Deutungsarbeit

Was können wir aus Bilddetails erkennen?

Menschengruppe beim Bestaunen eines Ereignisses
Dtail eines spätmittelalterlichen Bildes

Ich „lese“ gerade ein Detail eines Bildes aus dem Jahr 1437. Was kann man aus einem derartigen Detail erkennen, welche Rückschlüsse kann man auf Einstellungen, Haltungen, Vor-Urteile, Ethnien, gesellschaftliche Stände usw. ziehen? Natürlich lebt vieles von den Vorerwartungen der Betrachter:innen, von ihren Vor-Urteilen und Urteilen gegenüber Bildern des Mittelalters und der Haltung der Menschen, die darin gespiegelt werden.

Zumindest kann man am Anfang vielleicht so viel sagen: es sind sehr unterschiedliche Leute, die hier in ganz verschiedenen Formen einen Blick auf ein Ereignis werfen, das uns im Augenblick noch verborgen ist. Zudem kann man anhand der dominanten Farben die Gruppe in zwei Hälften teilen.

Die linke, hell gekleidete Gruppe scheint vorwiegend aus Frauen zu bestehen, die, blickt man auf ihre Kleidung, wohl nicht den untersten Schichten der Bevölkerung angehören. Ihr Teint ist bei drei Figuren ostentativ weiß, bei einer Figur ist die Haut dunkel gegerbt. Betont wird durch die gefalteten Hände die Frömmigkeit der Betrachterinnen.

Die rechte, dunkler gekleidete Gruppe kann selbst noch einmal in zwei unterschiedliche Parteien aufgeteilt werden. Die beiden vorderen Figuren scheinen ebenfalls nicht einfache Arbeiter zu sein, sondern weisen sich durch ihre Kleidung als bessergestellt aus. Auffällig ist die rechte Figur, die etwas aus der Gruppe herausfällt, weil sie die anderen mit ausgestreckter Hand auf ein Geschehen hinweist, das wir noch nicht sehen.

Die hintere Reihe der rechten Gruppe ist – so kann man wohl doch sagen – derb gezeichnet. Es sind einfache Menschen mit unterschiedlichen Teints, deren Blicke sich nur bedingt auf das angezeigte Geschehen richten.

Offenkundig haben wir es hier mit Mitgliedern einer Klassengesellschaft zu tun, die einem uns unbekannten Geschehen beiwohnen. Sie sind vom eigentlichen Ereignis durch eine Holzwand abgetrennt, die vielleicht sogar die gesamte Gruppe in Frauen und Männer aufteilt. Sie sind in Erwartung – aber viel mehr lässt sich noch nicht sagen – außer vielleicht, dass es auch ethnisch eine buntgemischte Gruppe ist, wenn man den dunklen Teint einiger Figuren nicht auf die Sonneneinstrahlung zurückführt.

Alles Weitere lässt sich erst sagen, wenn wir wissen, was rechts von diesem Bilddetail passiert.

Erster Advent

Ein Kunstwerk von Robert Campin aus dem 15. Jahrhundert zum ersten Advent

Verkündigung an Maria

Das Bild von Robert Campin stammt aus dem Jahr 1420, es ist die Mitteltafel eines Triptychons und 61×63,7 cm groß. Die dargestellte Szene der Verkündigung spielt in einem bürgerlichen Wohnhaus und ist beziehungsreich ausgestaltet. Maria kniet demütig vor einer Bank auf dem Fliesenboden. Der Rand ihres Mantels ist mit einem Zitat aus dem Marienlied Salve Regina dekoriert. Die durchblätterten Bücher zeigen sie als Besitzerin göttlicher Weisheit. Die Bank ist mit Löwen verziert, so wie einst der Thron Salomos, der als Inbegriff der Weisheit galt. Die Glasmalereien der Fenster zeigen Propheten. Über dem Kamin hängt ein Christopherus-Bild.

Déjà-vu

Gibt es eine globale Tendenz, vor Eröffung einer Ausstellung nicht nur die Inhalte auf politische Korrektheit zu überprüfen, sondern auch die Haltung der Künstler:innen und Kurator:innen zu untersuchen?

