Nachtragendes und Tröstliches

Warum es manchmal besser ist, nicht durch Schreiben berühmt zu werden.

In ihrem im vorherigen Post angesprochenen Text klagt Angela Rinn darüber, dass bei einem Lagerbrand ein guter Teil ihrer Buchauflage bei der EVA verbrannt sei und wohl auch nicht mehr aufgelegt würde. Das brachte mich dazu, einmal bei der Deutschen Nationalbibliothek nachzuschlagen, welche ihrer Bücher denn heute schon digital zugänglich sind und daher den Flammen weitgehend unzugänglich. Und siehe da, es sind nicht wenige. Die Deutsche Nationalbibliothek hat ja bei den Buchmeldungen die Rubrik „Andere Auflagen“ und da wird verzeichnet, wie es um Digitalisierungen steht.

Der andere Weg wäre natürlich in den berühmten Schattenbibliotheken des Internets zu stöbern, ob jemand nicht Werke von Angela Rinn gescannt und so (illegalerweise) der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt und damit ihr Wissen geteilt hat. Auch wenn die deutschen Netzbetreiber das zu unterbinden suchen (im Augenblick meldet der Provider beim Aufruf der Library Genesis immer aufgrund einer in Deutschland geltenden DNS-Sperre „Seite wurde nicht gefunden“), so funktioniert das dennoch ohne größere Umwege und man wird auch fündig (17 Download-Angebote), wenn auch nicht mit ihren Werken bei der EVA. Aber auch so bleibt Literatur erhalten und geht nicht unter. Raubkopien nannte man das in den 68er-Jahren und es war durchaus üblich.

Nachzutragen wäre zudem, dass die bürgerliche Klage vom Verlust des Buches zu vergleichen wäre mit Platons Klage über den Verlust der Oralität durch die Hinwendung zur Schriftlichkeit. Platon meinte, „Geschriebenes sei nicht zur Wissensvermittlung geeignet, sondern nur als Gedächtnisstütze nützlich, wenn man den Inhalt bereits verstanden hat. Das Schreiben sei nur ein mangelhaftes Abbild des Redens. Der geschriebene Text scheine zu sprechen, aber in Wirklichkeit ‚schweige‘ er, denn er könne weder Verständnisfragen beantworten noch sich gegen unberechtigte Kritik zur Wehr setzen. Auf die individuellen Bedürfnisse des Lesers könne er nicht wie ein Gesprächspartner eingehen. Weisheit lasse sich daher auf diesem Wege nicht vermitteln“ (Zusammenfassung nach der Wikipedia). Soweit zum Nach(zu)tragenden.

Nun aber zum Tröstlichen: Angela Rinn sorgt sich um den Nachruhm, den Schreibende und Publizierende ja anstreben und der verloren gehe, wenn niemand mehr ihre Bücher lese. Ja, das ist so. Man bleibt heute als Massenmörder länger im Gedächtnis als fast jeder Autor. Aber das hat auch etwas Tröstliches, wenn wir an eine der für mich schönsten Geschichten von Arno Schmidt denken. Fasziniert hat mich die Erzählung zunächst in Zeiten, in denen ich selbst noch gar nicht oder doch nur wenig publizierte. Mit der Zeit wurde meine Haltung ambivalenter, denn nun gehörte ich ja auch zu den Publizisten, die von der geschilderten Handlung in der Erzählung betroffen waren. Kenner:innen werden wissen was ich meine: Tina oder über die Unsterblichkeit.

Nicht nur Homer kannte sich aus mit der Unterwelt. Auch Arno Schmidt, knapp 3000 Jah-re später, hat seinen Lesern zu einem Blick ins Jenseitige verholfen. Sein Elysium liegt geradewegs unter Darmstadt, und wie bei Homer im Hades wollen auch die Seelen in Schmidts Erzählung, allesamt mehr oder weniger bekannte Dichter, nichts wie weg. Lei-der steht dieser Sehnsucht der im Diesseits so hartnäckig angestrebte Ruhm im Weg. Denn es gilt die Regel: »Jeder ist so lange zum Leben hier unten verdammt, wie sein Name noch akustisch oder optisch auf Erden oben erscheint.« Der Maler und Graphiker Eberhard Schlotter hat die so witzige wie bitterböse Satire auf den Dichter-traum von der Unsterblichkeit mit 25 Radierungen illustriert. Und Text wie Bild lassen keinen Zweifel: Nicht die Unsterblichkeit kann das Ziel sein, sondern das gnädige Vergessen: »endlich in Ruhe tot sein«!

Soweit der Klappentext des Buches. [Nicht verschwiegen werden sollte an dieser Stelle, dass es von Arno Schmidt eine Gegengeschichte mit Goethe gibt, aber die lasse ich einfach mal beiseite.] Es kommt mithin auf die Perspektive an. Wenn man so lange in den Limbo verdammt ist, wie noch eine einzige Zeile aus Publikationszeiten bekannt ist, dann ist es vielleicht besser, die Buchkultur nicht allzu sehr zu schätzen und zu pflegen, denn dann verlängert man automatisch den Aufenthalt im Purgatorium (das übrigens durch einen Aufzug in einer Litfaßsäule in Darmstadt zugänglich sein soll).

