Robert Reich: Die zehn Gebote des Widerstands

Robert Reichs Aufruf zum Widerstand gegen ungerechte Verhältnisse

Man ist doch immer wieder überrascht, wie weit entwickelt die Widerstandsbewegung in den USA ist und wie verkümmert sie bei uns in Deutschland ist. Bei uns reicht es, wenn 100.000 auf die Straße gehen, um gegen rechts protestieren, aber damit ist noch keinem der von den Rechten Bedrängten geholfen. Ganz anders und ganz pragmatisch geht dagegen der frühere Arbeitsminister der USA, Robert Reich, vor, der auf seiner Website „Zehn Wege, Trump zu widerstehen“ veröffentlichte. Ich nenne sie in der Folge seine 10 Gebote, weil mir das theologisch naheliegender ist. Sein Eröffnungsbild ist die amerikanische Flagge, die aber wie Erdschollen in der Sonne unter der Hitze ausdunstet und zerbricht.

Robert Reichs erstes Gebot lautet: Schützen Sie die anständigen und hart arbeitenden Mitglie-der Ihrer Gemeinschaften, die keine Papiere besitzen oder deren Eltern keine Papiere besitzen. Das hört sich so selbstverständlich an, aber ist es ganz und gar nicht. In Deutschland unterstützt der allergrößte Teil der Gesellschaft die Abschiebung derer, die keine ausreichende Legitimation haben. Die Aufforderung, gerade sie zu schützen, ist daher etwas Besonderes.

Sein zweites Gebot lautet: Schützen Sie die LGBTQ+-Mitglieder Ihrer Gemeinschaft. Trump könnte das Leben für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queers und andere Menschen durch Durchführungsverordnungen, Gesetzesänderungen, Änderungen der Bürgerrechtsgesetze oder Änderungen bei der Durchsetzung solcher Gesetze erheblich erschweren. Noch(!) ist diese Gruppe in unserer Gesellschaft durch staatliche Maßnahmen nicht so gefährdet wie in den USA, aber es ist wichtig daran zu denken und darauf vorbereitet zu sein.

Sein drittes Gebot lautet: Helfen Sie mit, Beamte in Ihrer Gemeinde oder Ihrem Bundesstaat zu schützen, gegen die von Trump und seiner Regierung zur Rache angestiftet wird. Bei einigen handelt es sich vielleicht um Beamte der unteren Ebene, wie z. B. Wahlhelfer. Wenn sie nicht über die Mittel verfügen, sich rechtlich zu verteidigen, können Sie ihnen helfen oder eine Go-Fund-Me-Kampagne in Erwägung ziehen. Wenn Sie von jemandem hören, der ihnen schaden will, alarmieren Sie sofort die örtlichen Strafverfolgungsbehörden.

Sein viertes Gebot lautet: Beteiligen Sie sich oder organisieren Sie Boykotte von Unternehmen, die das Trump-Regime unterstützen, angefangen bei Elon Musks X und Tesla sowie allen Un-ternehmen, die bei X oder auf Fox News werben. Unterschätzen Sie nicht die Wirksamkeit von Verbraucherboykotten. Unternehmen investieren viel in ihre Markennamen und den damit verbundenen Goodwill. Laute, lautstarke, aufmerksamkeitsstarke Boykotte können den Marken-namen schaden und die Aktienkurse der Unternehmen senken. Das wäre ein höchst dringlicher programmatischer Ansatz in Deutschland, konkret gegen Diskriminierung vorzugehen.

Sein fünftes Gebot lautet: Unterstützen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten Gruppen, die gegen Trump prozessieren. In Deutschland wären das jene Gruppen, die gegen die AfD aufstehen und gegen sie prozessieren. Das zumindest erfüllen die Protestierenden auf unseren Straßen.

Sein sechstes Gebot lautet: Verbreiten Sie die Wahrheit. Besorgen Sie sich Nachrichten aus zuverlässigen Quellen und verbreiten Sie sie. Wenn Sie hören, dass jemand Lügen und Trump-Propaganda verbreitet, einschließlich lokaler Medien, widersprechen Sie ihm mit Fakten und den entsprechenden Quellen. Und dann nennt er eine Reihe von Quellen, denen er vertraut. Auch das wäre für Deutschland ein interessanter Punkt: welchen Medien können wir vertrauen?

