Rückblick Biennale 2011: Israel oder die Poetik des Politischen

Ein Rückblick auf den israelischen Pavillion auf der Biennale di Venezia 2011.

Zur Biennale di Venezia 2011 schrieb ich auch über den Pavillon Israels und ich zitiere das hier noch einmal, weil es inzwischen eine noch größere Aktualität bekommen hat:

Wie eine wirkliche radikale und überzeugende Poesie des Politischen aussieht, zeigt dieses Mal der Pavillon Israels. In all den Jahren zuvor fand ich diesen Pavillon immer zu reduziert, zu wenig aussagekräftig, zu uninspiriert. Das ist dieses Jahr ganz anders. Der Künstlerin Sigalit Landau ist es gelungen, einen ebenso poetischen wie politischen Pavillon zu gestalten, ebenso erzählerisch wie formal reduziert. So stelle ich mir Kunst der Gegenwart vor. Auch sie operiert mit einer Baustellensituation, mit cineastischen Elementen, die ich bei Anderen kritisiert habe. Aber sie tut es künstlerisch überzeugend. Es gelingt ihr, die komplexe Raumsituation des israelischen Pavillons im wahrsten Sinne zusammenzubinden. Und sie schafft eine Verbindung verschiedener Einzelwerke, die den Besucher überzeugt und zu künstlerisch vermittelten Erkenntnissen führt. ‚One man’s floor is another man’s feeling‘ steht auf dem Pavillon geschrieben. Wer den Pavillon betritt stößt zunächst in der unteren Ebene auf die Installation ‚King of the shepherds and the concealed part‘, die große Metallrohre durch das gesamte Gebäude führt. Dazu hat sie eine Wand aufgebrochen und die Rohre hindurchgeführt und diese dann weitergeleitet, so dass sie noch oben und nach draußen führen. Die Rohre verbinden alles, ein mechanisches Netzwerk des Wassertransports, zugleich eine Metapher für die schicksalhafte Verbindung der Menschen. Von der unteren Ebene führen zudem Wasserleitern hinauf zur dritten Ebene des Hauses. Noch auf der unteren Ebene stößt der Besucher dann auf die Videoarbeit ‚Azkelon‘, eine Verschmelzung der Namen Gaza und Ashkelon, zwei Städte, die durch eine Grenze getrennt sind, auch wenn sie am selben Strand liegen. „Azkelon“ zeigt junge Männer beim Spiel „Countries“, ein Spiel, bei dem man mit einem Holzmesser im Sand Grenzen markiert, durchbricht und erweitert. Ein anderes Video ‚Mermaids. Erasing tghe border of Azkalon‘ zeigt drei Frauen am Strand, die mit Händen und Fingernägeln Spuren in den Sand graben, die sofort wieder vom Meer verwischt werden. Geht man in das obere Stockwerk, sieht man die Videoarbeit ‚Salted Lake‘, die in Salz getränkte Schuhe auf einem gefrorenen See zeigen. Nur scheinbar geschieht in dieser Sequenz nichts, in Wirklichkeit sinken die Schuhe, da das Salz das Eis zum Schmelzen bringt, immer tiefer ein bis sie versinken. Auf der sich anschließenden zweiten Ebene sieht man die Installation ‚Salt bridge summit‘ mit zwölf Laptops auf einem runden Konferenztisch, die unter dem Tisch in einem Kabelgewirr verbunden sind. Auf den Bildschirmen der Laptops sieht man die Beine und Schuhe der Konferenzteilnehmer. Ein kleines Mädchen krabbelt unter dem Tisch und verbindet alle Schnürsenkel der Schuhe zu einem großen Kreis. Diesen Schuh-Kreis wird der Besucher als Installation „O my friends, there are no friends“ im Hinterhof des Pavillons wieder finden. Aber es sind Bronze-Schuhe auf einem Nicht-Monument, das eine Erinnerung festhält.

