Die 151. Ausgabe von tà katoptrizómena ist erschienen. Sie widmet sich der Frage der „Zeitgenossenschaft“. Darüber hinaus gibt es eine Fülle weiterer Beiträge.
Nach dem Streit um das angebliche Abendmahlsbild bei der olympischen Eröffnungsfeier 2024 in Paris lohnt es sich, sich auch einmal mit der Mythologie des tatsächlich verwendeten Bildes zu beschäftigen. Und die ist erschreckend: menschen- und queer-feindlich.
Bei der Diskussion um die religiösen bzw. mythologischen Bilder, die auf der Eröffnungsfeier der olympischen Sommerspiele 2024 in Paris Verwendung fanden, galt die Hauptaufmerksamkeit jenem „Bild“, in dem einige religiöse Menschen eine Darstellung der Eucharistie erkennen wollten. Nach all den zwischenzeitlichen Debatten kann nun eines sicher gesagt werden: es handelt sich nicht um eine Darstellung eines Abendmahles, wohl aber um das Bild eines olympischen Festes, dessen Mahltisch nach dem Abendmahl von Leonardo da Vinci in Mailand konstruiert wurde. Insofern laufen die Angriffe der Bischöfe und ihrer lautstarken Unterstützer:innen ins Leere. Wenig beachtet wurde leider in der Diskussion, welches mythologische Bild für die Szene auf der Brücke über der Seine verwendet wurde. „Fest der Götter“ hört sich harmlos und anlassbezogen korrekt an. Und von der „Hochzeit von Peleus und Thetis“, die von den Göttern gefeiert wird, weiß der normale Mensch nichts. Was könnte schon an einer Hochzeitsfeier problematisch sein? Es geht doch nur um ein Bild – nicht um eine Geschichte. So jedenfalls bekundete es einer der Planer der Eröffnungsfeier, der Historiker Boucheron im Interview mit der FAZ. Aber ganz so ist es nicht, es unterschätzt die Macht der Bilder und es unterschätzt die Macht der Erzählung (der Geschichte), die in den Bildern zur Darstellung kommt. Im Paris des Jahres 2024 wird ein Wettstreit von Sportler:innen (und Nationen) gefeiert, der angeblich offen, frei und für alle zugänglich ist. Inzwischen wissen wir, dass das nicht wahr ist, dass die Diskussionen über Identität und Nationalität die sportlichen Aktivitäten (nicht nur beim Boxen) überlagern.
Aber darum geht es mir im Folgenden nicht. Als Kunsthistoriker interessierte es mich, worauf sich die queere Community mit jenem tatsächlich verwendeten Bild bezog, das dann zum Anlass der kontroversen Diskussionen wurde. Und da war ich dann doch einigermaßen erschrocken. Ich habe selten eine derartig anti-queere und menschenfeindliche Mythologie gelesen, wie die dem Bild zugrunde liegende.
Um es kurz zu sagen: das Bild zeigt uns eine Feier der olympischen Götter, die sich bei einem bachanalen Mahl darüber freuen, dass ein queeres Wesen von einem Mann in einer Höhle überfallen, vergewaltigt und geschwängert wurde! Die Götter hatten diesen Überfall kunstvoll orchestriert, denn es war ein Puzzlestein in ihrem Plan, die Menschheit endgültig zu vernichten. Dazu musste ein Sterblicher die Nereide Thetis gegen ihren expliziten Willen schwängern, damit sie in der Folge den fast unschlagbaren Kriegshelden Achilles gebären sollte.
Die Nereide Thetis aber versteht und verhält sich queer, weshalb Peleus sie gewaltsam daran hindern muss, andere Identitäten anzunehmen und er muss sie auf ihre biologische Identität als Frau zurückführen: „Zwinge sie, was sie auch sei, bis früheres Wesen sie herstellt.“ Nur so kann sie ihren reproduktiven Pflichten nachkommen und Achilles gebären. Und dieser Achilles soll zum trojanischen Krieg beitragen, mit dem Zeus den Untergang der Menschheit realisieren wollte. Gaia, die Mutter Erde, hatte sich bei ihm beschwert, dass die Menschen ihr allmählich zur Last fielen und sich vor allem gotteslästerlich verhielten, weshalb Zeus sie doch bitte schön vernichten möge. Und weil mit der Vergewaltigung der Thetis der erste Teil des Planes funktioniert hatte, feiern nun die Götter ausgelassen und statten den Vergewaltiger Peleus im Rahmen des Festes mit den mächtigsten Waffen der Zeit aus.
