Aber davon wird man nichts hören.

Und noch etwas: in Zeiten, in denen der Bundestag und die Interessenvertreter:innen immer wieder Resolutionen verabschieden oder fordern, die in die Schulen und Hochschulen eingreifen, wäre es doch auch gut darauf hinzuweisen, dass der Antisemitismus in dieser Altersgruppe der geringste ist und darüber hinaus auch abnimmt, je höher die Bildung ist. Stattdessen müsste also in Erwachsenenbildung investiert werden und eine konsequente Zielgruppenorientierung durchgeführt werden.

Ich bin es jedenfalls leid, mit Zahlen aus nicht begriffenen oder evtl. falsch erhobenen statistischen Erhebungen hinters Licht geführt zu werden. Das ist unseriös, so lässt sich keine Politik machen. Wer Antisemitismus bekämpfen will, sollte nicht mit fragwürdigen Zahlen arbeiten.

Man kann es auch zerreden – Nachtrag zum ESC

Boykottaufrufe sind noch kein Antisemitismus, es kommt auf den Kontext an.

Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, ist sehr begabt darin, alles was geschieht, auf die simple Formel Antisemitismus zu reduzieren. Whatever is, ist Antisemitism. Dieser inflationäre Gebrauch des Etiketts „Antisemitismus“ ist nicht hilfreich, weil dort, wo die Bezeichnung wirklich gebraucht wird, sie keine Trennschärfe mehr entwickelt. Aktuell sagt er mit Blick auf den Eurovision Song Contest und den dort stattfindenden Proteste (nach Wahl!):

»Es entspricht einem gängigen antisemitischen Muster, Israelis kollektiv in Haftung für Handlungen ihrer Regierung oder ihrer Armee zu nehmen, die sie oftmals selbst verurteilen«

Das mag ja sein, nur trifft das in diesem Fall überhaupt nicht zu. Die israelische Künstlerin ist als Vertreterin des Landes Israel dort, das hat der israelische Staatspräsident explizit so gesagt. Also dürfen die Protestierenden die Künstlerin als solche auch wahrnehmen und in den Boykott einbeziehen. Boykottaufrufe sind noch kein Antisemitismus (auch wenn die IHRA das behauptet), sondern legitimes Mittel im politischen Kampf. Das betont auch das von der amerikanischen Regierung zugrunde gelegt Nexus-Papier zum Verhältnis zum Antisemitismus. Sie ermahnen die Adressat:innen unter der Überschrift Verwechseln Sie Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus:

  • Kritik an der Politik der israelischen Regierung oder eine Ablehnung derselben ist nicht antisemitisch.
  • Harte Charakterisierungen Israels, die unfair sein mögen, sind nicht unbedingt antisemitisch.
  • Selbst Yitzhak Rabin warnte einst, dass die Aufrechterhaltung der Besatzung zu Apartheid führen würde. Er war sicherlich kein Antisemit.
  • Gewaltfreie Aktionen, die auf eine Änderung der israelischen Politik drängen, sind nicht generell antisemitisch.
  • Der Boykott von Waren, die im Westjordanland und/oder in Israel hergestellt werden, ist nicht antisemitisch, es sei denn, er richtet sich speziell gegen Israel wegen seines jüdischen Charakters.

Man kann beobachten, dass die Protestierenden das auch so machen, denn die andere jüdische Künstlerin auf dem Festival, Tali Golergant (* 2000 in Jerusalem), die Vertreterin Luxemburgs, wird ja nun gerade nicht für Israel verantwortlich gemacht. Ja, es ist so, Künstler:innen, die  für Israel auftreten. leiden enorm unter den Boykottaufrufen. Aber erkennbar geht es in diesem konkreten Fall nicht um ihr Jüdischsein, sondern um die Repräsentanz für den Staat Israel. Einen Boykott fordern dürfen die Protestierenden also, es kommt auf die Veranstalter:innen an, dass sie dem konsequent widerstehen.

