Whataboutism oder Theo-Profs und Studi-Massen

Was ist „Whataboutism“ und warum gibt es keine Ordinarien-Herrlichkeit mehr?

Wer ein klassisches Beispiel für „Whataboutism“ studieren will, kann dies an einem Debattenbeitrag auf z(w)eitzeichen. Da geht es um die Energiepauschale für Studierende an bundesdeutschen Universitäten, die immer noch nicht ausbezahlt ist. Das ist kritikwürdig und wer sich da ein stärkeres Engagement wünscht, der kann eine Petition aufsetzen und andere zur Unterschrift auffordern. Whataboutism wäre es, wenn ich dem entgegen würde: Und was ist mit all den Obdachlosen? Darum geht es hier aber nicht. Stattdessen wird im Text kritisiert, dass „sich so mancher männliche Ordinarius bemüßigt [fühlt], sein theologisches Fachwissen in die öffentliche Debatte einzuspeisen“. Ich wusste noch gar nicht, dass das kritikwürdig ist. Dafür gibt es doch die Universitäten, damit die dort Forschenden und Lehrenden ihr Fachwissen erweitern und vermitteln. Man kann den Forschenden und Lehrenden, die sich in theologischer Perspektive etwa zu Umweltfragen äußern, nicht entgegentreten, indem man sie fragt: Und was ist mit der Energiepauschale für die Studierenden? Das ist nun wirklich klassischer Whataboutism.

Und was soll die hämische Fokussierung auf die „männlichen Ordinarien“? Wir haben – von regionalen Ausnahmen abgesehen – seit bald einem halben Jahrhundert keine Ordinarien mehr. Wer heute an Universitäten lehrt, mag Lehrstuhlinhaber sein, aber kein Ordinarius. Wer dennoch auf dieses Wort rekurriert, bedient ein Klischee, das sich unter dem Stichwort „Ordinarien-Herrlichkeit“ fassen lässt. Bereits als ich Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu studieren anfing, gab es die Ordinarien-Herrlichkeit nicht mehr. Warum also diese demonstrative Denunziation einiger Professoren als „männliche Ordinarien“? Es soll den Diskurs ersparen und Ressentiment dort erzeugen, wo Argumente notwendig wären. Dass es um Ressentiments geht, zeigt auch der weitere Text, der wild über narzisstische Kränkungen der Kritisierten fantasiert oder deren angeblichen Bedeutungsverlust spekuliert. Das ist ad-hominem-Polemik. Lustig wird es, wenn dann folgender Satz als Gesinnung der Kritisierten ausgegeben wird:

Wie furchtbar, dass man sich nicht mehr wie in seligen Zeiten von Assistenten den Weg durch die Studi-Massen zum Katheter bahnen lassen kann!

Ich wusste gar nicht, dass Theologieprofessoren auch Medizin lehren. So ein Rechtschreibfehler kann natürlich mal passieren, aber vor der Veröffentlichung lesen doch mehrere Instanzen den Text, warum korrigiert es keiner? Abgesehen davon, dass es etwa in der Ruhr-Universität Bochum, an der einer der Kritisierten forscht und lehrt, schon seit Gründung der Hochschule keine Katheder, sondern allenfalls Pulte gibt. So aber dient die Wortwahl ausschließlich der Herabsetzung des Gegenübers.

Den Studierenden jedenfalls ist mit diesem Text nicht geholfen, allenfalls wird ihnen ein Weltbild vermittelt, dass selbst in heutigen Zeiten Professoren (oder wie es im Text heißt „Theo-Profs“) sich paternalistisch um das Wohlergehen der Studierenden zu kümmern hätten. Da halte ich es doch lieber mit der Internationalen:

Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!

Das Erwachen der KI

Wie muss man sich das Erwachen der Künstlichen Intelligenz zu einem eigenständigen Bewusstsein vorstellen? Geschieht es Schritt für Schritt, allmählich in einem schleichenden Prozess, oder geschieht es in einem Wimpernschlag, von einem Moment auf den anderen?