Ein Bücherbrand auf Erden löst in diesem Purgatorium immer einen Freudentaumel aus. Endlich wieder ein paar Dichter-Seelen frei, endlich wieder ein paar Bücher weniger, endlich Hoffnung auf ein anderes Leben. Eine Doktorarbeit über die Biografie oder das Werk von Autor:innen löst dagegen im Gegenzug Entsetzen und Verzweiflung aus. Schon wieder Hunderte von Universitätsbibliotheken, die das in ihre Archive aufnehmen müssen und dem Vergessen entgegenwirken. Es ist sozusagen das auf den Kopf gestellte „Publish or perish“: Publish and perish! Wenn das all unsere Nachwuchs-Wissenschaftler:innen wüssten, denen nichts wichtiger ist, als durch eine Vielzahl von peer-reviewten Texten zu glänzen. Aber die lesen vermutlich auch keine Texte von Arno Schmidt, sondern schreiben fleißig weiter ihre Bücher und Aufsätze und verlängern so den Aufenthalt im Purgatorium.

Der Ruhm, so meine ich jedenfalls, sollte der dargestellten Sache, der Erkenntnis, dem prophetischen Satz selbst zukommen – nicht unbedingt dem Urheber als solchem. Das scheint mir ein Überbleibsel des Geniekults zu sein. Aktuell wäre ein Beispiel dafür jene Bischöfin, die etwas menschlich ganz Selbstverständliches in einem Gottesdienst sagt. Und plötzlich geht es nur noch um die Person als Heldin oder Prophetin im Gegenüber zu einer anderen Person und nicht um die Auseinandersetzung mit der Theologie des von ihr Ausgeführten. In Deutschland wäre jetzt über die Zwei-Reiche-Lehre und über Barmen V zu sprechen und kein Personenkult zu betreiben – auch wenn ich mich natürlich auch über ihre Intervention gefreut habe.

Prediger 12, 12 oder die Bibliothek zu Babel

Ein Plädoyer, bei Büchern und beim Schreiben mehr Digitaltät zu wagen – mit einer Ausnahme.

Ich lese gerade Angela Rinns Klage auf z(w)eitzeichen darüber, dass der Wert der Bücher in Zeiten der Digitalität zu sinken scheint: „Leibhaftiges Gedächtnis. Über den Wert von Büchern und Bibliotheken in der digitalisierten Welt“. Sie hat an einem Buch über Gedächtnis mitgearbeitet und fragt, welche Halbwertszeit dieses Buch wohl hat, wenn man überlegt, dass immer mehr Menschen nur noch auf das zugreifen, was digital zugänglich ist.

Als Autor kann ich diese Klage gut nachvollziehen. Das publizierte Buch ist ein Fetisch im eigenen Leben. Ich habe einen Schrank, der nur den von mir publizierten Texten in Büchern und Zeitschriften vorbehalten ist und dieser Schrank ist ganz programmatisch ein Bücherschrank, den ich von meinem Großvater übernommen und nun mit eigenen Elaboraten gefüllt habe. Diese Bücher (und dieser Schrank) haben einen elementaren Wert – für mich.

Dennoch übereigne ich Monat für Monat einen halben Regalmeter meiner sonstigen Bibliothek dem Altpapiercontainer, schlicht deshalb, weil die Bücher für den Augenblick geschrieben waren und deshalb überholt sind, weil sie auf kein Interesse bei Antiquariaten stoßen oder aus Themengebieten stammen, die mich temporär vor Jahren einmal interessiert haben und heute und auch künftig nicht mehr. Andere Bücher habe ich inzwischen digitalisiert zur Hand und kann wesentlich besser damit arbeiten, als wie in früheren Zeiten mich durch die Seiten zu quälen.

Ich bin also kein Buch-Fetischist – mit einer Ausnahme: die Andere Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger, von der ich über 300 Bände besitze, ist tatsächlich ein Buch-Fetisch für mich. Aber nicht wegen etwaiger Inhalte (so spannend sie auch sind), sondern weil ein Großteil von ihnen noch mit Bleisatz gedruckt wurde. Und wenn man schon von Büchern schwärmt, dann doch bitte von diesen. Wo die Fingerkuppen noch den einzelnen Buchstaben folgen können, wo Lesen noch dreidimensional erfolgt und nicht wie im Computersatz sich im Zweidimensionalen erschöpft. Diese Bücher – samt all den anderen die ich aus der Zeit zwischen 1700 und 1930 habe, kann ich nicht durch Digitalität ersetzen. Hier geht es weder um Gedächtnis, um Wissen oder Poesie, sondern um Haptik.

Und dennoch bin ich im letzten Vierteljahrhundert – wie all die jungen Leute um mich herum – zu einem Menschen des Digitalen geworden. Das Stöbern in alten Büchern, an die ich nie in meinem Leben gekommen wäre, die nun aber digitalisiert zugänglich geworden sind, war einfach faszinierend (Vom besonderen Vergnügen, alte Texte zu lesen).