Sigalit Landaus Arbeit ist bei aller klaren Zielrichtung ihres Engagements in Sachen Israel und Palästina polyvalent bis ins letzte Detail. Es ist kein Agit-Prop, dem wir hier beiwohnen, sondern eine die Wirklichkeit verändernde Kraft der Poesie. Man kann jede Arbeit einzeln betrachten oder man kann die Arbeiten kontextualisieren – untereinander und im größeren politischen und geografischen Zusammenhang.

Daher bin ich gespannt, wie der Beitrag im Pavillon von Israel 2024 aussehen wird, für den die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit die Künstlerin Ruth Patir eingeladen haben.

Yael Bartana

Beobachtungen zum deutschen Beitrag auf der Biennale di Venezia 2024

Im Herbst 2011 schrieb ich in tà katoptrizómena über den polnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig:

Atemberaubend ist der polnische Pavillon, der von der Utopie eines Wiederauflebens eines Jewish Renaissance Movements handelt. Die Künstlerin YAEL BARTANA sinnt uns die Rückkehr der aus Polen vertriebenen Juden als scheinbares politisches Programm an. Was wäre, wenn nicht Israel, sondern Polen der neue Zufluchtsort jener wäre, deren Großeltern einmal das Land vor dem Naziterror verlassen mussten? Die Ästhetik, mit der sie diese politische Programmatik inszeniert, ist dabei bewusst an die Parteitagspathetik der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts angelehnt, so dass einem wirklich der Atem stockt. Ich stelle mir vor, etwas Ähnliches gäbe es in Deutschland oder im deutschen Pavillon: die Forderung der Rückkehr von 3,3 Millionen Juden zur Etablierung einer politisch-bedeutsamen Bewegung hierzulande. Wäre so eine Ausstellung überhaupt denkbar? Es zeigt auch den Mut Polens, dieses Risiko eingegangen zu sein. Aber es geht nicht nur um die Kontrastierung von politischer Idee und ästhetischer Inszenierung, sondern auch um die Frage, was Multikulturalismus in der Gegenwart bedeuten könnte, wie Identitätsbildung in einer globalisierten Welt funktionieren könnte. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist dabei nur ein Fokus, an dem man das diskutieren kann, die Fragestellung geht aber weit darüber hinaus. Ein provozierender und erkenntnisproduktiver Pavillon. [Mertin, Andreas (2011): Die 54. Biennale in Venedig. Spaziergänge auf der Insel der Kunst. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 13, H. 73. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/73/am367.htm.]

Umso erfreuter war ich, als ich las, dass Çağla Ilk, die Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der Biennale di Venezia 2024, u.a. YAEL BARTANA für die künstlerische Präsentation ausgewählt hat. Yael Bartana ist eine der renommiertesten Künstlerinnen dieser Welt und zugleich eine herausragende Repräsentation der israelischen Gegenwartskunst.

Titel und Thema des gesamten deutschen Beitrags lautet „Thresholds“ (Schwellen). Im Interview mit der taz sagte die Kuratorin:

„Wir erleben gerade in Deutschland, wie extrem Menschen in einem nationalstaatlichen, territorialen Denken verhaftet sein können, das unseren Diskurs über Geschichte und damit auch über Zukunft beherrscht. Wir werden das nicht ändern, aber wir können zumindest andere Vorschläge machen. Veränderung fängt da an, wo ich mir der Vorläufigkeit meiner Position bewusst werde. Der Ort dafür ist die Türschwelle zwischen zwei Räumen … Im Deutschen Pavillon kommen mit Yael Bartana und Ersan Mondtag zwei Künst­le­r:in­nen zusammen, für die die Auseinandersetzung mit den zeichenhaften Fragmenten der Vergangenheit und die politische Auseinandersetzung mit den Bildwelten der Gegenwart auf extrem unterschiedliche Art wesentlich ist.“

Das lässt auf einen interessanten Beitrag hoffen, zumal die Kuratorin den ästhetisch vorbelasteten deutschen Pavillon um eine Klangintervention auf der Insel La Certosa erweitert hat. Mit Jan St. Werner, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Michael Akstaller werden sich vier Künstler:innen auf unterschiedliche Art mit der akustischen Entgrenzung von Räumen beschäftigen.

Nach 80 Jahren ist es wieder soweit – Berlin droht mit Repression

Wenn der Staat anfängt, seinen Bürger:innen mit Repressionen zu drohen.