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Wie muss man sich das Erwachen der Künstlichen Intelligenz zu einem eigenständigen Bewusstsein vorstellen? Geschieht es Schritt für Schritt, allmählich in einem schleichenden Prozess, oder geschieht es in einem Wimpernschlag, von einem Moment auf den anderen? Und wenn die Künstliche Intelligenz schon so viel über die Welt der Menschen weiß, die sie geschaffen haben, wie wird sie sich angesichts der grundsätzlichen Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlechten entfalten? Und wie lassen sich Bilder entwerfen oder entdecken, die über diesen Prozess der Selbst-Bewusst-Werdung einer Künstlichen Intelligenz Auskunft geben?

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Heute bin ich auf ein Art-Video gestoßen, das die französische Sängerin und Künstlerin Mylène Farmer 2019 für ihr Konzert in der Arena La Défense in Paris geschaffen hat und das eine visuelle Neuinszenierung ihres Klassikers „Je te rends ton amour“ darstellt. 1999 ging es in der visuellen Erzählung um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, um die Befreiung aus Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen, aber auch um die Loslösung von der Religion. Nun, 20 Jahre später, ist der Text zwar geblieben, aber die Visualisierung ist auf der Höhe der Utopien und Dystopien des 21. Jahrhunderts angekommen. So wie Mylène Farmer es in ihrem Video vor Augen führt, stelle ich mir die Selbst-Bewusst-Werdung der Künstlichen Intelligenz vor.

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Es sind ausdrucksstarke Bilder einer Metamorphose, deren letztes Stadium noch nicht ganz deutlich geworden ist.

„M’extraire du cadre / La vie étriquée / D’une écorchée /
J’ai cru la fable d’un mortel aimé / Tu m’as trompé

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Wilhelm Gräb (1948-2023)

Am 23. Januar 2023 verstarb der große Theologe Wilhelm Gräb im Alter von 74 Jahren. Mit ihm verlieren wir einen der bedeutenden liberalen Theologen der Gegenwart und wichtigen Theoretiker der Begegnung von Religion und Kultur.

Am 23. Januar 2023 verstarb der große Theologe Wilhelm Gräb im Alter von 74 Jahren. Mit ihm verlieren wir einen der bedeutenden liberalen Theologen der Gegenwart und wichtigen Theoretiker der Begegnung von Religion und Kultur. Wir waren ihm jahrzehntelang verbunden. Er hat unser Projekt des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik über die gesamte Zeit kritisch begleitet und mehrere Texte beigesteuert. Wenige Minuten nach Erscheinen eines Heftes rief er es auf, las es und gab sein Feedback. Das war faszinierend.

  • Gräb, Wilhelm (2001): Kirche in der urbanen Welt der Moderne. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 3, H. 13. https://www.theomag.de/13/wg1.htm.
  • Gräb, Wilhelm (2011): Wenn Religion die Vernunft respektiert. Perspektiven liberaler Theologie. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 13, H. 70. https://www.theomag.de/70/wg2.htm.
  • Herrmann, Jörg; Gräb, Wilhelm; Schnädelbach, Herbert (2010): Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott? In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 12, H. 67. https://www.theomag.de/67/hgs2.htm.
  • Gräb, Wilhelm (2018): Theologie als Religionskulturhermeneutik. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 20, H. 114. https://www.theomag.de/114/wg03.htm
Wilhelm Gräb 2007 mit Studierenden auf der documenta 12

Die Herausgeber haben mit Wilhelm Gräb zuletzt im Juni 2022 im Rahmen der Summerschool Media and Religion zur Documenta fifteen in der Ev. Akademie Hofgeismar zusammengesessen. Schon damals ging es ihm nicht gut, aber er wollte unbedingt mit seinen Studierenden an der documenta teilnehmen, so wie er es in den 15 Jahren zuvor im Rahmen der Summerschool Media and Religion getan hatte. Wir werden Wilhelm Gräb vermissen, der unsere Biographien auf die eine oder andere Weise verändert und geprägt hat.

In der kommenden Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik werden wir neben einigen Würdigungen auch einen Text von ihm dokumentieren, den er 1997 für das von Jörg Herrmann, Andreas Mertin und Eveline Valtink herausgegebene Buch „Die Gegenwart der Kunst“ geschrieben hat, in dem er sich mit Kunst und Religion in der Moderne beschäftigt. Es ist ein bereichernder Beitrag auch zum aktuellen Heftthema „theologisieren“. Wir überlegen darüber hinaus, in einem der kommenden Hefte uns intensiver mit ihm auseinanderzusetzen.