Sein siebtes Gebot lautet: Fordern Sie Freunde, Verwandte und Bekannte auf, Trump-Propaganda-Sender wie Fox News, Newsmax, X und zunehmend auch Facebook und Instagram zu meiden. Sie sind voll von hasserfüllter Bigotterie und giftigen und gefährlichen Lügen. Manche Menschen können diese Propagandaquellen auch süchtig machen; helfen Sie den Men-schen, die Sie kennen, sich von ihnen zu entwöhnen. Gilt nicht nur in den USA, sondern überall.

Sein achtes Gebot lautet: Setzen Sie sich für fortschrittliche Maßnahmen in Ihrer Gemeinde und Ihrem Staat ein. Lokale und staatliche Regierungen haben nach wie vor große Macht. Schließen Sie sich Gruppen an, die Ihre Stadt oder Ihren Staat voranbringen, im Gegensatz zu den regressiven Maßnahmen auf Bundesebene. Betreiben Sie Lobbyarbeit, organisieren Sie und sammeln Sie Spenden für fortschrittliche Gesetzgeber. Unterstützen Sie progressive Politiker.

Sein neuntes Gebot lautet: Ermutigen Sie die Arbeiter zu Aktionen. Die meisten Gewerkschaf-ten stehen auf der richtigen Seite – sie wollen die Macht der Arbeitnehmer stärken und sich gegen Unterdrückung wehren. Sie können sie unterstützen, indem Sie sich an Streikpostenket-ten und Boykotten beteiligen und die Beschäftigten in den Betrieben, die Sie besuchen, ermuti-gen, sich zu organisieren. Auch das gilt weltweit.

Sein zehntes Gebot lautet: Behalte den Glauben. Geben Sie Amerika nicht auf. Denken Sie daran, dass Trump die Volksabstimmung mit nur 1,5 Punkten Vorsprung gewonnen hat. Nach al-len historischen Maßstäben war das eine knappe Angelegenheit. Im Repräsentantenhaus haben die Republikaner mit fünf Sitzen den geringsten Vorsprung seit der Großen Depression. Im Se-nat haben die Republikaner die Hälfte der für 2024 anstehenden Senatswahlen verloren, darunter in vier Staaten, die Trump gewonnen hat. Den Kampf optimistisch angehen: Wir schaffen das!

Und am Ende fügt Robert Reich hinzu: Achten Sie bitte darauf, dass in Ihrem Leben auch Platz für Freude, Spaß und Lachen ist. Lassen Sie sich nicht von Trump und seiner Finsternis vereinnahmen. Genauso wie es wichtig ist, den Kampf nicht aufzugeben, ist es von entscheidender Bedeutung, auf sich selbst aufzupassen. Wenn Sie von Trump besessen sind und in den Kaninchenbau der Empörung, Sorgen und Ängste abtauchen, werden Sie nicht in der Lage sein, weiter zu kämpfen. Mit Wolf Biermann gesungen:„Du lass Dich nicht verhärten in dieser harten Zeit, die allzu hart sind, brechen, die allzu spitz sind, stechen und brechen ab sogleich …“

Man müsste nun überlegen, was das Pendent dafür in unserer Gesellschaft wäre, was die EKD oder die DBK auf ihren Seiten programmatisch zu sagen hätte – nicht um Parteipolitik zu betreiben, sondern um die Gefährdeten und die Benachteiligten zu schützen und den Gläubigen klar zu machen, dass die Aufforderung zur Gnade, die die Bischöfin Budde an Donald Trump richtete, eben auch eine Aufforderung ist, die an jeden einzelnen Christen geht.

Nur Bilder, keine Geschichten?

Nach dem Streit um das angebliche Abendmahlsbild bei der olympischen Eröffnungsfeier 2024 in Paris lohnt es sich, sich auch einmal mit der Mythologie des tatsächlich verwendeten Bildes zu beschäftigen. Und die ist erschreckend: menschen- und queer-feindlich.