In der FAZ schreibt Konstantin Akinscha über die Absage der 9. Moskauer Kunstbiennale unter dem Titel „Szenografie der Gefühle“. Nun ist eine derartige staatliche Zensur-Maßnahme in Zeiten eines russischen Angriffs-Krieges vielleicht gar nicht so überraschend, interessanter sind da schon die Begründungen, die Akinscha erwähnt:

„Die Absage der Moskauer Biennale war kein Einzelfall. Die Behörden verboten Dutzende von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Außerdem führten sie ein neues Zensursystem ein. Früher beruhte die Ausstellungserlaubnis auf der Beurteilung der für diese ausgewählten Werke. Heute müssen die Organisatoren die schwarzen Listen mit unerwünschten Künstlern konsultieren, deren Werke unabhängig von ihrem Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden dürfen.“

Und irgendwie hatte ich da ein Déjà-vu. Das hatte ich in diesem Jahr doch schon einmal gehört und gelesen? Kann es also wirklich sein, dass ein totalitäres System wie Russland einem demokratischen System wie der Bundesrepublik Deutschland strukturell doch ähnlicher ist, als man vermuten möchte – zumindest im Umgang mit Kunst-Ausstellungen? Denn das war es doch, was in den vergangenen zehn Monaten in Deutschland gefordert wurde: dass die Veranstalter und die sie fördernden staatlichen Institutionen nicht nur die für die Ausstellung ausgewählten Werke vorab kontrollieren sollten, sondern – und das ist hier viel gewichtiger – dass die Organisationen nach vorab aufgestellten Listen unerwünschter Künstler:innen und Kurator:innen entscheiden sollten, wer an Kulturveranstaltungen teilnehmen darf und wer nicht. Die Liste in Deutschland trug die Überschrift: Welche Haltung hat X zur Organisation BDS? Es scheint, als liege nur wenig zwischen dem russischen Zugriff auf die Kunst und der deutschen Infragestellung der Kunstfreiheit. Auch bei uns wird gegen alle grundgesetzlichen Bestimmungen gefordert, der Kunst Fesseln anzulegen. Nur das mit dem Verbieten klappt noch nicht so recht.

„Beati pacifici“

Kann sich Landesbischof Kramer bei seiner Übersetzung der Bergpredigt zu Recht auf den Pazifismus berufen? Die Vulgata sagt ja!

Colt Peacemaker

Auf Zeitzeichen.net kommentiert Redakteur Philipp Gessler unter der Überschrift „Isolierter radikaler Pazifist“ die Predigt und die späteren Synodenauftritte des Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, der für eine stärkere Beachtung pazifistischer Haltungen in den gegenwärtigen Krisen eintritt. Aber Gessler macht das nicht in einer Form, die Darstellung und Kommentar sauber trennt, sondern er nimmt bereits in der Beschreibung Wertungen vor. Er schreibt:

„Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ So übersetzt der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Friedrich Kramer, eine zentrale Seligpreisung Jesu in der Bergpredigt. … Das kann man eine freie Interpretation nennen – oder Chuzpe. Denn Kramer stützt mit dieser theologisch ziemlich freihändigen Übersetzung seine Position in der Friedensfrage.

Das suggeriert, es wäre sozusagen eine private Übersetzung des Landesbischofs. Dagegen, so betont Gessler später in seinem Kommentar, stünde in der griechischen Bibel etwas anderes, wie ja auch in der Lutherbibel erkenntlich sei: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Nun steht von Friedensstiftern auch nichts im griechischen Text, dort heißt es Μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί, was man dann wohl eher mit Friedensmacher oder für Freunde des heutigen Amerika auch schön westernmäßig mit Peacemaker übertragen könnte. Und Frieden machen kann man mit vielen Mitteln – mit dem Colt, aber auch mit dem Pazifismus. Denn Kramer kann für seine Übersetzung, die keinesfalls eine freie, dreiste oder unangemessene Übersetzung ist – auf eine ältere christliche Tradition verweisen, älter zumindest als die Lutherbibel, nämlich die Übersetzung der Vulgata: „beati pacifici quoniam filii Dei vocabuntur“ heißt es dort. Und da haben wir die Pazifisten wieder mit im Boot. Von einer freihändigen oder gar dreisten Übersetzung (Chuzpe = jiddisch für „Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit, Unverschämtheit“) kann also keine Rede sein, es sei denn, man wollte den katholischen Glaubensgeschwistern auch noch schnell eins auswischen. In der christlichen Übersetzungsgeschichte sind die Pacifici gut belegt. Noch im Wörterbuch der Gebrüder Grimm schwingt das nach. Dort wird als sprachlicher Bezug für friedfertig auf das lateinische pacificus verwiesen.