Manchmal kaufe ich mir dann nachträglich ein solch leibhaftes Objekt (oder lasse es mir schenken), einfach weil ich mit den Fingern durch die mit Bleisatz bedruckten Seiten blättern möchte. Um die Argumente zu begreifen würde mir jedoch eine digitale Ausgabe genügen.

Ansonsten habe ich mich für das Digitale entschieden. Ein Grund dafür ist tatsächlich Kohelet 12, 12: Zu guter Letzt, meine Schülerin, mein Schüler, lass dich warnen: Das viele Büchermachen findet kein Ende, und viel Studieren ermüdet den Leib. Die Fülle der Bücher nimmt einfach nicht ab, sondern steigert sich von Jahr zu Jahr. Und die wenigsten Bücher lese ich noch von Anfang bis Ende. Da ist es viel besser, sie digital zur Verfügung zu haben, sie auf Stichworte durchforsten zu können und Zitate per Cut & Paste in die eigene Arbeit aufzunehmen.

Leibhaft – um das Stichwort von Angela Rinn aufzugreifen – sind mir nur noch bibliophile Bücher wichtig, Bücher, die mit einem offenen Rücken gebunden sind, Bücher und Hefte, die in Kleinstauflagen gedruckt sind, Bücher und Hefte, die mit Originalgrafiken versehen sind. Das lässt sich nicht digitalisieren. Ich habe mir gerade im Zürcher Antiquariat eine Ausgabe von Spektrum – internationale Vierteljahresschrift für Dichtung und Originalgrafik Zürich gekauft. Sie besteht exklusiv aus Lyrik und originalen Grafiken. So etwas zu publizieren ist heute undenkbar oder unbezahlbar. Und es ist ein Vergnügen, das Heft überhaupt nur hier auf dem Schreibtisch liegen zu sehen und ab und an darin zu blättern.

Und dennoch. Wer Bücher und Bibliotheken sagt, muss als literarisch Kundiger natürlich sofort an „Die Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges denken, 1941 geschrieben. Ein Lobpreis der Bücher (auch der scheinbar sinnlosen) und zugleich voller Weitsicht und Einsicht. An einer Stelle seiner Erzählung gibt es aber eine Fußnote und die lautet so:

„Letizia Alvarez de Toledo hat angemerkt, dass die ungeheure Bibliothek überflüssig ist; strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestünde. (Cavalieri sagte zu Anfang des Jahrhunderts, dass jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Flächen ist.) Die Handhabung dieses seidendünnen Vademecums wäre nicht leicht; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete teilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.“

Ich frage mich, ist das Internet, sind die digitalen Welten nicht genau das: ein einziger Band be-stehend aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter, gefüllt mit einer unendlichen Zahl von Texten, von denen ein Großteil unverständlich bleibt, dem man aber immer wieder neue Textfragmente entringen kann? Ob dieses eine Buch, die digitale Bibliothek von Babel noch eine Mitte hätte, wäre demgegenüber sekundär. Es wäre nur eine metaphysische Spekulation.

Als ich mich mit Freunden und Freundinnen vor 28 Jahren entschied, die Zeitschrift tà katoptrizómena nicht als gedruckte Zeitschrift zu konzipieren, sondern als digitale, da standen mir all diese Debatten um den Schatz und Nutzen der gedruckten Bücher vor Augen. Ich war mir aber auch im Klaren darüber, dass – wenn es um die Idee des geteilten Wissens geht – Bücher immer auch der Distinktion dienten. Digitalität kann das unterlaufen – muss es aber nicht. Open Access ist mit Printbüchern nur bedingt möglich – im Internet aber leichter zu realisieren. Sollte einmal eine Neutronenbombe das digital gespeicherte Wissen auf einen Schlag vernichten, dann wäre es, als hätte es nie existiert. Dieses apokalyptische Restrisiko muss ich eingehen.

Innerhalb nur eines Jahres 2 Mio. Antisemit:innen weniger in Deutschland

Wenn die Zahlen aus statistischen Erhebungen nur noch der Propaganda dienen.

Eine Schlagzeile wie die obige wird man in der deutschen Presse nicht finden, auch wenn sie zutreffend ist. Aber sie passt nicht ins Bild derer, die von gegenteiligen Meldungen profitieren. Mit besorgter Miene meldet sich der Lautsprecher Felix Klein und teilt der Bevölkerung mit, dass der Antisemitismus in Deutschland geringfügig zurückgegangen sei, weltweit aber auf dem höchsten Stand sei: „Negative Stereotype über Juden sind einer Befragung zufolge weltweit so verbreitet wie nie“.

Fangen wir mit Letzterem an: Was meint „wie nie“? In den letzten 80 Jahren, in den letzten 150 Jahren, in den letzten 2000 Jahren? Man weiß es nicht und er sagt es auch nicht. Tatsächlich meint er die letzten 10 Jahre (sic!), denn erst seit 2014 erhebt die ADL den Antisemitismus-Index. So aber entsteht der Eindruck, der weltweite Antisemitismus sei schlimmer als im 19. Jahrhundert, schlimmer als zur Zeit des Nationalsozialismus. Und doch wissen wir alle: das ist er keinesfalls. Aber mit Superlativen arbeiten manche Politiker gerne. Und sie kümmern sich nicht darum, ob die Daten der ADL Globalerhebung überhaupt valide Daten sind, sie lesen sie einfach als Fakten vor. Wer wird das schon nachprüfen?