Und wie die europäische Bevölkerung gezeigt hat, kann man durch simple Gesten ganz bewusst Zeichen setzen. Das ist 1000mal wirkungsvoller, als der inflationäre Gebrauch des Wortes „antisemitisch“. Meine Tageszeitung hat alle ihre Leser:innen aufgefordert, am 11.05.2024 zum Telefon zu greifen, um Israel zu wählen. Und wie ich sehe, haben sich offenbar sehr viele Menschen in Deutschland auch so entschieden. Das ist ein gutes Zeichen.

ESC ist positive Kulturpolitik

Das Televoting zum ESC gibt ein ermutigendes Zeichen in Sachen Solidarität mit Israel.

https://eurovisionworld.com/eurovision/2024#switzerland

Der Eurovision Song Contest betont immer, er sei eine unpolitische Veranstaltung. Das muss er wohl auch, um nicht zur politischen Propaganda-Plattform zu werden. Dennoch ist er natürlich durch und durch politisch. Weniger in dem, was die Gruppen singen, sondern in dem, wie die Menschen europa- und inzwischen ja auch weltweit abstimmen. Das wurde dieses Mal besonders deutlich. Während alle auf die Schreihälse vor und in der Konzerthalle starrten, stimmte die europäische Bevölkerung ab – und das ziemlich eindeutig. Gehen wir einmal davon aus, dass der israelische Beitrag für alle erkennbar nicht der beste und auch nicht der zweit- oder drittbeste war, dann kann das Abstimmungsverhalten der europäischen Bevölkerung nur als eindrückliches kulturpolitisches Zeichen gelesen werden. Was immer Grata Thunberg und ihre propalästinensischen Mitstreiter:innen vorab und parallel agitiert haben, die europäische Bevölkerung, soweit sie überhaupt am ESC interessiert war, hat das nicht gekümmert. Sie wollten ein Zeichen der Solidarität mit Israel geben. Während die deutsche Publizistik und diverse Lobbyist:innen beredt über den grassierenden Antisemitismus klagten, griffen die Menschen in Europa zum Telefonhörer und setzten ein kulturpolitisches Zeichen.

  • 15 nationale Televotings setzen Israel auf Platz 1
    (Australien, Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien und der sog. Rest der Welt).
  • 7 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 2
    (Albanien, Irland, Moldavia, Österreich, Slowenien, Tschechien, Zypern).
  • 3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 3
    (Dänemark, Georgien, Island)
  • 3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 4
    (Aserbaidschan, Griechenland, Lettland).

Damit haben 28 von 37 nationalen Televotings Israel aus kulturpolitischen Gründen hervorgehoben (wenn man davon ausgeht, dass Platz 5 eine angemessene Wertung wäre). Das ist ein eindrucksvolles Zeichen der Solidarität. Und die, so vermute ich, bezog sich weniger auf den Nahost-Konflikt selbst, sondern vor allem auf die unangemessenen Versuche von Aktivist:innen, Israel und Jüd:innen aus der Kultur auszuschließen. Dagegen wollte man protestieren und ein Zeichen setzen. Die Solidarität, unter den Künstler:innen des ESC nicht wirklich funktionierte (das Verhalten Griechenlands und der Niederlande während der Pressekonferenz war unsäglich), wurde stattdessen von den Menschen in Europa durch ihre Abstimmungen zum Ausdruck gebracht. Dass Jury und Publikum aus der Ukraine und aus Kroatien jeweils 0 Punkte gaben, dürfte eher aus taktischen Gründen geschuldet sein, um einen Mitkonkurrenten zu begrenzen. Israel dagegen hat alle unmittelbaren Konkurrenten bedacht. Dass Israel bei seinem Voting die einzige weitere Jüdin im Wettbewerb bevorzugt (24 Punkte für Luxemburg), kann man nachvollziehen.