Den weiteren Tenor des Kommentars von Gessler würde ich als eine nur leicht getarnte Form der versuchten Gesinnungskontrolle bezeichnen, etwa wenn Kramer vorgeworfen wird, bei seiner Meinung zu bleiben. Dass Kramer damit in der Evangelischen Kirche allein stehe, wie der Text insinuiert, ist lächerlich. Er mag unter den Synodalen damit nicht auf Gegenliebe stoßen, die oft genug in der Synode auch Parteipositionen vertreten. Aber in der gesamten evange­li­schen Bevölkerung dürfte es wohl anders aussehen. Damit bekommt Kramer noch nicht Recht, aber er vertritt immerhin einen Teil des Protestantismus und vor allem auch jene friedens­orien­tierten Kirchen, die Kriegsbeteiligung grundsätzlich ausschließen. Und der Ökumenere­dak­teur Gessler sollte doch auch diese Kirchen aus dem protestantischen Ordo auf dem Schirm haben.

Schon wieder eine Bilderattacke

Schon wieder wurden zwei Kunstwerke bzw. ihre Rahmen attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya.

Goya, nackte und bekleidete Maya
Goya und die beiden Mayas

Schon wieder wurden zwei Kunstwerke attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya im Prado in Madrid. Allmählich werden die Attacken zu einem Who is Who der Kunstgeschichte. Mit den Inhalten der Bilder hat es nichts zu tun, bloß mit ihrer Prominenz. Von Goya gibt es ja zum Anliegen der Letzten Generation durchaus passende Werke, etwa aus der schwarzen Serie „Saturn verschlingt seine Kinder“. Aber darum geht es wohl nicht. Es ist ein dummer Angriff auf die Kulturgeschichte der Menschen, ein Angriff, der die Kunstwerke nicht als Argumente im gesellschaftlichen Diskurs begreift, sondern als wohlfeile Ziele zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit.

Goya, Saturn verschlingt seine Kinder

Was bringt die Digitalisierung?

Puzzlesteine zum Stand der Digitalisierung in Kirche und Bildung

Symbolbild zur Digitalisierung

Es sind immer wieder kleine Puzzlesteine, die einen ins Nachdenken bringen. Nachdem Anne Gidion zur Bevollmächtigten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union geworden war, beschrieb ein Kollege sie als „Lobbyistin der EKD“ bei der Bundesregierung und bei der EU. Das ist sie wohl nicht, denn sie leistet dort Seelsorge und bespricht mit den Regierungen und Verwaltungen die gemeinsam interessierenden Fragen. Allenfalls könnte man sie als ELD-Diplomatin bezeichnen, aber selbst das finde ich unangemessen. Das zweite, was der Kollege bemerkte war, dass Anne Gidion zu wenig auf Twitter aktiv sei. Ist das das Kriterium für heutige Theolog:innen, dass sie auf dem Netzwerk aktiv sind, in dem massenwirksam gehetzt, gemobbt und gefaked wird? Ich hatte gedacht, 2022 wäre das Jahr, in dem die Menschen aus Twitter aussteigen, weil es mit dem Gewissen unvereinbar ist, dort vertreten zu sein. Twitter sei, so las man es gerade in der FAZ, ein „Laden, der zu nichts anderem da ist als zur suchterzeugenden Fabrikation, Vervielfältigung und Weiterverarbeitung finster-klebriger Erregungsschmiere.“ Nicht erst seit Elon Musks Übernahme der Firma und der öffentlichkeitswirksam vollzogenen Bewillkommnung des Antisemiten Kanye West sehe ich nicht, wie man Twitter-Engagement zum Kriterium für Theolog:innen machen kann.