Ich habe es getan und kann nur sagen, ich halte die Ergebnisse der aktuellen Ausgabe für überaus fragwürdig und unsolide. Befragt wurde 58.000 Menschen in 103 Ländern. Wenn man davon ausgeht, dass nur über 18-Jährige befragt wurden und nicht alle Länder der Erde untersucht wurden (wohl aber die bevölkerungsreichsten), dann müssten die Befragten für 4.780.000.000 Menschen repräsentativ sein. Da scheint mir die Zahl von 58.000 Befragten etwas gering zu sein, um verlässliche Ergebnisse zu bekommen oder man nimmt eine Fehlerquote über 10% in Kauf.

Für Deutschland sind die Ergebnisse nun so, dass 2024 9% der Befragten manifest antisemitische Haltungen haben. Ein Jahr zuvor hatte dieselbe Institution mit derselben Methodologie noch 12% an antisemitischen Haltungen erhoben. Das scheint (wenn die Daten verlässlich sind) auf den ersten Blick keine große Differenz zu sein, ist es aber doch. Die Zahl der Antisemiten ist innerhalb eines Jahres um 25% zurückgegangen. Das kann man als Erfolg verbuchen – es sei denn, man verdankt sein Amt den permanenten Warnungen vor steigendem Antisemitismus.

Noch deutlicher wird das Ganze, wenn man es in Bevölkerungszahlen umrechnet. Befragt werden Deutsche über 18 Jahre. In Deutschland leben knapp 70 Millionen Menschen, die älter als 18 sind. Wenn von 2023 bis 2024 der Prozentanteil von 12% (= 8,4 Mio.) auf 9% (= 6,3 Mio.) zurückgeht, minimiert sich die Zahl der Antisemiten um 2,1 Millionen Menschen. Die verbleibenden 6,3 Mio. Antisemit:innen können zwar in diesem Jahr umso aggressiver und gewalttätiger sein, das ändert aber nichts daran, dass der Antisemitismus (nicht aber die Zahl der antisemitischen Aktivitäten) zurückgeht. Man sollte nun meinen, dem Antisemitismusbeauftragten wäre eine solche Erfolgsmeldung recht: Aber aus unerfindlichen Gründen ist sie das nicht – wobei so unerfindlich ist das nicht. Im Augenblick verschärfen wir zahlreiche Gesetze unter Verweis auf einen angeblich steigenden Antisemitismus, da wären entgegenstehende empirische Befunde gar nicht erwünscht.

Nun aber zur Solidität der Erhebungen des ADL. Ich habe in der Vergangenheit auch regelmäßig auf deren Publikationen und Daten zurückgegriffen, nicht zuletzt, weil sie mir auch plausibel erscheinen. Das ist dieses Mal freilich nicht der Fall. Es gibt derartig eklatante Abweichungen, dass sie rational nicht mehr erklärt werden können. Entweder haben die Daten in früheren Erhebungen nicht gestimmt oder die Daten aus der aktuellen Erhebung sind falsch. Dann kann man aber keine Rückschlüsse auf steigenden oder sinkenden Antisemitismus ziehen.

Ein Beispiel: Das Land, das 2014 vor allen Ländern mit der geringsten Antisemitismusquote herausstach war Laos. Unter den etwa 7,5 Mio. Menschen gab es, folgt man den Daten der ADL, gerade einmal 0,2% manifest antisemitisch Denkende. Das konnte damit erklärt werden, dass a) keine Juden in Laos leben und b) Laos ein buddhistisches Land mit religionstoleranter Haltung ist. 2024, nur 10 Jahre später, offenbart die ADL-Erhebung eine ganz andere Lage. Nun sind mit 45% fast die Hälfte aller Bewohner:innen manifest antisemitisch. Das ist eine sagenhafte Steigerung von 22400% (zweiundzwanzigtausendvierhundert Prozent). Kein Statistiker der Welt wird das für seriös halten. Innerhalb von 10 Jahren soll also das Land mit der geringsten Antisemitismusquote zu einem Land mit einer überdurchschnittlich hohen Antisemitismusquote geworden sein? Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Nehmen wir ein weiteres Land, die Philippinen. Sie waren 2014 jenes Land, mit der zweitgeringsten Antisemitismusquote weltweit. Nur 3% der Bevölkerung dieses katholischen Landes zeigte derartige Einstellungen. Nur 10 Jahre später sollen es 42% sein, eine Steigerung von 1300%. Das ist statistisch völlig unglaubwürdig. Entweder stimmen die Daten von 2014 nicht oder die von 2024. Ähnliches gilt auch für die Zahlen von Vietnam, Tansania oder Uganda. So-lange das nicht aufgeklärt und korrigiert ist, sind keine ethischen und politischen Schlussfolgerungen aus dieser Erhebung möglich.