Soweit zur ganz und gar nicht menschen- und queer-freundlichen Grunderzählung, die in Paris beiläufig reproduziert wurde. Aufgefallen ist das nicht, weil wir als Zeitgenoss:innen des 21. Jahrhunderts nur einen nackten Bacchus zu sehen brauchen, um unser Gehirn abzuschalten und in einen Weinrausch zu verfallen. Aber Dionysus ist eine durch und durch ambivalente Gestalt und die griechisch-römischen Götter sind es auch. Ich fand es deshalb sinnvoll, einmal die gerade paraphrasierte Geschichte(n) aus dem ersten und zweiten Buch der Kypria (500 v.Chr.) und den Metamorphosen des Ovid zu rekonstruieren, die dem Pariser Bild zugrunde liegt.
Die Planer der Pariser Eröffnungsfeier haben sich darüber hinaus bei der Konzeption auf Walter Benjamin berufen, dessen Denkbilder und geschichtsphilosophischen Thesen sie inspirierend fanden. Nur vom Christentum wollten sie nichts wissen. Meine zweite Frage ist daher, ob man Walter Benjamin so einfach beerben kann, ohne auf die explizite Messianität seiner Gedanken einzugehen. Funktioniert der türkische Schachspieler aus Benjamins erster geschichtsphilosophischer These auch ohne den theologischen Zwerg in seinem Innern? Ich glaube nicht.
Beide Aspekte habe ich in einem Aufsatz bearbeitet, der im nächsten Heft 151 von tà katoptrizómena erscheinen wird, aber jetzt schon von der Container-Seite des kommenden Heftes aufgerufen, gelesen und heruntergeladen werden kann. Sie finden ihn unter folgender Adresse: www.theomag.de/151/index.htm
Der sehr empfehlenswerte Verfassungsblog veranstaltet gerade ein Blog-Symposium zum Thema „Never again“. Bisher war jeder der eingestellten Beiträge absolut lesenswert.
Die Initiatoren schreiben zu ihrem Symposium:
Verfassungen werden durch historische Narrative und kollektive Erinnerungen geprägt. Historische Traumata wirken sich auf nationale und internationale Gesetze und Politiken aus. Die Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen nachfolgender Generationen sowohl der Täter- als auch der Opfergruppen spielen eine Rolle bei der Gestaltung der sozialen und politischen Vorstellungen davon, was eine gerechte und faire Ordnung erfordert.
Dieses Blog-Symposium befasst sich mit den verfassungsrechtlichen und rechtlichen Verpflichtungen, Orientierungen und Argumenten, die das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts hervorgebracht haben, und mit der Frage, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben.
22.07.2024 Kumm, Mattias; Orgad, Liav: The Holocaust, Trauma, and Its Effect on Constitutional and International Law. https://verfassungsblog.de/never-again/
Die Erregung um das re-inszenierte Fresko von Leonardo da Vinci bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele ist bigott. Die queere Bewegung hat alles Recht der Welt, sich auf Leonardo zu berufen.
Die Rechten der Welt, die reaktionären Verteidiger des christlichen Abendlandes schäumen, weil während der Eröffnung der olympischen Spiele vor Milliarden Menschen dargestellt wurde, dass Gott auch LGBT-Menschen zum Abendmahl eingeladen hat. Dies feiert zu meinem Gedächtnis hatte der Herr gesagt und Pariser Drag-Queens und Trans-Menschen haben sich – zumindest in einer an Leonardo da Vinci angelehnten Inszenierung – darangehalten.
Nun kann man gut fragen, ob sie hier wirklich – wie die Verteidiger des christlichen Abendlandes unterstellen – das Abendmahl zelebrieren, oder die Zelebration nicht doch einem ikonischen Bild eines Künstlers gilt, von dem man nun bei aller Ungewissheit der Fakten, eines sagen kann: er hat abweichend von den sexuellen Normen gelebt. Er war entgegen allen Konventionen seiner Zeit nicht verheiratet, er hatte gegen alle Konventionen keine Kinder, er war von Anfang an von sehr jungen Knaben und Männern umgeben, die ihm treu ergeben waren bis ans Lebensende. Und er war zumindest einmal wegen Homosexualität angeklagt (und wurde freigesprochen, weil die Anzeige anonym war). Wenn Leonardo da Vinci aber eines ganz sicher nicht war, dann dies: spießbürgerlich.
