Das Verdampfen der ästhetischen Transzendenz

Die 153. Ausgabe von tà katoptrizómena ist erschienen. Sie trägt den Titel „Das Verdampfen der ästhetischen Transzendenz“.

Editorial

VIEW

„Das Verdampfen der ästhetischen Transzendenz“
Notizen zu Bildern von Wols und zu einer Formulierung von Th. W. Adorno
Andreas Mertin [20 S.]

Albrecht Dürers „Traumgesicht“ und Jean Pauls „Rede des toten Christus“
Eine Erinnerung
Mertin, Andreas [14 S.]

LITERATUR

Formen und Funktionen der humoristischen Dimension
in Erzähltexten des Sarmatien-Projekts von Johannes Bobrowski
Burckhard Dücker [34 S.]

VORMERKUNGEN

Vormerkungen
Über eine neue Kolumne in tà katoptrizómena
Wolfgang Vögele (3 S.)

Portugiesische Verwirrungen
Vormerkungen (Folge 1)
Wolfgang Vögele (3 S.)

BEWEGTE BILDER

Die Leiche und die dramatischen Figuren
Eine Notiz zu der Krimikomödie ‚Die Rosenheim Cops‘
Wulff, Hans J. [4 S.]

„Eine göttliche Offenbarung des Zweifels“
Eine Aushandlung lebendigen Glaubens bei Konklave (Robert Harris)
Michelle Ginder [6 S.]

BILDBETRACHTUNGEN

Die Madonna von Kyjiw
Eine Weihnachtskarte als politische Theologie
Andreas Mertin [8 S.]

Auf die Knie fallen oder doch nur in die Knie gehen?
Zur Ikonografie einer Geste
Andreas Mertin [8 S.]

ANDREAS MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

Plädoyer fürs Ab-Kanzeln
Ein Lesepult tut es auch – aber nicht einmal das braucht man [4 S.]

Gefährlicher Relativismus
Phrasendreschen im politischen Tageskampf [2 S.]

Statistik als Propaganda
Notizen zur neuen ADL-Antisemitismus-Erhebung [6 S.]

Mercy / Gnade
Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (in der Kirche) [4 S.]

RE-VIEW

Unter Beteiligung
Hinweise auf Bücher, an denen Autor:innen des Magazins mitgewirkt haben
Redaktion [2 S.]

Unterscheidungen und Abschattungen.
Ein spielerisches Kaleidoskop zum Wort „Väterlichkeit“
Andreas Mertin [8 S.]

Robert Reich: Die zehn Gebote des Widerstands

Robert Reichs Aufruf zum Widerstand gegen ungerechte Verhältnisse

Man ist doch immer wieder überrascht, wie weit entwickelt die Widerstandsbewegung in den USA ist und wie verkümmert sie bei uns in Deutschland ist. Bei uns reicht es, wenn 100.000 auf die Straße gehen, um gegen rechts protestieren, aber damit ist noch keinem der von den Rechten Bedrängten geholfen. Ganz anders und ganz pragmatisch geht dagegen der frühere Arbeitsminister der USA, Robert Reich, vor, der auf seiner Website „Zehn Wege, Trump zu widerstehen“ veröffentlichte. Ich nenne sie in der Folge seine 10 Gebote, weil mir das theologisch naheliegender ist. Sein Eröffnungsbild ist die amerikanische Flagge, die aber wie Erdschollen in der Sonne unter der Hitze ausdunstet und zerbricht.

Robert Reichs erstes Gebot lautet: Schützen Sie die anständigen und hart arbeitenden Mitglie-der Ihrer Gemeinschaften, die keine Papiere besitzen oder deren Eltern keine Papiere besitzen. Das hört sich so selbstverständlich an, aber ist es ganz und gar nicht. In Deutschland unterstützt der allergrößte Teil der Gesellschaft die Abschiebung derer, die keine ausreichende Legitimation haben. Die Aufforderung, gerade sie zu schützen, ist daher etwas Besonderes.

Sein zweites Gebot lautet: Schützen Sie die LGBTQ+-Mitglieder Ihrer Gemeinschaft. Trump könnte das Leben für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queers und andere Menschen durch Durchführungsverordnungen, Gesetzesänderungen, Änderungen der Bürgerrechtsgesetze oder Änderungen bei der Durchsetzung solcher Gesetze erheblich erschweren. Noch(!) ist diese Gruppe in unserer Gesellschaft durch staatliche Maßnahmen nicht so gefährdet wie in den USA, aber es ist wichtig daran zu denken und darauf vorbereitet zu sein.