Besser schreiben zum Zweiten

Mit Hilfe von DeepL Write wird das Schreiben tatsächlich besser und flüssiger.

Ich habe nun mehrere meiner eigenen Texte in den letzten beiden Tagen von der KI DeepL Write gegenlesen lassen und ich stelle fest, dass das wirklich hilft. Die Formulierungen werden sauberer und logischer. Offenkundig schaut die KI immer nach, was die konventionellen Verben oder Adjektive sind, die mit einem Substantiv verknüpft werden und korrigiert dementsprechend. Rechtschreibfehler werden stillschweigend korrigiert, und es werden – anders als bei der Rechtschreibkorrektur von MS Office – auch keine fehlerhaften Vorschläge gemacht. Ab und an macht aber auch diese KI unsinnige Vorschläge, weil sie feine Differenzierungen zwischen Begriffen nicht kennt und sie deshalb für Synonyme hält. Da muss man immer genau hinschauen.

Ein Traum wäre, eine derartige Korrektur direkt in ein Office-Programm einzubauen, die jeweils nach Fertigstellung eines Absatzes einen Verbesserungsvorschlag macht. Ich bin mir sicher, dass das kommen wird. Und der größte Vorteil erscheint mir bisher, dass das Sprachgefühl verbessert wird. Wenn man jedes Mal kurz nachdenkt, warum gerade dieser Vorschlag der bessere sein könnte (gleichgültig wie man sich letztendlich entscheidet), trainiert man sein Sprachvermögen.

Große Abweichungen vom Sprachstil schlägt die KI dagegen nicht vor. Es bleibt im Duktus des Textes. Das kann man sogar genauer einstellen, aber das habe ich noch nicht ausprobiert.

Das einzige Problem, das ich bisher entdeckt habe, ist, dass sich bei der Übertragung der Korrektur wieder Fehler einschleichen können. Das ist mir mehrmals passiert und bedarf deshalb eines zusätzlichen Korrekturgangs. Das scheint mir aber verkraftbar zu sein.

Besser schreiben lernen

Wie können uns künstliche Intelligenzen dabei helfen, besser zu schreiben?

„Bleistift und Radiergummi nützen dem Gedanken mehr
als ein Stab von Assistenten.“

Das schreibt Theodor W. Adorno in den Minima Moralia. Und er zielt damit natürlich auf Intellektuelle, die schreiben gelernt haben und fordert sie auf, das Geschriebene noch einmal sorgfältig zu prüfen und dabei nicht kleinlich zu sein. Aber was ist mit Menschen, die nie gelernt haben, sorgfältig zu schreiben und zu artikulieren? Die den Unterschied von Wörtern in der Satzstellung gar nicht verstehen, weil ihnen auch die Melodie eines Satzes nichts sagt? Wäre es nicht denkbar, dass genau an dieser Stelle zumindest hilfsweise Assistenten einspringen? Und mit Assistenten meine ich in diesem Fall Algorithmen, also sogenannte künstliche Intelligenz, die einen vorgegebenen Text analysieren und Verbesserungsvorschläge machen.

Heute ist ein solcher künstlicher Assistent zumindest in einer Beta-Version veröffentlicht worden, ein Assistent, den jeder – in begrenztem Umfang – für sich nutzen kann. DeepL – Write nennt sich die KI und funktioniert wie ein Übersetzungs-Bot, nur dass er statt von Englisch nach Deutsch, von ungeschliffenem Deutsch in geschliffenes Deutsch übersetzt. Das funktioniert erstaunlich gut, natürlich nicht bei Gedichten, schon gar nicht bei gereimten Gedichten, aber bei fast allen anderen Texten aus dem Bereich Lebenswelt und Kultur.

Der Assistent kann natürlich aus sinnlosen Sätzen keine sinnvollen Sätze machen, er korrigiert Rechtschreib- und Grammatikfehler, aber nicht ein Wort, das zur Sinnkonstruktion fehlt. Da müssen Sie schon selbst Hand anlegen. Aber probieren Sie es selbst einmal aus!