Das Christentum, das über die längste Zeit seines Bestehens die verfolgt oder auch verbrannt hat, die seinen Normen nicht folgten, hat kein Recht, sich affirmativ auf Leonardo da Vinci zu beziehen und so zu tun, dass man in seinen religiösen Gefühlen verletzt würde, wenn LGBT-Menschen Leonardos Bilder re-inszenieren. Die Konzeption des Mailänder Abendmahls ist eine spezifische Erfindung von Leonardo. Er verabschiedet sich von der antijudaistischen Norm, bei der ein Jude herausgestellt auf der anderen Seite des Tisches als „Anderer“ der Verachtung preisgegeben wird. Bis in die Gegenwart ist es dem Christentum nicht gelungen, sich Leonardos Haltung wirklich anzueignen. Auch deshalb kann sich die queere Community auf ihn berufen.
Das Abendmahl, das Jesus Christus gefeiert hat, hat nun ganz sicher nicht so ausgesehen, wie das Letzte Mahl, das Leonardo da Vinci 1498 in Mailand ikonisch geschaffen hat (das gilt für nahezu alle Abendmahlsbilder der Kunstgeschichte – sie sind visuelle Poesie, keine Dokumentations-Fotografie). Zu Jesu Zeiten saß und aß man halbliegend im römischen Stil, wovon die Mosaiken von Ravenna noch einigermaßen Auskunft geben.
Wäre das Mosaik von Ravenna Vorbild für die Pariser Inszenierung genommen worden, hätten die Konservativen es vermutlich gar nicht wiedererkannt – außer am Heiligenschein vielleicht. Aber den kann man ja auch mal mit einer Oblate verwechseln wie ich gelesen habe. Und so schimpft man nun auf die LGBT-Community und träumt davon, was man mit denen anstellen würde, wenn man noch wie im Mittelalter die Macht hätte.
Und was das konkret bedeutet, kann man bei dem französischen Philosophen, Humanisten und Essayisten Michel de Montaigne (1533-1592) nachlesen. Er berichtet in seinem Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581, wie in Rom seinerzeit mit queeren Häretikern umgegangen wurde, die eine kirchliche Feier imitierten:
„Römische Kirchenrechtler sagten mir, da die andere Vereinigung, jene von Mann und Frau, nur durch die Ehe legitimiert werde, seien diese Schlaumeier auf die Idee verfallen, ihre hiervon abweichende Art würde, wenn durch die Rituale und heiligen Handlungen der Kirche sanktioniert, gleichermaßen legitim. Acht, neun Portugiesen dieser kuriosen Sekte hat man jedoch verbrannt.“
Da können die Künstler:innen aus Paris ja froh sein, dass wir heute in anderen Zeiten leben, es gibt zwar Shitstorms, aber keine Autodafés mehr. Aber wenn man könnte, da bin ich mir sicher, würde die rechte Meute gerne die Queeren wieder auf den Scheiterhaufen schicken.
So aber bleibt es bei der suprematischen Erregung: es geht um die Vorherrschaft des Mannes beim Abendmahl. Da haben nur echte Männer etwas zu suchen – queere Menschen und Drag-Queens sind ausgeschlossen. Und diese Ansicht ist, da sie ein falsches Gottesbild abgibt, nun wirklich blasphemisch. Wer behauptet, Gott würde keine Frauen, Queere oder Drag-Queens zum Mahl einladen, um es auf ihre kulturspezifische Art zu feiern, lästert Gott (das an die Adresse von Bischof Oster). Es ist ein Eingriff in die Souveränität Gottes.
Popkulturell, um auch das zu notieren, ist die visuelle Aneignung von Leonardos Personengruppe ein gar nicht so seltenes Phänomen. Nahezu jede Fernsehserie, die kultischen Charakter hat, re-inszeniert irgendwann Leonardos Bild oder stellt ein Foto-Shooting nach dem Bild online. Das ist eine Hommage an den Künstler, keine Erinnerung ans biblische Abendmahl. Es spielt mit dem kulturellen Wissen der (jugendlichen) Fans: sie sollen schauen, wie das berühmte Fresko von Leonardo umgesetzt wurde. Wo ist Judas platziert und mit welcher Filmfigur wird er assoziiert, wer spielt Petrus und wer den Lieblingsjünger Johannes? Das hat seit Jahrzehnten Tradition und markiert eine kulturelle Kompetenz, über die offenbar jene nicht verfügen, die nun gegen die Pariser Inszenierung protestieren. Sie erweisen sich als kulturell ungebildet, weil sie nicht wissen, was in der Gegenwart Stil ist.