Als ich die Meldung am Morgen des Neujahrtages las, mochte ich es gar nicht fassen. Der regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), verkündete am 31.12.2023 in aller Öffentlichkeit und zudem noch direkt in einer Polizeistation:

„Heute ist die Nacht, wenn’s denn notwendig ist,
die Nacht der Repression,
wo der Rechtsstaat sich versuchen wird, durchzusetzen“

Das sind Töne, die man sonst nur von totalitären Staaten kennt. Der Staat droht seinen Bürger:innen, um die Ordnung durchzusetzen, mit gewaltsamer Unterdrückung oder auch mit Willkür. Denn genau das ist es, was das Wort „Repression“ bezeichnet.

Unterdrückung ist die einem Individuum, einer Gesellschaft oder Menschengruppe leidvoll zugefügte Erfahrung gezielter Willkür, Gewalt und des Machtmissbrauchs. Als Synonym wird oft hierfür auch der Begriff Repression verwendet. Der Ausdruck Unterdrückung bezeichnet vor allem das Niederhalten einer bestimmten sozialen Gruppe und von Individuen durch missbräuchlichen Einsatz gesellschaftlicher Organe, ihrer Autorität oder anderer sozialer Maßnahmen. Mehr oder weniger offiziell in einer Gesellschaft institutionalisiert, vermag dies zur „systematischen Unterdrückung“ anzuwachsen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Begriff der Menschenrechte wurden als Kritik der Unterdrückung formuliert, in der jede Macht klar beschränkt und ein Machtmissbrauch gegen Einzelpersonen oder eine Menschengruppe sanktioniert wird. [wikipedia]

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinerlei Legitimation, gegen die Bevölkerung oder gegen die Bewohner:innen „Repression“ auszuüben. Die Amtsträger in Deutschland sind dem geltenden Recht verpflichtet und können nicht irgendwelche außerrechtlichen Aktionen und schon gar nicht Repressionen ankündigen. Man kann einen Rechtsstaat nicht mit Repression durchsetzen – wenn er Repression anwendet, ist er kein Rechtsstaat mehr.

 Das liegt in der Bedeutung des Wortes. Man kann vielleicht unterstellen, dass sich Wegner im Moment der Artikulation der Reichweite seines Ausspruchs nicht klar war. Aber schon allein die Tatsache, dass das Wort „Repression“ zum Arsenal seiner politischen Artikulationswelt gehört, sollte zu denken geben. Erst ist es nur ein Versehen, irgendwann wird es Wirklichkeit.

Ein gutes Neues Jahr 2024!

Tà katoptrizómena, das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik wünscht allen ein schönes, friedlicheres und gesünderes Neues Jahr 2024!

Neujahrskarte Wiener Werkstätte 1910, Designer Wilhelm Jonas, Auftraggeber Brüder Köhn

Tà katoptrizómena, das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik wünscht allen ein schönes, friedlicheres und gesünderes Neues Jahr 2024! Wir versichern Ihnen, unser Bestes zu geben, dass es ein gutes Jahr wird: לשנה טובה תכתבו. Die obige Karte wurde vom Verlag Brüder Kohn aus Wien nach einem Stoffentwurf der Wiener Werkstätte 1910 gedruckt:

Die Gemeinschaft [Wiener Werkstätte] strebte im Zusammenhang mit der Wiener Kunstgewerbeschule und der Wiener Secession eine Erneuerung der Kunst auf Basis handwerklicher Gediegenheit an. Wien sollte zum Zentrum geschmacklicher Kultur auf dem Gebiet des Kunstgewerbes werden. Das Unternehmen … hatte eine klare Zielsetzung: die gesamten Lebensbereiche des Menschen gestalterisch zu vereinen, im Sinne eines Gesamtkunstwerkes. Dies begann mit der Schaffung fortschrittlicher Arbeitsbedingungen für Handwerker und endete mit dem Wunsch, alles neu zu gestalten, egal ob Alltags- oder Schmuckgegenstände. Ziel war, nur Gegenstände außerordentlicher Eigenständigkeit und Schönheit herzustellen. So legte man sehr großen Wert auf exquisite handwerkliche Verarbeitung, nach der Devise: „Lieber zehn Tage an einem Gegenstand arbeiten, als zehn Gegenstände an einem Tag zu produzieren.“ Das besondere Verdienst der Wiener Werkstätte lag in der Überwindung der wuchernden Jugendstilornamentik belgischen und französischen Stils. Nun dominierten geometrisch-abstrakte Formen, die das Kunsthandwerk des gesamten 20. Jahrhunderts beeinflussten. [wikipedia]