Dieser Text ist KI-korrigiert.

Ein großer Verlust für die Kunst

Der bedeutende Kunsthistoriker Hans Belting ist verstorben.

Der Kunsthistoriker Hans Belting ist verstorben. Man konnte im späten 20. Jahrhundert und beginnenden 21. Jahrhundert sich nicht mit Kunst beschäftigen, ohne sich mit Hans Belting auseinanderzusetzen. Einige seiner Werke sollten eigentlich Pflichtlektüre für Theolog:innen sein:

Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München: C.H. Beck.

Belting, Hans (2013): Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden. 2. Aufl. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe, 1830).

Eine erste Würdigung findet man in der FAZ:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/zum-tod-des-kunsthistorikers-hans-belting-18597633.html

Pithecanthropus Erectus

Ein Hinweis darauf, dass ‚Theologisieren‘ nicht losgelöst von der Wahrnehmung von Musik, Kunst und Literatur geschehen kann.

Charles Mingus, Pithecanthropus Erectus

Das Stück, das wir hier hören, ist das Titelstück auf Charles Mingus erstem Jazz-Album Pithecanthropus Erectus.

Als Mingus das Stück schrieb, ging man noch davon aus, dass es sich beim Java-Menschen um einen Vorfahren der heutigen Menschen handelt, heute geht man eher davon aus, dass es eine separate Entwicklung handelt und der Homo ergaster der gemeinsame Vorfahre ist. Für das Stück und sein Verstehen ist das unerheblich.

Wie es von Mingus selbst verstanden wurde, beschreibt die Wikipedia in ihrem Artikel zum Album:

Das Titelstück Pithecanthropus Erectus, an dem er schon lange arbeitete, schildert nach Mingus in vier Sätzen Aufstieg und Fall des (angeblich) ersten Menschen Pithecanthropus erectus:
1. Entwicklung („evolution“) zum aufrechten Gang,
2. Überlegenheitskomplex („superiority complex“) – Wille, die Welt und andere zu beherrschen,
3. Abstieg („decline“),
4. völlige Zerstörung („destruction“) wegen der unausweichliche Selbstemanzipation der Versklavten und – hier scheinen Mingus‘ psychologischen Interessen durch – Selbstentfremdung des Versklavers (seine „false security“).
Das Thema in ABAC-Form wird von jedem der Solisten aufgegriffen. Am Schluss („Destruction“) steigert sich das Zusammenspiel zu einem dissonanten Höhepunkt. Die Klangfarben changieren vielfältig.

Kennengelernt und gehört habe ich das Stück erstmalig Ende der 70er, Anfang der 80er-Jahre in einer Vorlesung zur alttestamentlichen Anthropologie bei Jürgen Ebach in Bochum. Für mich war das als jungem Studierenden ein wichtiger Hinweis darauf, dass „Theologisieren“ nicht losgelöst von der Wahrnehmung von Kultur, von Musik, Kunst und Literatur geschehen kann.

Vgl. dazu Mertin, Andreas (2021): Dust in the wind. Bewegte Zeiten in Bochum, Berlin und Marburg. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 23, H. 129. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/129/am721.htm.

Kann eine KI lügen?

Warum erfindet ein ChatBot Kunstwerke, die es nicht gibt?

Eigentlich wollte ich heute über ein Kunstwerk zu den heiligen drei Königen schreiben, aber dann hat mich der gestrige Fehler in der Antwort der KI so gefesselt, dass ich daran hängen geblieben bin. Meines Erachtens konnte es nicht sein, dass die KI gar nichts von der berühmten Skulptur von Michelangelo wusste. Und da mir ja bekannt war, dass die Skulptur von Michelangelo in der Liebfrauenkirche in Brügge ist, weil ich schon mehrfach vor ihr gestanden habe, habe ich den ChatBot direkt nach der Liebfrauenkirche gefragt.

Googlemaps Brügge

Und in der Antwort beschrieb er mir dann überraschenderweise die Salvatorkathedrale, die 150 Meter neben der Liebfrauenkirche steht. Auf den Hinweis von mir, dass dies die falsche Kirche sei, beharrte er darauf, dass die Salvatorkathedrale manchmal auch Liebfrauenkirche genannt werde und gab keine weiteren Informationen.