[Den ausführlichen Text finden Sie hier: www.theomag.de/151/index.htm]

Bei der Diskussion um die religiösen bzw. mythologischen Bilder, die auf der Eröffnungsfeier der olympischen Sommerspiele 2024 in Paris Verwendung fanden, galt die Hauptaufmerksamkeit jenem „Bild“, in dem einige religiöse Menschen eine Darstellung der Eucharistie erkennen wollten. Nach all den zwischenzeitlichen Debatten kann nun eines sicher gesagt werden: es handelt sich nicht um eine Darstellung eines Abendmahles, wohl aber um das Bild eines olympischen Festes, dessen Mahltisch nach dem Abendmahl von Leonardo da Vinci in Mailand konstruiert wurde. Insofern laufen die Angriffe der Bischöfe und ihrer lautstarken Unterstützer:innen ins Leere. Wenig beachtet wurde leider in der Diskussion, welches mythologische Bild für die Szene auf der Brücke über der Seine verwendet wurde. „Fest der Götter“ hört sich harmlos und anlassbezogen korrekt an. Und von der „Hochzeit von Peleus und Thetis“, die von den Göttern gefeiert wird, weiß der normale Mensch nichts. Was könnte schon an einer Hochzeitsfeier problematisch sein? Es geht doch nur um ein Bild – nicht um eine Geschichte. So jedenfalls bekundete es einer der Planer der Eröffnungsfeier, der Historiker Boucheron im Interview mit der FAZ. Aber ganz so ist es nicht, es unterschätzt die Macht der Bilder und es unterschätzt die Macht der Erzählung (der Geschichte), die in den Bildern zur Darstellung kommt. Im Paris des Jahres 2024 wird ein Wettstreit von Sportler:innen (und Nationen) gefeiert, der angeblich offen, frei und für alle zugänglich ist. Inzwischen wissen wir, dass das nicht wahr ist, dass die Diskussionen über Identität und Nationalität die sportlichen Aktivitäten (nicht nur beim Boxen) überlagern.

Aber darum geht es mir im Folgenden nicht. Als Kunsthistoriker interessierte es mich, worauf sich die queere Community mit jenem tatsächlich verwendeten Bild bezog, das dann zum Anlass der kontroversen Diskussionen wurde. Und da war ich dann doch einigermaßen erschrocken. Ich habe selten eine derartig anti-queere und menschenfeindliche Mythologie gelesen, wie die dem Bild zugrunde liegende.

Um es kurz zu sagen: das Bild zeigt uns eine Feier der olympischen Götter, die sich bei einem bachanalen Mahl darüber freuen, dass ein queeres Wesen von einem Mann in einer Höhle überfallen, vergewaltigt und geschwängert wurde! Die Götter hatten diesen Überfall kunstvoll orchestriert, denn es war ein Puzzlestein in ihrem Plan, die Menschheit endgültig zu vernichten. Dazu musste ein Sterblicher die Nereide Thetis gegen ihren expliziten Willen schwängern, damit sie in der Folge den fast unschlagbaren Kriegshelden Achilles gebären sollte.

Die Nereide Thetis aber versteht und verhält sich queer, weshalb Peleus sie gewaltsam daran hindern muss, andere Identitäten anzunehmen und er muss sie auf ihre biologische Identität als Frau zurückführen: „Zwinge sie, was sie auch sei, bis früheres Wesen sie herstellt.“ Nur so kann sie ihren reproduktiven Pflichten nachkommen und Achilles gebären. Und dieser Achilles soll zum trojanischen Krieg beitragen, mit dem Zeus den Untergang der Menschheit realisieren wollte. Gaia, die Mutter Erde, hatte sich bei ihm beschwert, dass die Menschen ihr allmählich zur Last fielen und sich vor allem gotteslästerlich verhielten, weshalb Zeus sie doch bitte schön vernichten möge. Und weil mit der Vergewaltigung der Thetis der erste Teil des Planes funktioniert hatte, feiern nun die Götter ausgelassen und statten den Vergewaltiger Peleus im Rahmen des Festes mit den mächtigsten Waffen der Zeit aus.

Soweit zur ganz und gar nicht menschen- und queer-freundlichen Grunderzählung, die in Paris beiläufig reproduziert wurde. Aufgefallen ist das nicht, weil wir als Zeitgenoss:innen des 21. Jahrhunderts nur einen nackten Bacchus zu sehen brauchen, um unser Gehirn abzuschalten und in einen Weinrausch zu verfallen. Aber Dionysus ist eine durch und durch ambivalente Gestalt und die griechisch-römischen Götter sind es auch. Ich fand es deshalb sinnvoll, einmal die gerade paraphrasierte Geschichte(n) aus dem ersten und zweiten Buch der Kypria (500 v.Chr.) und den Metamorphosen des Ovid zu rekonstruieren, die dem Pariser Bild zugrunde liegt.