Auf jener Plattform, die immer einer (rechten) Schwarmintelligenz bedarf, um denken zu können, schreibt ein Kolumnist Folgendes:
… entsprach es einfach der „Vielfalts“-Definition der Pariser Regie, sich vor der ganzen Welt zu entblößen und zu zeigen „seht, wie wir unsere Religion mit Füßen treten…“?
Ich weiß nicht, was die Schwarmintelligenz unter ‚unsere Religion‘ versteht. Vom Sinn des Satzes kann es sich ja nur auf die französische Religion beziehen (kaum auf die antike olympische Religion des Zeus). Aber in Frankreich herrscht die Laizität, da gibt es keine „unsere Religion“. Und die olympischen Spiele sind kein katholischer Weltjugendtag, bei dem die rechte Weltanschauung präsentiert werden kann. Bei den olympischen Spielen artikulieren und wetteifern Menschen aus der ganzen Welt in ihrer ganzen Vielfalt. Und entblößt hat sich die Pariser Regie schon gar nicht. Wer kommt auf solche Worte und welche Bilder zirkulieren in seinem Kopf?
Dem staunenden Publikum wurde … eine spöttische Live-Inszenierung des letzten Abendmahls Jesu Christi präsentiert, arrangiert nach dem berühmten Gemälde da Vincis.
Wie schon gezeigt, ist das unwahr. Das Fresko des sich nicht an den sexuellen Normen seiner Zeit orientierenden Künstlers Leonardo da Vinci stand im Zentrum, und ihm gegenüber dürfen alle Menschen zeigen, wie sehr sie ihn verehren, deuten oder sein Werk sich aneignen. Sogar ehemalige Jesuitenschüler wie Luis Buñuel dürfen das:
Am Schluss schreibt der Kolumnist: Und der Himmel weinte die ganze Zeit. Armes Olympia! Ich glaube freilich nicht, dass der der Diversität zugeneigte Zeus, zu dessen Ehren Olympia ja stattfindet, so reagiert hätte. Eher wohl nicht.
Das Heft 149 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es widmet sich vor allem der aktuellen Biennale, aber auch dem Film und weiteren Erscheinungen der Kunst und Kultrurpolitik.
Boykottaufrufe sind noch kein Antisemitismus, es kommt auf den Kontext an.
Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, ist sehr begabt darin, alles was geschieht, auf die simple Formel Antisemitismus zu reduzieren. Whatever is, ist Antisemitism. Dieser inflationäre Gebrauch des Etiketts „Antisemitismus“ ist nicht hilfreich, weil dort, wo die Bezeichnung wirklich gebraucht wird, sie keine Trennschärfe mehr entwickelt. Aktuell sagt er mit Blick auf den Eurovision Song Contest und den dort stattfindenden Proteste (nach Wahl!):
»Es entspricht einem gängigen antisemitischen Muster, Israelis kollektiv in Haftung für Handlungen ihrer Regierung oder ihrer Armee zu nehmen, die sie oftmals selbst verurteilen«
Das mag ja sein, nur trifft das in diesem Fall überhaupt nicht zu. Die israelische Künstlerin ist als Vertreterin des Landes Israel dort, das hat der israelische Staatspräsident explizit so gesagt. Also dürfen die Protestierenden die Künstlerin als solche auch wahrnehmen und in den Boykott einbeziehen. Boykottaufrufe sind noch kein Antisemitismus (auch wenn die IHRA das behauptet), sondern legitimes Mittel im politischen Kampf. Das betont auch das von der amerikanischen Regierung zugrunde gelegt Nexus-Papier zum Verhältnis zum Antisemitismus. Sie ermahnen die Adressat:innen unter der Überschrift Verwechseln Sie Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus:
Kritik an der Politik der israelischen Regierung oder eine Ablehnung derselben ist nicht antisemitisch.
Harte Charakterisierungen Israels, die unfair sein mögen, sind nicht unbedingt antisemitisch.
Selbst Yitzhak Rabin warnte einst, dass die Aufrechterhaltung der Besatzung zu Apartheid führen würde. Er war sicherlich kein Antisemit.
Gewaltfreie Aktionen, die auf eine Änderung der israelischen Politik drängen, sind nicht generell antisemitisch.