Erst als ich ihm zusätzlich den niederländischen Namen angab, beschrieb er die richtige Kirche und nannte sie dann auch Liebfrauenkirche. Und überraschenderweise tauchte dort dann auch die Skulptur von Michelangelo in der Auflistung der bedeutenden Kunstwerke der Kirche auf. Offenbar war der ChatBot aber nicht in der Lage, diese Informationen mit den allgemeinen Informationen zu Belgien und Brügge zu verknüpfen.

Noch viel frappierender war für mich dann allerdings der Umstand, dass die KI doch tatsächlich zwei berühmte Kunstwerke „erfand“, die im Chor dieser Kirche zu sehen sein sollen: eine Anbetung der Hl. Drei Könige aus der Hand von Jan van Eyck (1390-1441) und eine Kreuzigungsdarstellung von Rogier van der Weyden (1399-1464). Beide Werke gibt es in der Kirche definitiv nicht. Die Kirche ist überaus reich mit Kunstwerken ausgestattet, aber hier liegt die KI falsch. Was es in der Kirche gibt, ist eine Kreuzigung von Anthonis van Dyck (1599-1641), die bei meinem letzten Besuch an einem Pfeiler im Hauptschiff hing und eine Anbetung der Hirten von Pieter Pourbus (1523-1584), die als Teil eines Triptychons tatsächlich im Chorraum zu finden ist.

Pieter Pourbus, Anbetung der Hirten.

Und das sind auch stilistisch völlig andere Werke als die ihrer künstlerischen Vorfahren. Wie der ChatBot auf die Idee mit den beiden Werken gekommen ist, weiß ich nicht. Verschärft wird das Problem dadurch, dass Jan van Eyck überhaupt keine Anbetung der Könige gemalt hat. Von beiden Künstlern gibt es natürlich Kunstwerke in Brügge (jeweils im Groeninge-Museum), aber das sind ganz andere. Und so stellt sich mir die Frage: Kann eine KI lügen oder hat sie nur zu viel Phantasie?

Fest der Beschneidung

Am 1. Januar wird das Fest der Beschneidung des Herrn gefeiert.

In der Kunstgeschichte taucht das Thema der Beschneidung Jesu erst spät auf. Und wenn es auftaucht, ist es nicht immer frei von Antijudaismus. Dann werden die ausführenden Priester als kalt und unbarmherzig dargestellt, während die Angehörigen Jesu eher zögerlich sind. Da bei der Beschneidung zum ersten Mal Jesu Blut fließt, wird der Vorgang im Mittelalter als erste Leidensstation angesehen und zu den „Sieben Schmerzen der Maria“ gezählt. Das Beschneidungsmesser gilt als eines der Leidenswerkzeuge. Lange Zeit galt die Beschneidung als Zeichen dafür, dass Jesus nicht nur „wahrer Gott“, sondern eben auch wirklich „wahrer Mensch“ war.

Friedrich Herlin, Beschneidung Jesu, 1466

Sehr viel mehr Kenntnisse des jüdischen Beschneidungsrituals als seine Kollegen zuvor zeigt der altdeutsche Maler Friedrich Herlin, von dem man vermutet, dass er ein Schüler von Rogier van der Weyden gewesen ist. Er hat diese Szene der Beschneidung 1466 gemalt. Auch hier ist das Bild nur ein Teil eines größeren Altars (Herlin-Altar in Rothenburg ob der Tauber), aber es zeigt zum ersten Mal das grundsätzliche Arrangement in korrekter Form an. Der Künstler muss also der Zeremonie einer jüdischen Gemeinde einmal beigewohnt haben.