Die Planer der Pariser Eröffnungsfeier haben sich darüber hinaus bei der Konzeption auf Walter Benjamin berufen, dessen Denkbilder und geschichtsphilosophischen Thesen sie inspirierend  fanden. Nur vom Christentum wollten sie nichts wissen. Meine zweite Frage ist daher, ob man Walter Benjamin so einfach beerben kann, ohne auf die explizite Messianität seiner Gedanken einzugehen. Funktioniert der türkische Schachspieler aus Benjamins erster geschichtsphilosophischer These auch ohne den theologischen Zwerg in seinem Innern? Ich glaube nicht.

Beide Aspekte habe ich in einem Aufsatz bearbeitet, der im nächsten Heft 151 von tà katoptrizómena erscheinen wird, aber jetzt schon von der Container-Seite des kommenden Heftes aufgerufen, gelesen und heruntergeladen werden kann. Sie finden ihn unter folgender Adresse: www.theomag.de/151/index.htm

tà katoptrizómena wird 150

Das Heft 150 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es ist ein Jubiläumsheft und wirft einen Blick auf die Geschichte des Magazins.

Editorial

VIEW

Achtundsechzig. Sechsundachtzig
Versuch einer Laudatio auf ‚tà katoptrizómena‘,
zugleich Blatt- und Selbstkritik
Wolfgang Vögele [12 S.]

Only for a moment, and the moment’s gone
tà katoptrizómena in Kontinuität und Wandel
Andreas Mertin [42 S.]

tà katoptrizómena als protestantisches Spiegelschiff
Von Smakken, Kuffen, Galioten und anderen (publizistischen) Transportmitteln
Andreas Mertin [6 S.]

CAUSERIEN

„Nicht schon wieder!“
Wann hört diese Krawall-Theologie endlich auf?
Andreas Mertin [14 S.]

Schlager-Theologie? Sich (nicht) einlullen lassen …
Heidschi Bumbeidschi bum bum – Teil III
Andreas Mertin [22 S.]

LEBENSKUNST

Gemeinsame Anstrengung: Lebenskunst.
Erinnerung an ein zentrales theologisches Thema samt kurzem Bericht
von einer wissenschaftlichen Tagung in Wildbad-Rothenburg
Wolfgang Vögele [10 S.]

MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

Und das nennt ihr „Blasphemie“?
Olympia und ein Fresko von Leonardo da Vinci

Nur meinungsstark ist ja auch keine Lösung.
Über woken Anti-Wokismus und kulturpolitische Schuldzuweisungen.

Raum ist in der kleinsten Hütte.
Von Rehen, Lichtkegeln und protestantischer Raumlehre

Kannibalismus „unter dem Deckmantel der Kunst“?
Eine Osnabrücker Posse in drei Akten

Unaufgeklärtes Denken.
Eine Linzer Posse

RE-VIEW

Bill Viola (1951-2024)
Andreas Mertin [2 S.]

Radikaler Universalismus jenseits von Identität
Eine Buchempfehlung
Andreas Mertin [4 S.]

Kapitalismus – Popkultur – Universitäre Kultur
„Sehnsucht nach dem Kapitalismus“ – Eine Rezension
Andreas Mertin [12 S.]

Never again

Der sehr empfehlenswerte Verfassungsblog veranstaltet gerade ein Blog-Symposium zum Thema „Never again“. Bisher war jeder der eingestellten Beiträge absolut lesenswert.

Die Initiatoren schreiben zu ihrem Symposium:

Verfassungen werden durch historische Narrative und kollektive Erinnerungen geprägt. Historische Traumata wirken sich auf nationale und internationale Gesetze und Politiken aus. Die Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen nachfolgender Generationen sowohl der Täter- als auch der Opfergruppen spielen eine Rolle bei der Gestaltung der sozialen und politischen Vorstellungen davon, was eine gerechte und faire Ordnung erfordert.