Der Boykott von Waren, die im Westjordanland und/oder in Israel hergestellt werden, ist nicht antisemitisch, es sei denn, er richtet sich speziell gegen Israel wegen seines jüdischen Charakters.
Man kann beobachten, dass die Protestierenden das auch so machen, denn die andere jüdische Künstlerin auf dem Festival, Tali Golergant (* 2000 in Jerusalem), die Vertreterin Luxemburgs, wird ja nun gerade nicht für Israel verantwortlich gemacht. Ja, es ist so, Künstler:innen, die für Israel auftreten. leiden enorm unter den Boykottaufrufen. Aber erkennbar geht es in diesem konkreten Fall nicht um ihr Jüdischsein, sondern um die Repräsentanz für den Staat Israel. Einen Boykott fordern dürfen die Protestierenden also, es kommt auf die Veranstalter:innen an, dass sie dem konsequent widerstehen.
Und wie die europäische Bevölkerung gezeigt hat, kann man durch simple Gesten ganz bewusst Zeichen setzen. Das ist 1000mal wirkungsvoller, als der inflationäre Gebrauch des Wortes „antisemitisch“. Meine Tageszeitung hat alle ihre Leser:innen aufgefordert, am 11.05.2024 zum Telefon zu greifen, um Israel zu wählen. Und wie ich sehe, haben sich offenbar sehr viele Menschen in Deutschland auch so entschieden. Das ist ein gutes Zeichen.
Der Eurovision Song Contest betont immer, er sei eine unpolitische Veranstaltung. Das muss er wohl auch, um nicht zur politischen Propaganda-Plattform zu werden. Dennoch ist er natürlich durch und durch politisch. Weniger in dem, was die Gruppen singen, sondern in dem, wie die Menschen europa- und inzwischen ja auch weltweit abstimmen. Das wurde dieses Mal besonders deutlich. Während alle auf die Schreihälse vor und in der Konzerthalle starrten, stimmte die europäische Bevölkerung ab – und das ziemlich eindeutig. Gehen wir einmal davon aus, dass der israelische Beitrag für alle erkennbar nicht der beste und auch nicht der zweit- oder drittbeste war, dann kann das Abstimmungsverhalten der europäischen Bevölkerung nur als eindrückliches kulturpolitisches Zeichen gelesen werden. Was immer Grata Thunberg und ihre propalästinensischen Mitstreiter:innen vorab und parallel agitiert haben, die europäische Bevölkerung, soweit sie überhaupt am ESC interessiert war, hat das nicht gekümmert. Sie wollten ein Zeichen der Solidarität mit Israel geben. Während die deutsche Publizistik und diverse Lobbyist:innen beredt über den grassierenden Antisemitismus klagten, griffen die Menschen in Europa zum Telefonhörer und setzten ein kulturpolitisches Zeichen.
15 nationale Televotings setzen Israel auf Platz 1 (Australien, Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien und der sog. Rest der Welt).
7 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 2 (Albanien, Irland, Moldavia, Österreich, Slowenien, Tschechien, Zypern).
3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 3 (Dänemark, Georgien, Island)
3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 4 (Aserbaidschan, Griechenland, Lettland).
Damit haben 28 von 37 nationalen Televotings Israel aus kulturpolitischen Gründen hervorgehoben (wenn man davon ausgeht, dass Platz 5 eine angemessene Wertung wäre). Das ist ein eindrucksvolles Zeichen der Solidarität. Und die, so vermute ich, bezog sich weniger auf den Nahost-Konflikt selbst, sondern vor allem auf die unangemessenen Versuche von Aktivist:innen, Israel und Jüd:innen aus der Kultur auszuschließen. Dagegen wollte man protestieren und ein Zeichen setzen. Die Solidarität, unter den Künstler:innen des ESC nicht wirklich funktionierte (das Verhalten Griechenlands und der Niederlande während der Pressekonferenz war unsäglich), wurde stattdessen von den Menschen in Europa durch ihre Abstimmungen zum Ausdruck gebracht. Dass Jury und Publikum aus der Ukraine und aus Kroatien jeweils 0 Punkte gaben, dürfte eher aus taktischen Gründen geschuldet sein, um einen Mitkonkurrenten zu begrenzen. Israel dagegen hat alle unmittelbaren Konkurrenten bedacht. Dass Israel bei seinem Voting die einzige weitere Jüdin im Wettbewerb bevorzugt (24 Punkte für Luxemburg), kann man nachvollziehen.