Was mir aber wichtig ist, dass den Menschen europaweit der Boykott-Aktivismus a la BDS und Thunberg zunehmend auf den Keks geht. Sie setzen der kulturpolitischen Ausgrenzung ein kulturpolitisches Zeichen entgegen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn derartige Wettbewerbe ganz frei von solchen Auseinandersetzungen wären, aber seien wir ehrlich: Der ESC ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein kulturelles Kampffeld – für Diversität, Queerness, für ein liberales und offenes Europa. Jene aber, die Kultur als ein rein politisches und national-politisches Kampffeld begreifen, sind dieses Mal krachend gescheitert, kaum jemand in Europa wollte ihnen folgen, selbst in jenen Ländern nicht, wo die größten Communitys der Palästinenser in Europa sind: Frankreich (mehr als 100.000), Schweden (bis zu 75.000), Großbritannien und Deutschland (offiziell 8000, geschätzt 175.000 bis 225.000) gaben im Televoting jeweils 12 Punkte für Israel.

Wäre ich pro-palästinensischer Aktivist, würde mir das zu denken geben. Offenbar ist die aktuelle Form des Aktivismus völlig kontraproduktiv, es stärkt die Seite, die man doch kritisieren will. Ich vermute, dass sich auch jenseits der kulturpolitischen Kampffelder dieser Effekt einstellt, also etwa im Blick auf die Universitäten und andere gesellschaftliche Bereiche.

Für die pro-israelisch Engagierten gäbe es dagegen Anlass zu viel mehr Gelassenheit und Souveränität. Man agiert aus einer Situation, in der ein Großteil der europäischen Bevölkerung hinter einem steht und dort Zeichen setzt, wo die liberale Kultur bedroht ist. Das spricht dafür, weniger auf kulturpolitische Begrenzungen und Vorgaben zu setzen, sondern den Rezipient:innen in Europa zuzutrauen, selbst Stellung zu beziehen. Das ist immerhin ein ermutigendes Zeichen.

P.S. Wie ich gerade sehe, geht der Kommentar von Jan Feddersen in der taz in dieselbe Richtung: Volksabstimmung pro Israel.

Israelisch-Palästinensische Perspektiven – Kunstraum hase29 Osnabrück

Israelisch-Palästinensische Perspektiven – eine Ausstellung samt Vortragsprogramm im Kunstraum hase29 Osnabrück

Vor dem Hintergrund des wiedererstarkenden Antisemitismus in Deutschland, der zunehmenden Bedrohung jüdischer aber auch muslimischer Menschen und angesichts der Polarisierung zwischen Personen, die entweder der israelischen oder der palästinensischen „Seite“ zuneigen, setzt der Kunstraum hase29 in Osnabrück mit dem umfangreichen Veranstaltungsprogramm „Israelisch-Palästinensische Perspektiven“ ein Zeichen der Solidarität und Verbundenheit mit den Opfern des durch die Hamas verübten Terrorakts vom 7. Oktober 2023 sowie mit den Opfern der daraus folgenden kriegerischen Handlungen in Israel und Gaza.

Das Veranstaltungsprogramm schafft einen Raum für Begegnung und Austausch, der differenzierte Perspektiven eröffnet und das Publikum dazu einlädt, sich mit der israelischen und palästinensischen Kultur auseinanderzusetzen. In Zeiten zunehmender Polarisierung möchten wir zu friedvollen und demokratischen allerdings auch durchaus kritischen Dialogen animieren und einen Beitrag zum interkulturellen Miteinander in der Friedensstadt Osnabrück leisten.

Popkultur – Religion – Israel II

Das Heft 147 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es hat zwei Schwerpunkte: das Thema Popkultur und Religion sowie den aktuellen Konflikt im Nahen Osten.

Editorial

Gespräch mit Herbert Falken (1932-2023)
Ein Zeitdokument des Jahres 1978
Horst Schwebel [16 S.]

VIEW

Ohne Plural weder Kunst noch Bibel
Oder: Von Fragenstellern, Schuhmachern und Bezugskünstlern
Matthias Surall [14 S.]