Dieses Blog-Symposium befasst sich mit den verfassungsrechtlichen und rechtlichen Verpflichtungen, Orientierungen und Argumenten, die das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts hervorgebracht haben, und mit der Frage, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben.

Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi im Gespräch über die Juden im Koran und in der Perspektive muslimischer Gesellschaften.

Ourghi, Abdel-Hakim (2024): »Eine heikle Angelegenheit«. Über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft. In: Jüdische Allgemeine, 07.01.2024.

Online verfügbar unter https://www.juedische-allgemeine.de/politik/eine-heikle-angelegenheit/

Staatsräson und Grundrechte

Unter dem Pseudonym Clara Neumann schreibt eine Autorin über die aufbrechenden Konflikte zwischen angemahnter Staatsräson und den in der Verfassung garantierten Grundrechten.

Clara Neumann (Anonym) (2023): Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten: Auf dem Weg zu einer präziseren Antisemitismusdefinition.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/das-spannungsverhaltnis-zwischen-staatsrason-und-grundrechten/

Majetschak,Louise; Cemel, Liza (2023): IHRA-Definition als ‚Diskursverengung‘? Replik auf Clara Neumann.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/ihra-definition-als-diskursverengung/ .

Ambos, Kai; Barskanmaz, Cengiz; Bönnemann, Maxim; Fischer-Lescano, Andreas; Goldmann, Matthias; Mangold, Anna Katharina et al. (2023): Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung. Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht-eine-rechtliche-beurteilung/.

Rechtsfragen

Was ist Recht und was ist Unrecht bei den Ereignissen in Israel und bei den Diskussionen zum Thema Naher Osten?

Ab und an ist es ganz gut, von Juristen auf den Boden der (Rechts-) Tatsachen geholt zu werden. Es ist ja das eine, was einem das das eigene, oft durch Moral bestimmte (Rechts-) Gefühl sagt, was man in der konkreten Situation des Nahost-Konflikts sagen darf bzw. sollte und was nicht, was man bekunden kann und was strafbare Billigung von Straftaten wäre. Da ist es gut, wenn Experten einem die Sachlage erläutern. Zu diesen Experten zählt unbestritten der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer. Auf Legal Tribune Online gibt es eine Kolumne, die sich „Eine Frage an Thomas Fischer“ nennt, und in der er aktuelle Fragen des Rechts und der Rechts-Kultur erörtert. Aktuell lautet die Frage „Ist der Jubel über Terror strafbar?“ Ich empfehle seine Darlegungen sehr zur Lektüre. Sein Fazit lautet:

1. Das Bejubeln von konkreten bzw. von hinreichend konkretisierbaren Tötungsdelikten der „Hamas“-Miliz in Israel ist nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar.
2. Die öffentliche Verbreitung der Parole „from the river to the sea / Palestine will be free“ ist im konkreten Bedeutungszusammenhang nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar. …
3. Allgemeine „Solidaritäts“-Bekundungen mit den politischen, humanitären oder rechtlichen Anliegen „der Palästinenser“ oder einzelner Gruppen von ihnen sind nicht strafbar, sondern unterfallen Art. 5 Abs. 1 GG. Entsprechende öffentliche Demonstrationen sind über Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art 2 Abs. 1 GG auch dann gerechtfertigt, wenn die dort vertretenen politischen Positionen einer Mehrheit der (deutschen) Bevölkerung abwegig erscheinen. Die palästinensische Flagge ist kein Kennzeichen der Organisation Hamas und daher nicht nach § 86a StGB strafbar.

Aus der Perspektive des Völkerrechts räumt Wolff Heintschel von Geinig im Gespräch mit der taz mit einigen auch von den Medien eifrig kolportierten Vorurteilen auf: „Es ist nach dem humanitären Völkerrecht nicht verboten, bei Angriffen gegen zulässige militärische Ziele auch Zivilpersonen oder zivile Objekte in Mitleidenschaft zu ziehen … Selbst hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung müssen also nicht per se rechtswidrig sein.“ Zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Aufforderung an die Bevölkerung, in den Süden zu gehen: „Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sagt, dass dieses Verbot nicht mehr gilt, wenn es der Sicherheit der betroffenen Zivilpersonen dient oder überragende militärische Gründe dies fordern. Und hier haben die Israelis gute Argumente auf ihrer Seite.“ Grundsätzlich aber gelte das humanitäre Völkerrecht aber für alle am Konflikt Beteiligten: „Das humanitäre Völkerrecht findet gleichmäßig auf alle Konfliktparteien Anwendung. Es kann nicht eine Konfliktpartei erklären, sich darum nicht mehr zu scheren, weil es der Gegner auch nicht tue.“

Zur Codeformel „Free Palestine“

Was meint jemand eigentlich, wenn er von „Free Palestine“ redet? Über die schrecklichen Implikationen einer politischen Formel.