Wenn die anderen Daten stimmen sollten, könnte man aber vielleicht nicht nur auf das Negative schauen, sondern auch auf das Positive: in Qatar, im Iran, im Irak und auch in Marokko ist der Antisemitismus z.T. deutlich zurückgegangen. Im Iran gäbe es 6 Mio. weniger Antisemiten, im Irak 4 Mio. und in Marokko immerhin noch 2,6 Mio. Das sind gerade in Zeiten eines Nahost-Konflikts doch überraschend positive Meldungen. Aber davon wird man nichts hören.

Und noch etwas: in Zeiten, in denen der Bundestag und die Interessenvertreter:innen immer wieder Resolutionen verabschieden oder fordern, die in die Schulen und Hochschulen eingreifen, wäre es doch auch gut darauf hinzuweisen, dass der Antisemitismus in dieser Altersgruppe der geringste ist und darüber hinaus auch abnimmt, je höher die Bildung ist. Stattdessen müsste also in Erwachsenenbildung investiert werden und eine konsequente Zielgruppenorientierung durchgeführt werden.

Ich bin es jedenfalls leid, mit Zahlen aus nicht begriffenen oder evtl. falsch erhobenen statistischen Erhebungen hinters Licht geführt zu werden. Das ist unseriös, so lässt sich keine Politik machen. Wer Antisemitismus bekämpfen will, sollte nicht mit fragwürdigen Zahlen arbeiten.

Ein bisschen Spaß muss sein – oder: Die fetten Kühe von Baschan

Warum muss man mit Taylor Swift Gottesdienste veranstalten? Eine moralinsaure Kritik aus ökologischen und theologischen Gründen.

Vor mehr als 50 Jahren sang Roberto Blanco ein Lied, in dem er meinte, mit ein bisschen Spaß sei die ganze Welt voll Sonnenschein und dann komme das Glück von ganz allein. Man frage nicht nach Zeit und Geld, schlicht deshalb, weil es einem so gefällt. Ich weiß nicht, ob es damals schon Schlager- oder Popmusik-Gottesdienste gab, aber mentalitätsmäßig hätte es natürlich gepasst. Das sagen wir uns in den Gottesdiensten ja auch immer: ein bisschen Spaß muss sein.

An Roberto Blancos Lied musste ich denken, als ich die Nachrichten vom Taylor-Swift-Gottesdienst las. Ich weiß nicht, ob man die Künstlerin zu den von Amos am Anfang des vierten Kapitels seines Buches erwähnten stolzen Frauen zählen kann, aber sie ist denen näher, als man glauben mag. Unter allen Pop-Künstler:innen ist Taylor Swift die mit der schlechtesten Öko-Bilanz, nur noch übertroffen von jenen Protagonisten dieser Welt, die sich im Neuen Amerika zusammengetan haben, um die Welt zu beherrschen (Donald Trump, Bill Gates, Elon Musk). Und diese ökologische Bilanz geht zu Lasten der Ärmsten dieser Welt, sie müssen den Preis dafür bezahlen durch die Vernichtung ihrer Lebenswelten.

Ich hatte vor einigen Jahren kritisiert, dass in einem Chrismon Spezial Werbung für Kreuzfahrtreisen nach Alaska gemacht wurde und hatte einmal zusammengerechnet, dass die Reisenden dabei auf einer dreiwöchigen Reise allein für die Verkehrsmittel pro Person 7,7 Tonnen CO² verbrauchen. Das wären für Taylor Swift freilich nur Peanuts, damit gibt sie sich nicht ab. Allein im Januar 2024 verbrauchte sie für Kurzstreckenflüge mit ihren Privatjets 67 Tonnen CO². Ein bisschen Spaß muss sein, da ist die Welt voll Sonnenschein und das Glück kommt von ganz allein. „Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein, du und ich wir stimmen ein, schön ist es auf der Welt zu sein“ (Roy Black und Anita Hegerland).

Das jedenfalls müssen sich auch jene gedacht haben, die einen Gottesdienst unter der musikalischen Ägide der kulturindustriellen Produkte von Taylor Swift ankündigten. Das ist ja der Kern der christlichen Botschaft: „Dann segnete Gott [die Menschen], indem Gott zu ihnen sprach: »Seid fruchtbar, vermehrt euch, füllt die Erde und bemächtigt euch ihrer. Zwingt nieder die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und alle Tiere, die auf der Erde kriechen.«