Nichts und wieder Nichts – Writing‘s on the Wall
Depeche Mode und Anton Corbijn 2023
Andreas Mertin [20 S.]

✡ ISRAEL ✡

Israel, Religion, Kunst
Verstreute Notizen
Andreas Mertin [16 S.]

Cultural Appropriation
Der Missbrauch der Weihnachtsgeschichte im Nahost-Konfikt
Andreas Mertin [12 S.]

Greta Thunberg, how dare you?
Klima retten ist etwas anderes, als Propaganda gegen Israel zu betreiben
Andreas Mertin [10 S.].

Das inszenierte Leid
Werbung als Aufklärung – Apologie der inkriminierten Zara-Werbung
Andreas Mertin [8 S.]

CAUSERIEN

„Strike Germany“ – Selten so gelacht
Eine Realsatire
Andreas Mertin [4 S.]

B lockwarte – D enunzianten – S pielverderber
Über die Totengräber der Kultur
Andreas Mertin [10 S.]

RE-VIEW

The Nordic Bible
Eine Rezension
Claudia D. Bergmann

Unter Beteiligung
Buchhinweise
Redaktion [1 S.]

Rückblick Biennale 2011: Israel oder die Poetik des Politischen

Ein Rückblick auf den israelischen Pavillion auf der Biennale di Venezia 2011.

Zur Biennale di Venezia 2011 schrieb ich auch über den Pavillon Israels und ich zitiere das hier noch einmal, weil es inzwischen eine noch größere Aktualität bekommen hat:

Wie eine wirkliche radikale und überzeugende Poesie des Politischen aussieht, zeigt dieses Mal der Pavillon Israels. In all den Jahren zuvor fand ich diesen Pavillon immer zu reduziert, zu wenig aussagekräftig, zu uninspiriert. Das ist dieses Jahr ganz anders. Der Künstlerin Sigalit Landau ist es gelungen, einen ebenso poetischen wie politischen Pavillon zu gestalten, ebenso erzählerisch wie formal reduziert. So stelle ich mir Kunst der Gegenwart vor. Auch sie operiert mit einer Baustellensituation, mit cineastischen Elementen, die ich bei Anderen kritisiert habe. Aber sie tut es künstlerisch überzeugend. Es gelingt ihr, die komplexe Raumsituation des israelischen Pavillons im wahrsten Sinne zusammenzubinden. Und sie schafft eine Verbindung verschiedener Einzelwerke, die den Besucher überzeugt und zu künstlerisch vermittelten Erkenntnissen führt. ‚One man’s floor is another man’s feeling‘ steht auf dem Pavillon geschrieben. Wer den Pavillon betritt stößt zunächst in der unteren Ebene auf die Installation ‚King of the shepherds and the concealed part‘, die große Metallrohre durch das gesamte Gebäude führt. Dazu hat sie eine Wand aufgebrochen und die Rohre hindurchgeführt und diese dann weitergeleitet, so dass sie noch oben und nach draußen führen. Die Rohre verbinden alles, ein mechanisches Netzwerk des Wassertransports, zugleich eine Metapher für die schicksalhafte Verbindung der Menschen. Von der unteren Ebene führen zudem Wasserleitern hinauf zur dritten Ebene des Hauses. Noch auf der unteren Ebene stößt der Besucher dann auf die Videoarbeit ‚Azkelon‘, eine Verschmelzung der Namen Gaza und Ashkelon, zwei Städte, die durch eine Grenze getrennt sind, auch wenn sie am selben Strand liegen. „Azkelon“ zeigt junge Männer beim Spiel „Countries“, ein Spiel, bei dem man mit einem Holzmesser im Sand Grenzen markiert, durchbricht und erweitert. Ein anderes Video ‚Mermaids. Erasing tghe border of Azkalon‘ zeigt drei Frauen am Strand, die mit Händen und Fingernägeln Spuren in den Sand graben, die sofort wieder vom Meer verwischt werden. Geht man in das obere Stockwerk, sieht man die Videoarbeit ‚Salted Lake‘, die in Salz getränkte Schuhe auf einem gefrorenen See zeigen. Nur scheinbar geschieht in dieser Sequenz nichts, in Wirklichkeit sinken die Schuhe, da das Salz das Eis zum Schmelzen bringt, immer tiefer ein bis sie versinken. Auf der sich anschließenden zweiten Ebene sieht man die Installation ‚Salt bridge summit‘ mit zwölf Laptops auf einem runden Konferenztisch, die unter dem Tisch in einem Kabelgewirr verbunden sind. Auf den Bildschirmen der Laptops sieht man die Beine und Schuhe der Konferenzteilnehmer. Ein kleines Mädchen krabbelt unter dem Tisch und verbindet alle Schnürsenkel der Schuhe zu einem großen Kreis. Diesen Schuh-Kreis wird der Besucher als Installation „O my friends, there are no friends“ im Hinterhof des Pavillons wieder finden. Aber es sind Bronze-Schuhe auf einem Nicht-Monument, das eine Erinnerung festhält.