Dann kam jene Studie, die feststellt, dass die christlichen Influencerinnen entgegen den vollmundigen Ankündigungen gerade keine Menschen außerhalb der kirchlichen Blase erreichen können, sondern im Wesentlichen die mit der Kirche Hochverbundenen. Und nun? Keine Rettung der Kirche durch Digitalisierung, sondern nur eine bessere Binnenbindung im Ghetto? Das hätte man erwarten können, nur würde man gerne wissen, was daraus nun folgt.

Und schließlich veröffentlichte der NRW-Philologenverband eine Studie, die sich mit der Digitalisierung in der Bildung beschäftigt und zu dem ernüchternden Ergebnis kommt, es handele sich im Wesentlichen um ein Top-Down-Unternehmen von fachfremden Interessenverbänden und wenig pädagogischer Substanz. Da klingelte es mir ein wenig in den Ohren. Hatte ich Analoges nicht vor Jahren zur Digitalisierung in der Kirche geschrieben? Eine Top-Down-Unternehmung von Digital-Enthusiasten mit wenig theologischer Substanz? Ich meine ja (hier und hier). Aber das stieß auf heftigen Protest. Inzwischen ist es stiller geworden an der Digitalisierungsfront, von den erhofften Erfolgen hört man nichts, es herrscht das von mir erwartete weiße Rauschen.

Ikonoklasmus kann emanzipatorisch sein

Ralf Meisters Vorschlag einer sofortigen und endgültigen Zerstörung der sog. Wittenberger Judensau sollte unterstützt werden.

Bürger beim Bildersturm. Bild von 1630 über den Bildersturm 1566.
Bildersturm in einer Kirche. Dirck van Delen, 1630

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hat sich für die Entfernung und Zerstörung der „Judensau“ an der Fassade der evangelischen Stadtkirche Wittenberg ausgesprochen. „Man sollte sie nicht nur entfernen, sondern radikal vernichten, zerstören und kaputt machen“, sagte Meister am Sonntagabend in der Marktkirche in Hannover. Dies sei der richtige Umgang mit einer fehlgeleiteten, vernichtenden Ästhetik

Ralf Meister hat recht. Anders als ich es noch 2016 meinte, als ich das Thema zum ersten Mal im Magazin für Theologie und Ästhetik erörterte, reicht es nicht, die schreckliche Plastik an der Wittenberger Stadtkirche nur zu ent­fernen und sie in ein Museum zu stellen. Sie muss zerstört werden. Das macht aber nur Sinn, wenn dieser ikonoklastische Akt, dieser Bildersturm, der er ja nun einmal ist, als solcher bewusst geschieht und auch im Bewusstsein gehalten wird. So wie der reformatorische und vor allem der reformierte Bildersturm sich im Bewusstsein erhalten hat (leider etwas anders, als es die Initiatoren beabsichtigt hatten). Wir müssen uns in ebenso symbolischen wie archaischen Gesten (und das ist ein solcher Bildersturm) von einer Ausdrucksform lösen, die böse bis in das letzte Element ist. Es geht dabei überhaupt nicht darum, den christlichen Antijudaismus und den protestantischen Antisemitismus aus dem Gedächtnis zu löschen, sondern ganz im Gegenteil, durch einen ikonoklastischen Akt im Gedächtnis zu verankern. Der byzantinische Bilderstreit, der reformatorische Bilderstreit sind Belege dafür, dass das gelingen kann. Die Konsensgesellschaft sucht nach moderaten Lösungen, die niemandem wehtun, aber letztlich die Beleidigten permanent weiter verletzen. Wenn wir die Skulptur in Wittenberg als wirkmächtig ansehen, dann müssen wir dem auch begegnen. Natürlich verhindert man keinen Antisemitismus, indem man eine antisemitische Skulptur zerstört. Aber man schafft einen ikonischen Akt, der zeigt, dass der Judenhass ein zu bekämpfendes Element unserer Gesellschaft ist. Und das erreicht man nicht, indem man freundlich oder meinetwegen auch betroffen mit einer Texttafel erklärt, wie es den bedauerlicherweise zu 6 Millionen toten Juden gekommen ist, wozu dieses Objekt seit 800 Jahren seinen Beitrag geleistet hat.