Die Wiener Werkstätten stellten Schmuck, Möbel, Textilien und Keramik und vieles andere her. Die Liste der beitragenden Künstler:innen liest sich wie ein Who is Who der damaligen Kunst in Österreich.

Ein Schwerpunkt der Wiener Werkstätte, an dem auch große Künstler wie Oskar Kokoschka und Egon Schiele beteiligt waren, war nicht zuletzt die Erstellung von künstlerischen Ansichtskarten:

Es wurden über 1000 verschiedene Künstlerpostkarten veröffentlicht, wovon Oskar Kokoschka dreizehn Ansichtskarten gestaltete. Andere Künstler waren Mela Köhler, Egon Schiele, Fritzi Löw und Ludwig Heinrich Jungnickel. Von insgesamt 48 verschiedenen Künstlern wurden sie entworfen. Diese Karten wurden ab 1908 fortlaufend nummeriert und werden heute von Sammlern hoch gehandelt. Die geschätzten Auflagen betrugen zwischen 200 und 1000 Stück. Die Karten wurden von 1908 bis 1915 gedruckt. Zentralverkaufsstelle der Postkarten war das 1907 errichtete Stadtlokal der Wiener Werkstätte am Graben 15 und gegenüber am Graben 16, aber auch die Filialen in Zürich und in Marienbad verkauften die Karten. Eine der teuersten in Mitteleuropa gehandelten Ansichtskarten (Krampus mit Kind, 1911) stammt aus der Wiener Werkstätte und wurde am 12. Oktober 2003 um 11.000 Euro versteigert. [Wikipedia]

Feuerwerk II

Ein Feuerwerksbild von James Ensor aus dem Jahr 1897.

James Ensor, Le feu d’artifice (Fireworks), 1897, 102×112 cm

Im Jahr 1884, so schreibt die Albright-Knox-Art-Gallery in Buffalo, New York, begann James Ensor mit der Schaffung sehr persönlicher Werke zu satirischen Themen, die oft von der Aufnahme in Ausstellungen ausgeschlossen wurden. In diesem Werk stellt er eine weite, leicht hügelige Landschaft dar, in der viele vage definierte kleine Figuren herumschlendern, als würden sie einen gemütlichen Ausflug genießen. In der Ferne explodiert eine gewaltige Explosion von Feuerwerkskörpern vor einem tiefblauen Himmel.

„Feuerwerk“ steht stellvertretend für Ensors mittlere Schaffensperiode, in der er bedrohliche Themen in scheinbar einfachen Kompositionen entwickelte. Hier erzeugen die Intensität und das Ausmaß der Explosion am Horizont – wiedergegeben in leuchtenden Orange-, Rot- und Gelbtönen – ein Gefühl von Ruhe und Katastrophe zugleich. Diese visuelle Mehrdeutigkeit findet sich häufig im gesamten Werk von Ensor und spiegelt seinen anhaltenden Wunsch wider, das Fantastische und das Reale zu verschmelzen.

Feuerwerk I

Ein Feuerwerksbild von Marsden Hartley aus dem Jahr 1915.

Marsden Hartley, Himmel, 1914-15, 120×120 cm, Öl/Lwd.