Sigalit Landaus Arbeit ist bei aller klaren Zielrichtung ihres Engagements in Sachen Israel und Palästina polyvalent bis ins letzte Detail. Es ist kein Agit-Prop, dem wir hier beiwohnen, sondern eine die Wirklichkeit verändernde Kraft der Poesie. Man kann jede Arbeit einzeln betrachten oder man kann die Arbeiten kontextualisieren – untereinander und im größeren politischen und geografischen Zusammenhang.

Daher bin ich gespannt, wie der Beitrag im Pavillon von Israel 2024 aussehen wird, für den die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit die Künstlerin Ruth Patir eingeladen haben.

Yael Bartana

Beobachtungen zum deutschen Beitrag auf der Biennale di Venezia 2024

Im Herbst 2011 schrieb ich in tà katoptrizómena über den polnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig:

Atemberaubend ist der polnische Pavillon, der von der Utopie eines Wiederauflebens eines Jewish Renaissance Movements handelt. Die Künstlerin YAEL BARTANA sinnt uns die Rückkehr der aus Polen vertriebenen Juden als scheinbares politisches Programm an. Was wäre, wenn nicht Israel, sondern Polen der neue Zufluchtsort jener wäre, deren Großeltern einmal das Land vor dem Naziterror verlassen mussten? Die Ästhetik, mit der sie diese politische Programmatik inszeniert, ist dabei bewusst an die Parteitagspathetik der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts angelehnt, so dass einem wirklich der Atem stockt. Ich stelle mir vor, etwas Ähnliches gäbe es in Deutschland oder im deutschen Pavillon: die Forderung der Rückkehr von 3,3 Millionen Juden zur Etablierung einer politisch-bedeutsamen Bewegung hierzulande. Wäre so eine Ausstellung überhaupt denkbar? Es zeigt auch den Mut Polens, dieses Risiko eingegangen zu sein. Aber es geht nicht nur um die Kontrastierung von politischer Idee und ästhetischer Inszenierung, sondern auch um die Frage, was Multikulturalismus in der Gegenwart bedeuten könnte, wie Identitätsbildung in einer globalisierten Welt funktionieren könnte. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist dabei nur ein Fokus, an dem man das diskutieren kann, die Fragestellung geht aber weit darüber hinaus. Ein provozierender und erkenntnisproduktiver Pavillon. [Mertin, Andreas (2011): Die 54. Biennale in Venedig. Spaziergänge auf der Insel der Kunst. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 13, H. 73. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/73/am367.htm.]

Umso erfreuter war ich, als ich las, dass Çağla Ilk, die Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der Biennale di Venezia 2024, u.a. YAEL BARTANA für die künstlerische Präsentation ausgewählt hat. Yael Bartana ist eine der renommiertesten Künstlerinnen dieser Welt und zugleich eine herausragende Repräsentation der israelischen Gegenwartskunst.