Was mir aber wichtig ist, dass den Menschen europaweit der Boykott-Aktivismus a la BDS und Thunberg zunehmend auf den Keks geht. Sie setzen der kulturpolitischen Ausgrenzung ein kulturpolitisches Zeichen entgegen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn derartige Wettbewerbe ganz frei von solchen Auseinandersetzungen wären, aber seien wir ehrlich: Der ESC ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein kulturelles Kampffeld – für Diversität, Queerness, für ein liberales und offenes Europa. Jene aber, die Kultur als ein rein politisches und national-politisches Kampffeld begreifen, sind dieses Mal krachend gescheitert, kaum jemand in Europa wollte ihnen folgen, selbst in jenen Ländern nicht, wo die größten Communitys der Palästinenser in Europa sind: Frankreich (mehr als 100.000), Schweden (bis zu 75.000), Großbritannien und Deutschland (offiziell 8000, geschätzt 175.000 bis 225.000) gaben im Televoting jeweils 12 Punkte für Israel.
Wäre ich pro-palästinensischer Aktivist, würde mir das zu denken geben. Offenbar ist die aktuelle Form des Aktivismus völlig kontraproduktiv, es stärkt die Seite, die man doch kritisieren will. Ich vermute, dass sich auch jenseits der kulturpolitischen Kampffelder dieser Effekt einstellt, also etwa im Blick auf die Universitäten und andere gesellschaftliche Bereiche.
Für die pro-israelisch Engagierten gäbe es dagegen Anlass zu viel mehr Gelassenheit und Souveränität. Man agiert aus einer Situation, in der ein Großteil der europäischen Bevölkerung hinter einem steht und dort Zeichen setzt, wo die liberale Kultur bedroht ist. Das spricht dafür, weniger auf kulturpolitische Begrenzungen und Vorgaben zu setzen, sondern den Rezipient:innen in Europa zuzutrauen, selbst Stellung zu beziehen. Das ist immerhin ein ermutigendes Zeichen.
P.S. Wie ich gerade sehe, geht der Kommentar von Jan Feddersen in der taz in dieselbe Richtung: Volksabstimmung pro Israel.
Die aktuelle Kritik des ESC als queere Veranstaltung ist bigott – früher war es auch nicht anders.
In seiner Vögel-Kolumne beschäftigt sich Klaus Kelle mehr oder weniger unwillig mit dem aktuellen Eurovision-Song-Contest. Ist auch nicht mehr das, was es mal war, schreibt er, seitdem da auch queere Menschen zugelassen sind. Früher war das noch anders, da waren das noch echte werteorientierte Veranstaltungen für deutsche Sexisten, während heute diese Werte auf den Kopf gestellt sind. Und Kelle schwelgt in Erinnerungen an frühere ESC-Lieder, an France Gall (die auch schon mal in ihren Liedern für Fellatio Reklame machte) oder auch das „blonde Gift“ aus der Abba-Gruppe. Heute dagegen ist der ESC eine queere Veranstaltung und damit will ein wertekonservativer Katholik nichts zu tun haben. Marianne Rosenberg zum Beispiel, deren Queerhymne „Er gehört zu mir“ 1975(!) Teil des deutschen ESC-Vorlaufs war, wird verschwiegen, wie vieles andere auch. Ja, die früheren Zeiten waren – nein nicht besser, aber auch nicht schlechter als heute. Cora, das erste lesbische Paar in der Hitparade 1984 (Amsterdam. Liebe hat total versagt), hat immerhin in Sachen Beziehung eine wertebeständigere Biographie als Kelle, der gerne in seinen in Erinnerungen schwelgenden Texten darauf hinweist, mit wem er nach und nach so befreundet war. Heute, so meint Kelle, lohne der Blick auf den ESC nicht, weil er sich nur noch „zwischen androgynen Wesen, Trans- und Intersexuellen, lesbischen Außerirdischen, Menschen, die während des Auftritts ihr Geschlecht wechseln, oder was heute so alles denkbar und möglich ist“, abspiele. Wie viel Verachtung für das Leben seiner Mitmenschen artikuliert sich da. Gelobt sei der Kandidat, der verheiratet ist und Kinder hat, so wünscht es sich der Kleinbürger. Was ihn nicht daran hindert, Popmusikerinnen, die verheiratet waren und zwei Kinder haben, als „blondes Gift“ zu begehren. In solchen Kleinigkeiten war der konservative Mann schon immer großzügig. An deren Musik erinnert er sich nicht mehr, wohl aber an das „blonde Gift“. Das ist in Ordnung, die Gegenwart dagegen ist in Unordnung.