Sein drittes Gebot lautet: Helfen Sie mit, Beamte in Ihrer Gemeinde oder Ihrem Bundesstaat zu schützen, gegen die von Trump und seiner Regierung zur Rache angestiftet wird. Bei einigen handelt es sich vielleicht um Beamte der unteren Ebene, wie z. B. Wahlhelfer. Wenn sie nicht über die Mittel verfügen, sich rechtlich zu verteidigen, können Sie ihnen helfen oder eine Go-Fund-Me-Kampagne in Erwägung ziehen. Wenn Sie von jemandem hören, der ihnen schaden will, alarmieren Sie sofort die örtlichen Strafverfolgungsbehörden.

Sein viertes Gebot lautet: Beteiligen Sie sich oder organisieren Sie Boykotte von Unternehmen, die das Trump-Regime unterstützen, angefangen bei Elon Musks X und Tesla sowie allen Un-ternehmen, die bei X oder auf Fox News werben. Unterschätzen Sie nicht die Wirksamkeit von Verbraucherboykotten. Unternehmen investieren viel in ihre Markennamen und den damit verbundenen Goodwill. Laute, lautstarke, aufmerksamkeitsstarke Boykotte können den Marken-namen schaden und die Aktienkurse der Unternehmen senken. Das wäre ein höchst dringlicher programmatischer Ansatz in Deutschland, konkret gegen Diskriminierung vorzugehen.

Sein fünftes Gebot lautet: Unterstützen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten Gruppen, die gegen Trump prozessieren. In Deutschland wären das jene Gruppen, die gegen die AfD aufstehen und gegen sie prozessieren. Das zumindest erfüllen die Protestierenden auf unseren Straßen.

Sein sechstes Gebot lautet: Verbreiten Sie die Wahrheit. Besorgen Sie sich Nachrichten aus zuverlässigen Quellen und verbreiten Sie sie. Wenn Sie hören, dass jemand Lügen und Trump-Propaganda verbreitet, einschließlich lokaler Medien, widersprechen Sie ihm mit Fakten und den entsprechenden Quellen. Und dann nennt er eine Reihe von Quellen, denen er vertraut. Auch das wäre für Deutschland ein interessanter Punkt: welchen Medien können wir vertrauen?

Sein siebtes Gebot lautet: Fordern Sie Freunde, Verwandte und Bekannte auf, Trump-Propaganda-Sender wie Fox News, Newsmax, X und zunehmend auch Facebook und Instagram zu meiden. Sie sind voll von hasserfüllter Bigotterie und giftigen und gefährlichen Lügen. Manche Menschen können diese Propagandaquellen auch süchtig machen; helfen Sie den Men-schen, die Sie kennen, sich von ihnen zu entwöhnen. Gilt nicht nur in den USA, sondern überall.

Sein achtes Gebot lautet: Setzen Sie sich für fortschrittliche Maßnahmen in Ihrer Gemeinde und Ihrem Staat ein. Lokale und staatliche Regierungen haben nach wie vor große Macht. Schließen Sie sich Gruppen an, die Ihre Stadt oder Ihren Staat voranbringen, im Gegensatz zu den regressiven Maßnahmen auf Bundesebene. Betreiben Sie Lobbyarbeit, organisieren Sie und sammeln Sie Spenden für fortschrittliche Gesetzgeber. Unterstützen Sie progressive Politiker.

Sein neuntes Gebot lautet: Ermutigen Sie die Arbeiter zu Aktionen. Die meisten Gewerkschaf-ten stehen auf der richtigen Seite – sie wollen die Macht der Arbeitnehmer stärken und sich gegen Unterdrückung wehren. Sie können sie unterstützen, indem Sie sich an Streikpostenket-ten und Boykotten beteiligen und die Beschäftigten in den Betrieben, die Sie besuchen, ermuti-gen, sich zu organisieren. Auch das gilt weltweit.

