Die Grenzen der oralen Kultur

Die Flucht aus der Schriftkultur in die angeblich authentischere orale Kultur ist zum Scheitern verurteilt.

Das Lob der präsentischen oralen Kultur gegenüber der angeblich vergangenheitsbesessenen Schriftkultur lebt davon, dass man heute gar nicht mehr in die Situation geraten kann, in einer primär oralen Kultur leben zu müssen – von extrem seltenen Ausnahmen abgesehen. Selbst die ostentative Kritik an der Schriftkultur kann man schließlich nur in der Schriftkultur entfalten – wodurch quasi ein performativer Selbstwiderspruch entsteht.

Man möchte auch keinem heutigen Menschen ein Leben in einer bloß oralen Kultur wünschen. Zum einen sind auch orale Kulturen, anders als manche es sich erträumen, durchaus machtbestimmte Kulturen. Wer welche Sprecher-Rolle übernimmt und übernehmen darf, ist geregelt und in Machtstrukturen zum Erhalt der Gruppe (oder Horde) eingebettet. Klaus Wolschner schreibt auf seinen Seiten zur „Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft“ über die orale Kultur:

Wer reden darf und kann, hat Macht und macht die Umstehenden zu Zuhörern. In oralen Gesellschaften ist machtpolitisch geregelt, wer die gemeinsamen Wahrheiten zur Sprache bringen kann und damit Gemeinschaft stiftet und festigt. Wissen in oralen Kulturen wird verkörpert, erhält seine Autorität durch die Person, die es ausspricht. Wahrheit ist gebunden an den Redner. Das irritierte Platon an der Schriftkultur: Wie kann es Weisheit ohne den Weisen geben, der dafür bürgt und Nachfragen im Dialog erläutern kann?

Verstehen können wir als Eingeborene einer Schriftkultur das Funktionieren einer oralen Kultur gar nicht (mehr), sie ist uns geradezu wesensfremd geworden. Der exemplarisch gemeinte Verweis auf eine präsentische(re) orale Theaterkultur gegenüber einer sich in den alten Texten erschöpfenden bzw. an ihnen abarbeitenden Theaterkultur führt da durchaus in die Irre. Denn ohne Schrift gäbe es kein Theater. Wenn überhaupt etwas von der Schrift abhängig ist, dann das Theater. Wir haben keine Hinweise auf eine Kultur des Theaters in den Zeiten, die noch keine Schrift kannten. Die ältesten Belege für eine Theaterkultur führen uns nach Ägypten in die Zeit vor etwa 4000 Jahren, also in eine Zeit, die schon 5000 Jahre von der Schriftkultur geprägt worden war.

Man kann sich natürlich mit Hilfe von ethnologischen Beschreibungen (etwa der Pirahã-Kultur) die Zeit vor der Schriftkultur schönreden – leben wollte da kaum jemand, der heute lebt und zum Beispiel auf zeitzeichen.net schreibt, nicht einmal für 14 Tage im Exotik-Urlaub.

Wobei schon das Wort „Zeitzeichen“ für eine orale Kultur schlicht unverständlich wäre (freilich wissen auch nur noch die wenigsten Angehörigen der heutigen Schriftkultur, was Zeitzeichen sind, können es aber immerhin nachschlagen: „beim nächsten Ton des Zeitzeichens ist es …“).

Das Denken und die Vorstellungen von Gemeinschaft werden von der oralen Kultur beeinflusst:

Was gesagt und was gedacht wird, drückt weniger Subjektives als Exemplarisches aus. Ein „Ich“ in einer oralen Kultur sieht sich in dem Bezug zu der Gruppe, als Teil eines kollektiven Wir. Jedes Reden ist auf das Kollektiv bezogen, abweichendes, originelles Reden stellt das Gemeinsame in Frage. Da gibt es kein „Ich“ mit einer komplexen individualpsychologischen Selbst-Wahrnehmung. Das situative Denken kann kein „Ich“ aus der umgebenden Welt und ihrer kommunikativen Dynamik herauslösen. Es gibt keine abstrakte, über alle Ereignisse konstante Persönlichkeits-Struktur, der einzelne Mensch ist nur Teil der Situation. [Klaus Wolschner]