Ich will nicht allzu moralinsauer reagieren [eigentlich aber schon], aber man hat doch den Verdacht, dass bei dieser Art der Gottesdienste eben nicht auf die Kompatibilität der Botschaft, sondern auf die Attraktivität der Sängerin für die angezielte Kundschaft geschielt wird. Es gibt genügend popkulturelle Lieder in den letzten 40 Jahren, die in einem herausragenden Sinn kom-patibel zum Christentum sind und nicht nur von Herzschmerz handeln. Leonard Cohen etwa mit dem großartigen „Halleluja“, Madonna mit „Like a prayer“, REM mit „Losing my religion“, Metallica mit „Until it sleeps“, Billie Eilish mit „All the good girls go to hell“. Und es wären hunderte wei-tere zu nennen. Taylor Swift gehört definitiv nicht dazu – sie ist schlicht nur populär. Natürlich wäre es angemessen gewesen, nicht nur die Musik von Taylor Swift zu performen, sondern auch Eintrittsgeld in Höhe ihrer Konzertkarten zu nehmen, das begänne mit etwa 112 Euro und ist bei einem halben Tausender für VIP-Karten noch nicht am Ende. Das wäre doch eine Idee. Und dann könnten sich die kirchlichen Veranstalter:innen angemessene Dienstfahrzeuge gönnen, so wie Taylor Swift ihre beiden Privatflugzeuge.

Taylor Swift ist unbestritten eine der großen Pop-Künstlerinnen dieser Tage. Sie ist eine Kultfigur (auch darum geht es in Amos 4) und sie fesselt die Menschen. Sie ist ein Aushängeschild der Kulturindustrie und wird von den Medien mit geradezu magischen Kräften versehen: nur ein Wort von ihr und Kamala Harris wird die kommende US-Präsidentin. Ja, eine falsche Prophetie. Taylor Swift ist jedoch ganz sicher keine Prophetin des Christentums, sie ist das Gegenteil. Mit den Worten Adornos: Religion wird hier zum Warenartikel. „Sie wird billig vermarktet, um einmal mehr einen sog. irrationalen Stimulus unter vielen anderen zu liefern, mit dem die Mitglieder einer berechnenden Gesellschaft berechnend dazu gebracht werden, die Berechnung unter der sie leiden zu vergessen. Das ist Religion a la Hollywood, noch bevor die Industrie sich hier engagiert hat.“

Die Tendenz zu kulturindustriell präfigurierten Gottesdiensten, zur Religion als Ware im Unterhaltungssegment beobachten wir schon länger. Sie ist durchgehend instrumentell motiviert. Aber was will man noch verkündigen, wenn die Mittel, die man zur Werbung einsetzt, der zu verkündigenden Botschaft diametral widersprechen? Taylor Swift produziert kulturelle Massenware, die Heilige Schrift ist – obwohl massenhaft verbreitet – ein Teil der Hochkultur. Sie ist nicht auf raschen Konsum angelegt, nicht auf Twitter-Verkürzungen, nicht auf die Befriedung der Menschen. Sie gehört nicht zum Brot-und-Spiele-Management der Herrschenden. Das vergessen jene, denen es auf möglichst viele Besucher:innen, auf religiöses Clickbaiting ankommt. Aber mit Roberto Blanco: Aber ein bisschen Spaß muss sein – und da muss die Botschaft vom Kommen Gottes auf die Erde (und auch die sozialkritische Botschaft von Amos) hinten anstehen.

Ein gutes Neues Jahr 2025!

wünscht das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik seinen Leser:innen

mit einem Bild von einem Feuerwerk, das eine über 500jährige Tradition hat: La Girandola. Begonnen wurde diese Tradition eines Feuerwerks über der Engelsburg in Rom bereits Ende des 15. Jahrhunderts. Mitgewirkt haben soll in den Anfängen zunächst Michelangelo, dann Bernini. Es wurde auch an Silvester gefeiert, vor allem aber am Tag von Petrus und Paulus am 29. Juni.

Schichten der Präsenz

Die 152. Ausgabe von tà katoptrizómena ist erschienen. Sie steht unter dem Titel „Schichten der Präsenz“ .

Editorial

VIEW

Gottes Bilder? Menschenbilder!
Grundsätzliche Überlegungen
anhand eines neu erschienenen Buches
Andreas Mertin (32 S.)

Evangelische Wallungen
Über tobende Deutungskämpfe
protestantischer Glaubenskohorten
Wolfgang Vögele [12 S.]

Schichten der Präsenz
Das Unbehagen in der Kirche
Andreas Mertin [10 S.]

Repräsentation – Schichten der Präsenz
Carlo Ginzburg: Eine Re-Lektüre nach dreißig Jahren
Andreas Mertin [6 S.]

Memento Muri
Saerdna Nitrem [6 S.]

BILDBETRACHTUNGEN

Quo vadis?
Eine Momentaufnahme vom Amazonas
Karin Wendt [10 S.]

Ein Weihnachtsbild des Jahres 1919
Otto Mueller: Z*** oder P*** oder J***-Familie
Andreas Mertin [10 S.]

Zwei Predigtimpulse von ChatGPT
zum Bild von Otto Mueller
Andreas Mertin [6 S.]

CAUSERIEN

Wenn der Staat uns (s)eine Meinung vorschreiben will und Gesprächen aus dem Weg geht
Zur Antisemitismuserklärung des Bundestages
Andreas Mertin [20 S.]

Es kam, wie es kommen musste …
Die fatale Debatte um das Berliner Symposion zu Nan Goldin
Andreas Mertin [6 S.]

MERTINS KRITISCHE MISZELLEN

Widerspenstige KI [2 S.]