Sein zehntes Gebot lautet: Behalte den Glauben. Geben Sie Amerika nicht auf. Denken Sie daran, dass Trump die Volksabstimmung mit nur 1,5 Punkten Vorsprung gewonnen hat. Nach al-len historischen Maßstäben war das eine knappe Angelegenheit. Im Repräsentantenhaus haben die Republikaner mit fünf Sitzen den geringsten Vorsprung seit der Großen Depression. Im Se-nat haben die Republikaner die Hälfte der für 2024 anstehenden Senatswahlen verloren, darunter in vier Staaten, die Trump gewonnen hat. Den Kampf optimistisch angehen: Wir schaffen das!

Und am Ende fügt Robert Reich hinzu: Achten Sie bitte darauf, dass in Ihrem Leben auch Platz für Freude, Spaß und Lachen ist. Lassen Sie sich nicht von Trump und seiner Finsternis vereinnahmen. Genauso wie es wichtig ist, den Kampf nicht aufzugeben, ist es von entscheidender Bedeutung, auf sich selbst aufzupassen. Wenn Sie von Trump besessen sind und in den Kaninchenbau der Empörung, Sorgen und Ängste abtauchen, werden Sie nicht in der Lage sein, weiter zu kämpfen. Mit Wolf Biermann gesungen:„Du lass Dich nicht verhärten in dieser harten Zeit, die allzu hart sind, brechen, die allzu spitz sind, stechen und brechen ab sogleich …“

Man müsste nun überlegen, was das Pendent dafür in unserer Gesellschaft wäre, was die EKD oder die DBK auf ihren Seiten programmatisch zu sagen hätte – nicht um Parteipolitik zu betreiben, sondern um die Gefährdeten und die Benachteiligten zu schützen und den Gläubigen klar zu machen, dass die Aufforderung zur Gnade, die die Bischöfin Budde an Donald Trump richtete, eben auch eine Aufforderung ist, die an jeden einzelnen Christen geht.

Text und Applikation

Ein lehrreiches Beispiel, wie Juristen mit dem Wort „Gnade“ umgehen

In der legendären Reihe “Poetik und Hermeneutik” gab es die Ausgabe „Text und Applikation“, die sich mit der je unterschiedlichen Hermeneutik von Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft auseinandersetzte. Theologen zeigten, wie sie die Paradieserzählung auslegten, Juristen besprachen ihre Hermeneutik am Fall Mephisto und Literaturwissenschaftler diskutierten über ihre Annäherung an Paul Valéry. Aber die Beteiligten schärften ihre Hermeneutik auch jeweils am fachfremden Gegenstand: also am theologischen Text, am juristischen Fall und dem Werk des Literaten. Die Grenzüberschreitungen sind meines Erachtens immer außerordentlich hilfreich. Und tatsächlich sind es diese drei Fachwissenschaften, an denen ich mich auch persönlich am stärksten orientiere. Wenn ich etwas lese, frage ich mich, was würden Theolog:innen, was würden Jurist:innen und was würden Literaturwissenschaftler:innen dazu sagen?

Daran wurde ich erinnert, als ich ein kurzes Video des Medienanwalts Jun sah, in dem er sich in juristischer Perspektive mit dem Wort Gnade auseinandersetzte, also jenes Wort, das in der Predigt im Gottesdienst nach der Amtseinführung von Präsident Trump eine Rolle spielte. Dabei war ja zunächst einmal auffällig, dass die Bischöfin keineswegs einen theologischen Gebrauch des Wortes „Gnade“ machte, sondern einen alltagssprachlichen. „In der Alltagssprache begegnet das Wort Gnade bzw. gnädig, um eine menschliche Verhaltensweise zu charakterisieren: gütig, wohlgesinnt, nachsichtig, mild, gönnerhaft, verzeihen, erbarmen“ (Ev. Kirchenlexikon, Art. Gnade). Und genau das erbat die Predigerin vom direkt adressierten Staatsoberhaupt: Sich menschlich zu verhalten. Insoweit ist dies noch keine spezifisch theologische Rede. Sie wird dies erst, wenn man es vor dem Hintergrund der Theologie sieht (also etwa einer Zwei-Reiche-Lehre oder von Barmen V oder dem anglikanischen Verständnis von Staat und Kirche), wenn diese der Kirche ein Wächteramt gegenüber dem Staat einräumt. Insoweit sich Trump mit dem Besuch des Gottesdienstes unter das Wort Gottes begibt, wird eine sinnvolle Lesart daraus.