All das ist für Eingeborene der heutigen Gesellschaften kaum erträglich. Man kann, wie das viele im Gefolge von Claude Lévi-Strauss getan haben, von Traumzeiten träumen, von der Flucht in schriftlose und scheinbar freiere Gesellschaften. Aber das ist bloß ein eskapistischer Traum, den sich nur Privilegierte leisten können, nicht aber jene, die kaum über die Runden kommen. Selbst die moderate Kritik an der Schriftkultur in Richtung einer verstärkten Berücksichtigung oraler Strukturen stößt schnell an ihre Grenzen. Natürlich kann man sagen:

Ich schlage einen anderen Weg vor, und zwar dass wir uns die ambivalenten Dynamiken von Schriftlichkeit bewusst machen und ihren negativen Aspekten entgegenarbeiten. Dass wir also neue Narrative setzen und uns aktiv darum bemühen, in eigenen Worten über Erfahrungen und Werte zu sprechen, ohne immer und immer wieder auf den abendländischen Kanon zurückzukommen.

Ich glaube jedoch nicht, dass dies ein sinnvoller Vorschlag ist. Er verkennt die Voraussetzungen unserer Kultur. Man meint, „jeder habe das Recht, seine eigene Lebensweise zu gestalten und sich dabei auf sein eigenes Gefühl für das wirklich Wichtige oder Wertvolle zu stützen“. Dann bleibt aber nur noch die Orientierung am unmittelbar und subjektiv Wahrgenommenen, ohne dass man sich über den „unentrinnbaren Horizont“ der Wahl klar würde. Das funktioniert so nicht. Der Philosoph Charles Taylor schreibt in „Das Unbehagen an der Moderne“: wollte ich …

„die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und über­haupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist. Die Authentizität ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forderungen voraus“

Letztlich geht es darum, „‘wer’ wir sind und ‘woher wir kommen’ … Sobald wir begreifen, was es heißt, sich selbst zu definieren und zu bestimmen, worin die eigene Originalität besteht, erkennen wir, dass wir ein Gefühl für das, was Bedeutung hat, im Hintergrund voraussetzen müssen.“ Und dazu gehört notwendig die Schriftkultur.

Medien(un)kunde

Es gibt Texte, die bringen einen zur Verzweiflung, weil man nicht erkennen kann, ob sie zur Gattung der Ironie, der Satire oder zur Realsatire gehören.

Es gibt Texte, die bringen einen zur Verzweiflung, weil man nicht erkennen kann, ob sie zur Gattung der Ironie, der Satire oder zur Realsatire gehören.

Ich lese gerade einen Meinungsbeitrag, der damit einsetzt, dass die Menschen immer neueste Medien beargwöhnen, allerdings dies selten gegenüber dem ersten Medium anwenden würden „das die Menschheit je erfunden hat: die Schrift.“ Und schon zucke ich zusammen und frage mich, ob das ernst gemeint ist.

Wenn man einmal zum engeren Begriff der „Menschheit“ nur den Homo Sapiens zählt, nicht den Homo Neanderthalensis oder gar den Homo Erectus, dann befinden wir uns in einem Zeitraum von mehr als 300.000 Jahren vor heute. Die Schrift wurde dagegen erst vor knapp 9.000 Jahren erfunden. Demnach wäre die Menschheit 291.000 Jahren medienfrei gewesen. Jeder/Jede weiß sofort, dass das Bullshit ist. Die Steinzeit mit den ältesten Werkzeugen menschlicher Wesen vor dem Homo Sapiens beginnt vor 2,6 Millionen Jahren und bekommt ihren Namen von ihrem Mediengebrauch. Die Bilder in den Höhlen von Chauvet (die nun eindeutig dem Homo Sapiens zugeordnet werden) sind mit Sicherheit über 39.000 Jahre alt und sind damit 30.000 Jahre älter als die Schrift. Zumindest die Bilder an den Höhlenwänden kann man als vom Menschen erfundenes Medium bezeichnen. So gesehen ist die Schrift eines der jüngsten Medien der Menschheit.