Für die Beibehaltung des Objekts spräche, wenn man der Meinung wäre, dass der Antijudaismus weiter tief in der lutherischen Kirche verwurzelt wäre, wenn also die Entfernung der Skulptur einen identitätspolitischen Schaden bei der Gemeinde anrichten würde. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es genau darum geht: deutlich zu machen, dass die Abkehr vom Judentum zur eigenen Identität gehört. Und das nicht nur historisch.

Das andere ist, dass das Prozedere ja merkwürdig ist. Der Beleidigende entscheidet darüber, ob die Beleidigung an seinem Gebäude hängend bleibt, während nicht auf die die beleidigten Juden in Deutschland (und das sind nicht irgendwelche Wissenschaftler in Israel) gehört wird.

Fundstück aus der aktuellen Arbeit VI

Eine Persiflage aus Frankreich auf die diversen Zensurversuche gegenüber der Literatur.

Charles-Joseph Traviès, 1814 – 1859: Persiflage op de censuur (Detail)
Charles-Joseph Traviès, 1814 – 1859: Persiflage op de censuur (Detail)

Dieses Bild fand ich im Grafikbestand des Amsterdamer Rijksmuseums. Es stammt von dem in der Schweiz geborenen, dann aber in Frankreich lebenden Künstler Charles-Joseph Traviès (1804-1859). Er illustriert ein Zitat des französischen Schriftstellers Jean de La Bruyère (1645-1696), der festhält, dass es kein Werk der Kunst gibt, das noch Bestand hätte, wenn es sich der Kritik der Zensoren unterwerfen würde, denn diese entfernten alles aus dem Werk, was ihnen nicht passt, was anstößig sei.

Das Bild zeigt nun ganz viele Leute, die mit sehr unterschiedlichen Ansätzen versuchen, ein Buch nicht nur zu durchstöbern, sondern es auch zu zensieren: indem sie es schwärzen oder beschneiden, unleserlich machen oder auch zerstören, indem sie es verbrennen.

Heutzutage ist die Kritik an der Kunst natürlich sowohl subtiler wie auch grobmaschiger. Es geht nicht mehr um das direkte staatliche Verbieten, nicht mehr um Zensur oder Vorzensur als solche, sonder um scheinbar berechtigte konkurrierende Interessen. Heute würden die Zensoren einen problematischen Punkt im Werk suchen, einen Satz, eine These, ein Sprachbild und dann würde die Kritik zuschlagen, so dass vom ursprünglichen Werk kaum etwas übrigbliebe. Und wie auf dem Bild von Traviès dargestellt, machen dies nicht individuelle Kritiker:innen, sondern Netzwerke, die sich koordiniert der Zerstörung oder Verhinderung von Kunst widmen. Das macht dieses Bild von Traviès heute wieder so aktuell.

Die feinen Unterschiede

Es scheint nun doch etwas anderes zu sein, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk zeigt oder eine deutsche Kirchengemeinde.

Es ist nun doch etwas anderes, ob ein indonesisches Kunstkollektiv ein antisemitisches Kunstwerk früherer Zeiten zeigt oder eine deutsche Kirchengemeinde. Die einen werden gezwungen, ihr Kunstwerk abzuhängen, weil kein Kommentar das Schmähwerk in seinem beleidigenden Charakter mindern kann, die anderen verweisen darauf, dass Kunstwerk und Kommentar eben zu ihrer Geschichte, also zu ihrer Identität im identitätspolitischen Sinn gehören. Und da haben sie vermutlich Recht. Bis heute gehört fatalerweise auch visueller Antisemitismus zur deutschen Identität. Wenn das angesichts öffentlicher Debatten etwas heikel wird, stellen wir einen Kommentar daneben, mit dem wir uns vom Antisemitismus im Bild distanzieren, lassen es dann aber wohlgemut als Kunstwerk hängen. Als ob ein Kommentar die Wirkmacht von Bildern brechen könne. Da sollte man aus der Kirchengeschichte etwas mehr gelernt haben. Die Wittenberger behaupten, sie hätten aus der Geschichte gelernt und gerade deshalb wollten sie die antisemitische Schmähplastik nicht entfernen, sondern direkt vor Ort kontextualisieren. Offen gesagt: ich glaube ihnen nicht. Ich halte ihre Kontextualisierung für ein Lippenbekenntnis, das folgenlos bleibt.