Angesichts der sexuellen Verwirrung in der Gegenwart seht sich mancher Konservative offenbar zurück zu Tony Marshall.
Dieser hatte schon vor mehr als vierzig Jahren Frauen am liebsten damit anbaggert, dass er sang, ich will „in deinem Wald“ der Oberförster sein. Wie unappetitlich. Wie gut, dass angesichts geänderter Hygieneverhältnisse das heute niemand mehr versteht.
Wer ernsthaft meint, in diesen Fragen sei die Welt früher besser gewesen, hat die Welt freilich noch nie verstanden. Man muss nicht die ursprünglich elfbändigen(!) „Viktorianischen Ausschweifungen“ von 1890 lesen, um zu wissen, dass gerade die Zeiten, die sich als keusch und wertekonservativ ausgeben, die wildesten und repressivsten zugleich waren. Aber das mindeste, was man wohl doch erwarten kann, auch von einem angeblich Wertekonservativen, ist, dass er die subjektiven Werte Anderer achtet und anerkennt, er muss sie ja nicht teilen. Aber diesen Minimalkonsens verweigert die rechte Schwarmintelligenz.
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Die Seite der rechten Schwarmintelligenz The Germanz veröffentlicht mal wieder einen Text von BorisRreitschuster, der sich mit einem Nazi-Vergleich der SPD-Co-Vorsitzenden Esken beschäftigt. Der gesamte Text ist eher der Kategorie des rasenden Gefasels der Gegenaufklärung zuzurechnen, voller logischer Sprünge und unsinniger Sätze wie dem, dass sich von Adolf Hitler über Stalin und Mao bis hin zu Mussolini und Pol Pot alle für die Guten gehalten hätten. Das wird er wohl kaum belegen können, ohne dabei das Wort Gut einigermaßen zu verdrehen. Jedenfalls verbinde dies die gerade Genannten mit allen Gutmenschen der Gegenwart, die sich für Übermenschen hielten. Wer das für einigermaßen verquast hält, dürfte Recht haben.
Saskia Erben hatte nun in Österreich die AfD als Nazi-Partei bezeichnet, genauer, sie hatte sie mit Goebbels verglichen. Das, so meint Reitschuster, gehe gar nicht: „Den Gegner ‚Nazi‘ zu nennen – das ist die vernichtendste Beschimpfung, die in Deutschland möglich ist. Das ultimative Totschlag-Argument. Die ultimative Verrohung der Sprache.“ Es sei denn, so würde ich jedenfalls meinen, das Argument träfe zu. Wenn man einen Nazi einen Nazi nennt, dürfte das wohl kaum eine Beschimpfung sein, kein Totschlag-Argument und keine Verrohung der deutschen Sprache. (Die Ansammlung von Superlativen in Reitschusters Satz deutet an, dass er genau weiß, dass sein Argument Unsinn ist, man soll gar nicht darüber nachdenken, denn es ist ja so superlativ schlimm.) Reitschuster nennt das eine „verbale Atombombe“. Nun ist es ja gerichtsfest, dass man einige der führenden AfD-Funktionäre Faschisten nennen darf, die angebliche Atombombe also längst von bundesdeutschen Gerichten gezündet wurde, lange bevor Frau Esken das nur wiederholte und es auf die gesamte Partei anwendete. Reitschuster weist nun darauf hin, dass gegen Esken in Osterreich wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt werde. Das besagt aber gar nichts, ich könnte heute gegen Herrn Reitschuster wegen irgendetwas eine Anzeige erstatten und es würde gegen ihn ermittelt. Ermittlungen sind ein normaler staatsanwaltschaftlicher Vorgang, noch nichts Ehrenrühriges. Die Mehrzahl der Verfahren werden eingestellt.
Aber man kann ja mal schauen, wer eigentlich Anzeige gegen Frau Esken gestellt hat. Da ist z.B. Gerald Grosz, ein früherer rechtspopulistischer Politiker, der 2023 beim Aschermittwoch der AfD Markus Söder als „Södolf“ und Landesverräter bezeichnet hatte. Daraufhin hat Söder Strafanzeige gestellt und Grosz wurde nach aktuellem, bisher allerdings noch nicht rechtskräftigem Beschluss des Amtsgerichts zu 36.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Die Vorwürfe lauten auf Beleidigung von Personen des politischen Lebens sowie auf Verstoß gegen das Versammlungsgesetz – Grosz soll bei der Veranstaltung unerlaubt ein Messer bei sich gehabt haben.