Marsden Hartleys „Himmel“, Anfang des ersten Weltkrieges in Berlin entstanden, erscheint, so schreibt das Nelson-Atkins-Museum-of-Art in Kansas City, Missouri, wie ein nächtliches Feuerwerk, das in Farbe auf Leinwand und über den Rahmen übertragen wird. Die überlappenden, abstrakten, farbenfrohen Formen der Komposition sind in den Motiven und der Farbpalette des französischen Kubismus verwurzelt. Die konzentrischen Scheiben, die über das Gemälde schweben, könnten auf Hartleys Kenntnisse des indianischen Designs verweisen. Möglicherweise beziehen sie sich auch auf Kokarden, die die deutschen Militäruniformen schmückten, die Hartley zu Beginn des Ersten Weltkriegs sah, als er in Berlin lebte. Die deutschen Wörter Himmel und Hölle umrahmen zwei Formen, die an Zuckertüten erinnern, bunte Tüten voller Süßigkeiten, die deutschen Schulkindern geschenkt wurden. Das Bild hält so alle Ambivalenzen offen, über Verdammnis oder Erlösung ist nicht entschieden.

Böllerverbot?

Was dem Staat recht ist, sollte den Bürger:innen billig sein. Plädoyer für das private Silvesterfeuerwerk.

Pünktlich zum Verkaufsstart der Silvesterraketen in den Geschäften flammt auch die alljährliche Diskussion um ein notwendiges Verkaufsverbot dieser Artikel auf. Es geht dabei nicht um ein allgemeines Feuerwerksverbot, sondern vor allem um Verbote für die private Feuerwerknutzung. Der Staat und der Handel nutzen diese Form der Präsentation ja gerne, um etwas zu feiern, nur den Bürger:innen soll dieses Vergnügen in eigener Regie madig gemacht werden. Nun gibt es gute und nachvollziehbare Gründe für ein Verbot dieser Materialien: sie schädigen die Umwelt, sie verletzen Jahr für Jahr Menschen und werden neuerdings als Waffen gegen Ordnungskräfte missbraucht. Das ist unbestreitbar und es muss überlegt werden, wie es begrenzt werden kann.

Nun ist die Debatte darüber durch eine merkwürdige Doppelmoral gekennzeichnet. In Umweltfragen wurde lange Jahre über die Feinstaubbelastung diskutiert, denn das Silvesterfeuerwerk sorgt für 1% der jährlichen Feinstabbelastung. Aber warum diskutieren wir das nur anhand des Feuerwerks und nicht auch anhand der bei den Bürger:innen so beliebten Holzöfen, die doch immerhin für 19% der Feinstaubemissionen verantwortlich sind? Man sitzt in abendlicher Runde zusammen und bekommt mit empörter Stimme die ökologische Verwerflichkeit der Silvesterraketen erklärt, während direkt nebenan der Kamin knistert. Auch bei den Verletzungen kann man fragen, wie hoch eigentlich die Quote an den Verletzungen durch die heute schon illegalen Produkte ist, die heimlich aus Polen importiert werden. Die bekäme man durch ein Handelsverbot nicht unter Kontrolle. Und bei den aggressiven Akten gegen Ordnungskräfte werden viele Gegenstände eingesetzt, vor allem Steine und Flaschen, ohne dass wir deren Verbot diskutieren würden. Silvester ist einer unter vielen anderen denkbaren Anlässen für manche, sich gewaltsam zu artikulieren. Das muss man bekämpfen, aber nicht symbolpolitisch.

In der Sache selbst, so meldet die Pyrotechnik-Industrie, vollzieht sich seit längerem ein Wandel weg von den Böllern und Raketen hin zu komplexeren Verbundfeuerwerken. Der größere Teil der  Bevölkerung ist also vernünftiger als man denkt. Auch steigt der Anteil jener Artikel, die weitgehend auf Plastik verzichten und auch die Lautstärke herabsetzen. Das kann man fördern, indem man hier ordnungspolitische Akzente setzt. Das Feuerwerk selbst ist ein kulturgeschichtliches Ritual, auf das ich ungerne verzichten würde. Als privates Feuerwerk ist es zwar erst gut 120 Jahre alt, als gesellschaftliches immerhin über 1000 Jahre. Das heutige Feuerwerk zu Silvester lässt sich durchaus als Aneignung bestimmter Elemente der feudalen Festkultur durch breite Schichten der Bevölkerung beschreiben. Insofern ist Silvester fast schon revolutionär.