Ich hatte schon in der letzten Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik auf das Abendmahlsbild in der gleichen Wittenberger Stadtkirche verwiesen, auf dem Judas in herabsetzender Weise dargestellt ist.

Die Wittenberger Kirche erweist sich – durchaus in der Tradition Martin Luthers – als Sammelstelle antijüdische Visualisierungen. Und sie hat ein gutes Gewissen dabei, weil sie sich ja vom Antisemitismus distanziert. Sie sagen: Wir haben nichts gegen Juden, aber Antijudaismus gehört nun einmal zu unserer Geschichte und das wollen wir zeigen.

Die documenta fifteen stellt uns ganz konkret die Frage: können wir noch Abendmahl feiern unter einem Bild, das Juden herabsetzt? Geht das nach der Kriteriologie, die wir in Kassel zur Anwendung gebracht haben? Ich könnte es nicht. Jeder Gottesdienst in der Wittenberger Stadtkirche vor dem Altarwerk von Lukas Cranach ist Gotteslästerung, weil es nicht möglich ist, im liturgischen Vollzug zwischen dem kulturgeschichtlichen Werk, vor dem man feiert, und dem liturgischen Bild, das zum Ritus gehört (es ist schließlich ein Altarbild) zu unterscheiden.

Natürlich kann man, wie das einige jüdische Kommentatoren vorgeschlagen haben, die Wittenberger Stadtkirche musealisieren und den Wittenberger Antijudaismus zum Demonstrationsobjekt am historischen Ort machen. Nur fragt sich, wie eine christliche Gemeinde damit umgeht, dass sie nun nicht mehr Gottesdienst feiert, sondern Kulturgeschichte vergegenwärtigt. Darin sehe ich ein religiöses Problem.

Taylor Swift erbricht sich …

Anlässlich von Taylor Swifts Erbrechen im Clip zu „Anti-Hero“ frage ich: gibt es für so etwas kunstgeschichtliche Vorbilder?

… und alle schauen hin. Wer hätte das gedacht – das Erbrechen als Show-Akt. Gerade ist Taylor Swifts Musikvideo zu ihrem neuen Stück „Ant-Hero“ erschienen und die Fans sind amüsiert-schckiert.

Taylor Swift – Anti-Hero

Als kunsthistorisch interessierter Mensch möchte ich nun weniger über die sicher beeindruckende intertextuelle Verwobenheit ihres Textes zu ihrem bisherigen Oeuvre wissen (das interessiert vor allem die Fans), als vielmehr die Bezüge zur kunstgeschichtlichen Tradition. Gibt es eine Kunstgeschichte des Erbrechens habe ich mich gefragt.

Und tatsächlich werde ich im Amsterdamer Rijksmuseum fündig. Die ersten Grafiken zum Thema „Erbrechen“ beginnen dort um das Jahr 1524. Als ich sie gesehen habe, war ich froh, dass Taylor Swift sich in ihrem Clip auf das Erbrechen beschränkt hat. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit waren da weniger zimperlich (hier eine Zusammenstellung in meinem Rijks-Studio). Zumindest habe ich dabei ein Bild gefunden, das der Szene bei Swift ähnlich ist. Es ist von Jan van Velde II. (1593-1641) und stammt aus dem Jahr 1633.

Der erbrechende Bettler

Bei Talor Swift sieht der gleiche Vorgang etwas dezenter und weniger direkt aus, aber unangenehm fürs Ego, wenn man sich selbst ankotzt:

Taylor Swift kotzt Taylor Swift auf den Schoß