Somit haben wir den Fall, dass jemand, der von einem deutschen Gericht dafür verurteilt wurde, dass er einen deutschen Politiker mit Adolf Hitler verglich und dies für rechtens hielt, nun Strafanzeige gegen eine deutsche Politikerin stellt, weil diese die AfD mit der NSDAP verglich, was dieser nicht für rechtens hielt. Vermutlich handelt es sich aber simpel um eine Retourkutsche, nach dem Motto: Wenn die mich anzeigen, zeige ich die auch an. Man wird sehen. Mir scheint, Frau Erben hat dabei wesentlich größere Chancen als Herr Grosz.
Vom Missbrauch des Kirchenamtes für politische Positionen.
Und schon wieder ist es passiert. Nach dem Erscheinen der ForuM-Studie waren sich doch alle irgendwie einig, dass ein Teil des Problems des Missbrauchs und des Umgangs mit Missbrauch in der Evangelischen Kirche in der unangemessen hervorgehobenen Rolle der Pfarrer:innen in der Kirche und in den Gemeinden bestand. Trotz aller Egalisierungsbemühungen des Protestantismus im 16. Jahrhundert sei man, was die Rolle der Pfarrer:innen angeht, ganz unsensibel wieder in Hierarchisierungen verfallen. Das habe zu einer Situation geführt, die nicht nur paternalistisch geprägt gewesen sei, sondern auch zum Missbrauch der eigenen hervorgehobenen Stellung für Verbrechen und Vergehen eingeladen habe.
Soweit der damalige Konsens, unmittelbar nach Erscheinen der ForuM-Studie. Und da haben auch viele Engagierte ihre Stimme erhoben, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Evangelische Kirche daran arbeiten müsse, den Mythos der besonderen Rolle ihrer Theolog:innen und Pfarrer:innen zu dekonstruieren und alle religiösen Subjekte wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen.
Überraschenderweise finde ich einige der Namen derer, die damals für die Dekonstruktion der hervorgehobenen Rolle der Pfarrer:innen und Theolog:innen in der Kirche plädiert haben, auf einer Unterschriftenliste wieder, die gerade vehement die CDU für ihre angekündigten Asylbeschlüsse auf ihrem Parteitag kritisiert und dazu dekretiert: Die CDU ist unchristlich.
Und was steht nun unter dieser Liste, schön fett gedruckt, damit es auch jeder lesen kann und beachtet? Diese Liste ist
Und man muss das ausgelassene „nur“ mitlesen, sonst hätte man ja schreiben können: Bitte unterzeichnen Sie diesen Appell. Das ist aber nicht gemeint, sondern man meint: möglichst keine Nicht-Theolog:innen auf unseren Listen. Wo kämen wir denn auch hin, wenn hier jedes Gemeindeglied unterschreiben würde. Das finde ich cool, dass das so unverhohlen eingeräumt wird. Nur den Theolog:innen kommt die Aura und die Kompetenz zu, die CDU als unchristlich zu verwerfen.
Direkt darunter ist ein Link auf die Liste derer, die bis zum Abend des 5.5.2024 bereits unterschrieben haben. Und auch hier bittet man darum, dass „Ort, Kirchengemeinde und Position“ angegeben werden. Plötzlich spielt die Position wieder eine ausschlaggebende Rolle.
Nun kann man fragen, ob die zahlreichen Pfarrer:innen, die unter Angabe ihrer Kirchengemeinde diese Liste unterschrieben haben, dies auch im Auftrag ihrer Gemeinde tun. Haben sie im Presbyterium ihrer Gemeinde abgestimmt, ob sie für die Gemeinde unterschreiben? Ich vermute nicht. Es dürften genügend Vertreter:innen in den Gemeindegremien sitzen, die es gar nicht so lustig finden, wenn die CDU frei weg als „unchristlich“ bezeichnet wird.
Wenn also ein Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Berlin Süd-Ost diese Liste unterschreibt, als was tut er dies? Wenn ein promovierter Pastor einer Hamburger Kirchengemeinde dies unter Angabe seiner Gemeinde signiert, wer hat ihn beauftragt? Ich glaube nicht, dass dies das korrekte Amtsverständnis ist. Es ist eben keine Privatmeinung, die hier artikuliert wird, sondern eine Meinung kraft des Amtes. Das wiederum finde ich missbräuchlich.