Warum die Frage „Kann KI predigen?“ falsch ist
Vom Unterschied zwischen Menschen und Maschinen [6 S.]

Vom Verlieren, Verstummen und Schweigen
Das Fading der EKD-Synode im Spiegel biblischer Texte – beiläufige Notizen [6 S.]

It’s Art, stupid!
Zur Renaissance von Nazi-Kriterien in der Kunstbeurteilung [4 S.]

RE-VIEW

„Passage: Die Dinge – Das Leben“
Ein schönes Buch über ein interessantes Foto-Ausstellungs-Projekt
nebst einigen sich anschließenden Gedanken
Andreas Mertin [6 S.]

Unter Beteiligung
Hinweise auf Bücher, an denen Autor:innen des Magazins mitgewirkt haben
Redaktion [2 S.]

Biennale di Venezia – Kommentar

Kommentar zur Biennale 2024

Im Mai 2024 fragte ich eine Freundin, die gerade die Biennale di Venezia besuchte, per Messenger „Und, wie ist die Biennale?“ und sie antwortete „Sehr moralisch … stecke im Hauptpavillon zwischen Schulklassen fest“. Knapper kann man die diesjährige Biennale kaum zusammenfassen. Als ich dann einige Tage später selbst in Venedig auf der Biennale war, konnte ich den Eindruck nur bestätigen. Gut, dass im internationalen Kunstsystem im Augenblick die Moral Konjunktur hat, konnte einen nicht wirklich überraschen. Ich hätte allerdings erwartet, dass nach den Erfahrungen mit der Documenta 2022 die Biennale auf ein weniger einliniges Programm setzen würde. Aber darin habe ich mich getäuscht.

Nun zu den Schulklassen. Ich war 2024 vier Mal während der Biennale-Zeit in der Ausstellung. Und tatsächlich war es auffällig, wie viele Lehrer:innen gerade auch mit Grundschulkindern in der Ausstellung waren. Als älterer Besucher ist man nicht immer froh darüber, weil die Klassen sich sehr viel Zeit vor einzelnen Kunstwerken nehmen und zum Beispiel den tschechischen Pavillon „The heart of a giraffe in captivity is twelve kilos lighter“ geradezu belagerten. Dann hat man selbst nicht immer den Zugang zu einzelnen Werken, den man sich für sich selbst gewünscht hätte. Aber es ist schon gut, wenn die Kinder sehr früh an einen ganz selbstverständlichen Umgang mit der Kunst herangeführt werden und Ausstellungen im Klassenverband besuchen. Mir fällt auf, dass so etwas in anderen Ländern sehr viel normaler ist als in Deutschland, wo insgesamt das Gefühl verbreitet wird, Museen und Kunstausstellungen seien etwas Verstaubtes und Abgestorbenes.

Dennoch bin ich nach der Lektüre der Besucherstatistik ernüchtert. Sowohl von meinem subjektiven Gefühl, als auch ausgehen von allgemeinen Überlegungen hätte ich erwartet, dass die Besucherzahlen steigen würden. An den Tagen, an denen ich da war, gab es freilich keine langen Warteschlangen vor den Pavillons, die es früher durchaus gegeben hatte. Man kam immer überall sofort rein. Ich erinnere mich, dass 2022 auf dem Arsenale vor einem Pavillon eine Schlange stand, die einem eine stundenlange Wartezeit verhieß. Das war dieses Mal nicht der Fall.

Lehrreich fand ich die Biennale 2024 allemal. Es waren mehr als genug Impulse für ästhetische Erfahrungen und Infragestellungen zu entdecken. Darin ist die Biennale immer zuverlässig. Und so setze ich weiterhin meine ästhetischen Hoffnungen eher auf künftige Biennale-Ausstellungen als auf künftige Ausgaben der Documenta in Kassel.

Biennale di Venezia – Rückblick in Zahlen

Die Biennale die Venezia ist mit den Besucherzahlen zufrieden – auch wenn es 12% weniger waren als 2022.

Die Biennale die Venezia veröffentlicht am letzten Tag der Ausstellung folgende Informationen:

Today, Sunday 24 November 2024, following seven days of performances at the Arse-nale, the 60th International Art Exhibition Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere, curated by Adriano Pedrosa, closed after registering one of the highest levels of visitor attendance in its history. With an 18% increase over the pre-Covid edition in 2019 and second only to the previous 2022 edition – The Milk of Dreams, curated by Cecilia Ale-mani, which registered a record 800,000 visitors, Biennale Arte 2024 announced the su-perlative sale of 700,000 tickets (an average of approximately 3,300 visitors per day), in addition to the 27,966 visitors who attended the preview.
THE PUBLIC
A share of 59% of the public came from abroad, and 41% from Italy. There was strong attendance by young people and students under the age of 26, totalling over 190,000, or 30% of all visitors. There was also a significant 20% increase in primary school visits; while 35% of the schools came from abroad. A record result was also the participation of fragile categories at the Exhibition, with an increase this year of +67%. This figure confirms La Biennale’s constant and growing attention to activities relating to the accessibility of the cultural heritage and of contemporary arts in particular to persons with disabilities or situations of social disadvantage or marginalisation.