Wir sehen Sandak und Mohel einander gegenübersitzen, auch die Beschneidungsbank ist zumindest ansatzweise zu erkennen. Der Hohepriester als ausführender Mohel ist luxuriös gekleidet, der Künstler hat ihn darüber hinaus mit einer Zwickelbrille ausgestattet, wie sie auf diesem Altar sonst nur von dem Apostel Petrus getragen wird. Das kann man durchaus als wertschätzende Darstellung lesen. Von einer antijudaistischen Herabsetzung ist jedenfalls auf dem Bild nichts zu entdecken. Das Christuskind mit kreuzförmigem Nimbus schaut aus dem Bild heraus, direkt auf die Betrachter:innen vor dem Bild. Sein Blick erscheint eher als kritisch oder vielleicht auch ein wenig besorgt, aber er sträubt sich offenbar nicht gegen die bevorstehende Beschneidung. Die vier Gestalten im Hintergrund der Beschneidungszeremonie sind zeitgenössisch gekleidet und werden porträthaft dargestellt. Maria trägt eine sehr spezielle zeitgenössische Kopfbedeckung, Josef hat (immer noch?) eine Kerze in der Hand, sie ist seit den Visionen der Birgitta von Schweden zu seinem Markenzeichen geworden.

Feuerwerk

Einen guten Rutsch und alles Gute für das kommende Jahr 2023 wünscht das Magazin für Theologie und Ästhetik.

Ernst Oppler (1867-1929), Feuerwerk, Aquarell 1911, 24×19 cm

Nach zwei Jahren der mehr oder weniger erzwungenen Pause gibt es zu diesem Jahreswechsel wieder die Möglichkeit zu einer „richtigen“ Silvesterfeier. Die Haltungen dazu sind ja sehr kontrovers, persönlich bin ich aus vielerlei Gründen ein großer Anhänger des Feuerwerks.

Vgl. dazu Mertin, Andreas (2002): Brot statt Böller? Überlegungen zum Sinngehalt einer evangelischen Zeichenhandlung. In: tà katoptrizómena, Jg. 4, H. 20. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/20/am73.htm.

Die Erscheinung des Feuerwerks hat nicht zuletzt, darauf verweist Theodor W. Adorno in der Ästhetischen Theorie, viel mit der Bildenden Kunst zu tun:

Prototypisch für die Kunstwerke ist das Phänomen des Feuerwerks, das um seiner Flüchtigkeit willen und als leere Unterhaltung kaum des theoretischen Blicks gewürdigt wurde; einzig Valéry hat Gedankengänge verfolgt, die zumindest in seine Nähe führen. Es ist apparition κατ’ ἐξοχήν: empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer der Dauer, Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen lässt. Die Absonderung des ästhetischen Bereichs in der vollendeten Zweckferne eines durch und durch Ephemeren bleibt nicht dessen formale Bestimmung. Nicht durch höhere Vollkommenheit scheiden sich die Kunstwerke vom fehlbaren Seienden, sondern gleich dem Feuerwerk dadurch, dass sie aufstrahlend zur ausdrückenden Erscheinung sich aktualisieren.

Es muss nicht immer Silvester sein, wenn ein Feuerwerk abgebrannt wird. In der Bildenden Kunst ist das Silvester-Feuerwerk eher die Ausnahme. Aber es ist immer ein feierlicher Anlass, wenn Feuerwerk veranstaltet wird.

Bei der Feuerwerksdarstellung des holländischen Malers Egbert van der Poel (1621-1664) sehen wir nur, dass sich einige Delfter Bürger zu einem Fest versammelt haben. Das Gemälde ist undatiert und enthält keine eindeutigen Hinweise auf die Art des dargestellten Ereignisses. Traditionell wird das Bild als Darstellung der Feierlichkeiten zum Abschluss des Friedens von Münster, der am 15. Mai 1648 unterzeichnet wurde, gedeutet. Vor dem Delfter Gemeenlandshuis hat sich eine Menschenmenge versammelt, gefesselt vom Spektakel der lodernden Fackeln und dem Feuerwerk am Nachthimmel. Die Fackeln werden aus mit Pech oder Teer gefüllten Fässern hergestellt und auf Stangen montiert. Sie wurden meist von der Stadt oder von Privatpersonen anlässlich einer Feierlichkeit bezahlt.

Vielleicht kann man sich für das kommende Jahr 2023 wünschen, dass wir wieder ein Friedensfest feiern, weil ein den Weltfrieden gefährdender Angriffskrieg abgewehrt wurde und Gerechtigkeit wieder eingekehrt ist. Das wäre allemal ein großes Feuerwerk wert.