Titel und Thema des gesamten deutschen Beitrags lautet „Thresholds“ (Schwellen). Im Interview mit der taz sagte die Kuratorin:

„Wir erleben gerade in Deutschland, wie extrem Menschen in einem nationalstaatlichen, territorialen Denken verhaftet sein können, das unseren Diskurs über Geschichte und damit auch über Zukunft beherrscht. Wir werden das nicht ändern, aber wir können zumindest andere Vorschläge machen. Veränderung fängt da an, wo ich mir der Vorläufigkeit meiner Position bewusst werde. Der Ort dafür ist die Türschwelle zwischen zwei Räumen … Im Deutschen Pavillon kommen mit Yael Bartana und Ersan Mondtag zwei Künst­le­r:in­nen zusammen, für die die Auseinandersetzung mit den zeichenhaften Fragmenten der Vergangenheit und die politische Auseinandersetzung mit den Bildwelten der Gegenwart auf extrem unterschiedliche Art wesentlich ist.“

Das lässt auf einen interessanten Beitrag hoffen, zumal die Kuratorin den ästhetisch vorbelasteten deutschen Pavillon um eine Klangintervention auf der Insel La Certosa erweitert hat. Mit Jan St. Werner, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Michael Akstaller werden sich vier Künstler:innen auf unterschiedliche Art mit der akustischen Entgrenzung von Räumen beschäftigen.

Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi im Gespräch über die Juden im Koran und in der Perspektive muslimischer Gesellschaften.

Ourghi, Abdel-Hakim (2024): »Eine heikle Angelegenheit«. Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft. In: Jüdische Allgemeine, 07.01.2024.

Online verfügbar unter https://www.juedische-allgemeine.de/politik/eine-heikle-angelegenheit/

Weihnachten in Kriegszeiten

Weihnachten findet nicht nur an idyllischen Orten statt.

Ginge es bei den Karikaturen der arabischen Karikaturisten nicht völlig faktenfrei um den durch und durch kommerzialisierten Santa Claus der US-amerikanischen Weihnachtsindustrie (der auch in der westlichen Welt nur in den allerseltensten Fällen zu den wirklich Armen kommt), sondern um das von Lukas beschriebene Geschehen der Zeitenwende, das dort in der heutigen Westbank, also in Bethlehem lokalisiert wird, und wollte man es mit den Ereignissen im Gaza-Streifen verbinden, dann müsste man es mit einem Weihnachtsbild wie dem von Albrecht Altdorfer verknüpfen. Zumindest zeigt sich bei Altdorfer, wie stark auf den arabischen Karikaturen die Weihnachtsbotschaft verzerrt wird. Bei Altdorfer finden wir keine Idylle, keinen fetten Weihnachtsmann, der freigiebig seine Geschenke verteilt, hier wird jene Situation deutlich, in der Menschen in äußerst verzweifelter Situation keinen Platz mehr in irgendeiner Herberge finden.

Gleiches gilt für das Bild aus der Donauschule, das Wolf Huber zugeschrieben wird. und vielleicht die kleine Eiszeit spiegelt.

Die Unwirtlichkeit der Situation führt aber nicht dazu, dass das Weihnachtsgeschehen gar nicht erst stattfindet, sondern es vollzieht sich geradean einem solchen Ort. Das ist das Besondere der Weihnachtserzählung, dass sie eben nicht in der Großstadt, sondern im irgendwo stattfindet, dass sie uns nicht irgendwelche glitzernden Geschenke verspricht, keinen eitlen Tand oder irgendwelche Luxusgüter. Hier kommt aber auch nicht, wie manche meinen, ein geopolitischer Befreier zur Welt, der nun die Palästinenser in ihren Befreiungskampf oder in den Märtyrertod führt. All das ist nicht mit der Weihnachtserzählung verbunden.

Aber die Geburt des Gottessohnes ereignet sich dort, wo sonst niemand hingehen würde, er ereignet sich am unwahrscheinlichen Ort. Das ist zumindest die Hoffnung der Christen.