Darüber hinaus publizierte die Biennale di Venezia ein abschließendes Statement des künstleri-schen Leiters:

The Curator Adriano Pedrosa, on his part, stated:
“As the Biennale Arte 2024 closes after a week of extraordinary performances, I am grateful above all to the artists who participated in the exhibition, to the biennale staff, to my own team, to all the lenders, galleries, sponsors and donors who supported the exhibition so generously, as well as to the more than 700.000 visitors who came to see our show. I am also grateful to former president Roberto Cicutto, for having appointed me, and for president Pietrangelo Buttafuoco, for his support. It is always melancholic to see an exhibition of this magnitude come to an end, yet in some ways the journey con-tinues, and I am now looking forward to the afterlife of Stranieiri Ovunque – Foreigners Everywhere, especially regarding the understanding, reception and visibility of artists from the Global South, as well as indigenous artists, queer artists, self taught artists and 20th century figures from Africa, Asia and Latin America.”

Damit hatte die Biennale di Venezia 2024 etwa 12% weniger Besucher als die Biennale von 2022, die noch von den Folgen der Corona-Krise gekennzeichnet war. Das überrascht ein wenig, weil eigentlich erwartet worden war, dass sich die Zahlen noch einmal steigern würden. Der sehr hohe Anteil von Schüler:innen mag die Veranstalter:innen zufrieden stellen, zeigt aber auch, dass das (nicht-pädagogische) Kunstinteresse weltweit etwas nachgelassen hat. 2022 hat-te die Biennale klar mehr Besucher als die zeitgleiche Documenta, mit den aktuellen Zahlen läge sie wieder an zweiter Stelle.

Religionskritik? Zu viel der Ehre

Charlie Hebdo schreibt einen Karikaturenwettbewerb zum Thema „Religionskritik“ aus. Ist das noch zeitgemäß?

Die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ schreibt anlässlich des 10jährigen „Jubiläums“ des tödlich-terroristischen Anschlags auf die Redaktion einen Wettbewerb aus, der unter dem Hashtag #MOCKINGGOD steht.

Dabei rufen sie weltweit Karikaturist:innen auf, der „Wut über den Einfluss der Religionen auf persönliche Freiheiten“ bildlich Ausdruck zu verleihen. Aufgerufen seien alle, „die es satthaben, in einer Gesellschaft zu leben, die von Gott und Religion beherrscht wird“. Darüber hinaus richte sich die Ausschreibung an jene, „die es leid sind, ständig über das angeblich Gute und Böse belehrt zu werden“. Das ist natürlich ihr gutes Recht – gerade vor dem nicht zuletzt islamistisch begründeten Terroranschlag auf ihre Redaktion.

Und doch, es ist zu viel der Ehre. Haben die Karikaturisten auf der Welt nicht andere Sorgen? Die freie Welt, die offene Gesellschaft ist auf dem Rückzug, aber nicht wegen islamistischer Strömungen, sondern wegen der neuen Autoritären: Putin, Orban, Trump, Netanjahu, Meloni und wie sie alle heißen. Aber Religionskritik ist natürlich das Spezifikum für Charlie Hebdo. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Ich fürchte nur, es wird billig und oberflächlich werden, dabei wäre auch religionskritisch so viel zu sagen und zu zeichnen.

Ob in einem laizistischen Staat die Klage darüber berechtigt ist, in einer Gesellschaft leben zu müssen, „die von Gott und Religion beherrscht wird“, wäre zumindest zu fragen. Ich empfinde die französische Gesellschaft nicht als religiös dominierte Gesellschaft – es sei denn man erhebe die Forderung, Religion gleich ganz abzuschaffen. Das aber wäre illiberal. Und die Klage darüber, man wolle nicht „über das angeblich Gute und Böse belehrt“ werden – ein Thema, das doch im Kern nicht ein religiöses, sondern ein philosophisches ist –, wäre dann doch grenzwertig. In einer Welt, die den Unterschied von gut und böse nicht mehr erörtert, wird dann irgendwann auch der terroristische Anschlag auf Charlie Hebdo den Kategorien von gut und böse entzogen. Darauf sollte es doch nicht hinauslaufen.

So wird es dann doch bei der Religionskritik des 19. Jahrhunderts bleiben. Und da kann man nur sagen: Religionskritischer müssten die Religionskritiker sein. Ich glaube nicht, dass sie über Karl Barth hinauskommen: „Die Religionen sind schuld, alle, sie haben über Jahrhunderte so viel Leid und Morden und Krieg in die Welt gebracht. Diese Erklärung geben viele Religionskritiker ab zu abscheulichen Attentaten wie dem in Paris. Schafft die Religionen ab! Karl Barth würde sich dieser Meinung anschließen. Religion ist Unglaube.“ Das predigte vor fünf Jahren Wolfgang Froben in Braunschweig bei der reformierten Gemeinde. Und da bin ich mal gespannt, ob die Karikaturisten der Welt das überbieten können. Ich vermute, es wird dahinter zurückbleiben.