Juristisch, auch darauf verweist das Kirchenlexikon, begegnet uns die Gnade in der „Begnadigung“ eines Menschen bzw. in der Formel, man müsse in gewissen Fällen „Gnade vor Recht“ ergehen lassen. Theologisch wäre die Rede von der Gnade, wenn sie die Beziehung zwischen Gott und Mensch betrifft und die liebende und rettende Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf beinhaltet. Darum ging es in der Ansprache an Trump aber nicht (oder nur indirekt an der Stelle, an der sie die von ihm so interpretierte Gnade Gottes bei der Verschonung seines Lebens beim gescheiterten Attentat als implizite Aufforderung ansah, nun auch selbst Gnade anzuwenden).

In der Sache sagt die Predigerin aber nur das, was auch viele Humanist:innen oder viele Philosoph:innen gesagt hätten. Ihre Brisanz bekommen ihre Worte aber durch den Resonanzraum, in dem sie gesagt wurden, dem Resonanzraum der von der Kirche verkündeten Gnade Gottes.

Die Frage des Medienanwalts Jun in seinem instruktiven Video lautete: Was ist das juristische Komplement für das Wort „Gnade“, also das, was die Bischöfin Budde für die Migrant:innen, die Ausgestoßenen, die Queeren einforderte. Und er meint mit guten Gründen, dass man die geforderte Gnade mit der Forderung nach der Wahrung der Menschenwürde vergleichen müsse. Exakt darum geht es.

Und das nicht nur, weil wir Theolog:innen reklamieren, dass die Idee der Menschenwürde ursprünglich eine jüdische und damit biblische Idee ist. Gnade kommt den Menschen zu, weil sie Gottes Ebenbilder sind. Das begründet ihre Menschwürde, die niemand ihnen nehmen kann und darf, kein Staat, kein Herrscher, kein US-Präsident. Die säkularisierte Gnade findet sich in vielen Gesetzen des Völkerrechts, in den Erklärungen der Menschenrechte, in staatlichen Verfassungen.

Mir geht es an dieser Stelle gar nicht so sehr um das Video von Jun (das ich jedem ans Herz lege), sondern um die Frage, woher es kommt, dass angesichts der Rede der Predigerin in Washington, Theolog:innen in eine Art schwärmerische Heldinnenverehrung verfallen, während es Nicht-Theologen gelingt, das Gesagte und Gemeinte konstruktiv in ihre Sprache zu übersetzen. Bis dahin hatte ich auf Bluesky Kommentare von Kolleg:innen gelesen, die die Bischöfin als Prophetin glorifizierten, lange über ihren Stil nachdachten, ihre Sprechweise, die medialen Referenzen und über all dem das Anliegen vergaßen, das sie ja in ganz säkularer Sprache artikuliert hatte: den Menschen ihr Recht auf Menschenwürde zukommen zu lassen. In diesem Falle gilt jedoch – anders als in der Kunst -: nicht das Wie, sondern das Was ist das Entscheidende.

Wir haben im Protestantismus (und nur über den kann ich sprechen) eine elende, um nicht zu sagen widerwärtige Art der Personalisierung – im Guten und im Schlechten geht es immer ad hominem. Während wir doch aus der ForuM-Studie lernen müssten, dass wir künftig keine Überhöhungen des Pfarramtes mehr kultivieren sollten, machen wir – wenn es uns nur in den Kram passt – genau das: wir machen eine Theologin zu einem herausgehobenen Menschen, ja zu einer Prophetin. Das finde ich falsch, es ist um es scharf zu formulieren Theologie im Verblendungszusammenhang, eine Theologie, die sich der Aufmerksamkeitsökonomie unterwirft. Wir sollten aber lernen, uns mit unserer jeweiligen Hermeneutik der Sache zuzuwenden und schauen, ob und wo wir zu Überschneidungen mit den Überzeugungen anderer Menschen kommen.

Heroisierungen helfen uns da nicht wirklich weiter. Und der Verweis auf die Figur der Prophetin auch nicht. Die Differenzierung zwischen richtigen und falschen Propheten ist eine a posteriori. Wer aus dem Konflikt verschiedener prophetischer Schulen am Ende als Sieger hervorgeht, wird zum wahren Propheten, der sich zurecht von Gott beauftragt sieht. Eine Nummer kleiner wäre besser. Freuen wir uns, dass jemand das Selbstverständliche getan hat: Menschlichkeit zu zeigen und zu fordern.