Inzwischen mehren sich die Bekundungen mancher als prominent Geltender, die durch Tweets oder Fotos trotz der Gräueltaten der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung ihre Solidarität mit den Palästinensern bekunden. Sie machen das, indem sie sich auf die eine oder andere Art und Weise des Slogans „Free Palestine“ bedienen.

Direkt am zweiten Tag der verbrecherischen Angriffe der Hamas auf die Bewohner (und Gäste) Israels tat dies die Rapperin Nura auf Instagram, indem sie einen Screenshot aus ihrem neuesten Musikvideo postete, der sie und ihre Sänger:innen vor dem Slogan „Free Palestine“ zeigte. Das war eine empathielose Geste, im besten Fall war sie nur gedankenlos, viel wahrscheinlicher gerade im Blick auf die abgeschlachteten Opfer bösartig.

Der Fußballer Mesut Özil, der schon öfter mit merkwürdigen Stellungnahmen aufgefallen war, bittet am 13.10.2023 auf X unter dem Hashtag #FreePalestine um Frieden im Nahen Osten, und postet dabei eine Fotomontage, die ihn vor dem Felsendom vor den miteinander verschränkten Fahnen der Türkei und der Palästinenser zeigt – Israel kommt nicht (oder allenfalls in Gestalt eines Soldaten) vor. Das zeigt in welche Richtung das freie Palästina gedacht wird: frei von Juden und Israelis. Bei Özil kann nicht mehr von Unbedachtheit gesprochen werden, es ist die bewährte Agitation, die sich nur vordergründig als humanitäre Geste kaschiert. Schon die Ästhetik des Bildes ist pure AgitProp-Ästhetik allein im Dienst der palästinensischen Sache.

All das verweist darauf, dass wir uns nicht nur in einem militärischen Konflikt im Nahen Osten wiederfinden, sondern auch in einen weltweiten Krieg mit Bildern, Worten und vor allem Slogans verwickelt sind. Worte und Bilder werden zu Waffen, der humanitäre Impuls als solcher wird zweitrangig.

Ich möchte deshalb auf eine Analyse des Slogans „Free Palestine“ verweisen, eine Auslegung, die ich teile. Ich fand sie auf dem empfehlenswerten Blog „Chaims Sicht“. Dort veröffentlicht Chajm Guski regelmäßig des Nachdenkens werte Impulse. Im Blogbeitrag „Ein leeres Land?“ setzt er sich am 12. Oktober 2023 mit dem Slogan „Free Palestine“ auseinander. Und er macht das unter dem m.E. zutreffenden Teaser: „Manchmal muss man Dinge bis zum Ende denken, um zu verstehen, um was es eigentlich geht.“ Er fragt, wie muss man sich das denken mit dem freien Palästina? Wie geht das praktisch, wenn eine Zwei-Staaten-Lösung nicht angestrebt und von der Hamas auch explizit abgelehnt wird? Wovon befreit man das Land? Und er sagt zu Recht: die Hamas-Lösung besteht darin, die israelische Bevölkerung auszulöschen. Das ist Genozid. Die zweite „Lösung“ wäre die Rückkehr der Juden in die Länder, aus denen sie gekommen sind. Aber was heißt das? Rückkehr in die arabischen Länder, aus denen sie gewaltsam vertrieben wurden? Bekommen sie dann den Besitz zurück, so wie die Palästinenser den Besitz zurückfordern, den sie angeblich vor 1948 hatten? Wenn aber ein Teil der jüdischen Bevölkerung im Land verbliebe, wie würde man mit ihnen umgehen? So wie mit anderen minoritären Gruppen in den arabischen Ländern? Fragen über Fragen. Lesen Sie den ganzen Beitrag ….>