Ob unsere sehr frühen Vorfahren das Feuer auch zur Kommunikation genutzt haben, können wir nicht mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich ist das aber schon und dürfte ein noch älterer Gebrauch von Medien zur Kommunikation sein. Die menschliche Sprache, die orale Kultur geht der Schrift voraus, sie ist spätestens vor 22.000 Jahren vollständig ausgebildet. Es macht m.a.W. keinen Sinn, von der Schrift als dem ersten Medium des Menschen zu reden. Es sei denn, man definiert den Menschen über seinen Schriftgebrauch. Die Geschichte des Menschen setzt dann mit der Schrift ein, alles andere ist die menschliche Vorgeschichte. Das war ein Ansatz, den Leopold von Ranke vertreten hat: Er lässt die Geschichte der Menschheit dort beginnen, „wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige, schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.“ Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit teilen sich demnach an der Schrift.  Erst wenn die Menschen beginnen, mittels der Schrift ihre Existenz zu reflektieren, kommen sie zu sich selbst und sind keine Tiere mehr. Derartiges wird heute nicht mehr vertreten.

Dagegen war für den Philosophen Wilhelm Weischedel das Entwerfen von Bildern ein Grundgeschehen im Dasein des Menschen und ohne Bilder gibt es für den Menschen keine Welt. Geschichte setzt nach Weischedel also wesentlich früher ein und zwar mit den frühesten menschlichen Bildern, die wir heute etwa auf die Zeit von 40.000 vor Christus ansetzen. Es gibt aber gute Gründe, den Mediengebrauch des Homo Sapiens noch deutlich früher anzusetzen.

Der von mir gelesene Text meint nun, die Schrift halte uns „mit einem Fuß im Gestern“ fest. Das kann man mit guten Gründen bezweifeln.

Nun glaube ich schon nicht, dass wir in einer Schriftkultur leben, mir scheint die Vermutung viel wahrscheinlicher, dass die Menschen schon immer visuell präfiguriert und orientiert waren. Die Schriftorientierung galt immer nur für bestimmte (herrschende) Schichten der Gesellschaft. Ob die Schriftkultur nun patriarchalisch überformt ist, darüber kann man trefflich streiten. Die visuelle, also wesentlich ältere Kultur der Menschen ist es nicht (bzw. nur in den Hochzeiten des Christentums). Sie begleitet aber die Schriftkultur seit deren später Entstehung. Wir können an den Bildern der Höhle von Chauvet sehen, dass sie überwiegend von Frauen gefertigt wurden, wir können an den Artefakten der frühen Homo Sapiens sehen, dass sie sich an der Welt der Frauen orientieren. Die Bilderkultur ist eine offene Kultur, vor allem eine deutungsoffene Kultur. Was gerade vielleicht noch eingebunden war in den religiösen Kult, kann schon kurz darauf für die reine ästhetische Erfahrung oder als kulturgeschichtliches Dokument freigesetzt werden. Friedrich Schiller hat das in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung der Menschheit hervorgehoben. Kultur – auch Theater- und Schriftkultur – ist grundsätzlich polyvalent. Auch und gerade dort, wo sie der Kanonbildung unterliegt, bleibt Kultur von offenen Kunstwerken bestimmt, deren Deutung und Lesart eben nicht fixiert werden kann. Deshalb ist die Orestie im Wiener Burgtheater ein Gegenwartsstück. Sie erzählt uns nicht ein historisches Ereignis, sondern öffnet einen geistesgegenwärtigen Blick auf das Jetzt.

Die Geschichte der Bibel ist ein besonders gutes Beispiel für eine derartige fortdauernde Präsenz, noch jede Generation findet in diesem Buch ihre Geschichte und ihre Geschichten. Was ich aber überhaupt nicht zu teilen vermag, ist der Gestus, der die Bibel abschreibt und empfiehlt, alles doch mal in eigene Worte zu fassen. „Auch den Schriftreligionen täte es im Übrigen gut, wenn sie ihre Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen öfter mal in eigene Worte fassen, statt dauernd aus der Bibel oder einer anderen Heiligen Schrift zu zitieren.“ Was für eine erbärmliche Kultur wäre das. „Sie werden lachen: nur meine eigenen Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen“ – antwortete Bertolt Brecht auf die Frage nach seiner Lieblingslektüre. Ach, nein, er wählte lieber die Bibel als unentrinnbarem Horizont.

Umberto Eco schrieb 1984 in der Nachschrift zu seinem berühmten Roman „Der Name der Rose”, dass heutzutage freilich niemand mehr überlieferte Formen unbefangen verwenden könne, ohne sich der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen. Aber ebenso habe sich auch die permanente Kritik der überlieferten Formen erschöpft. Wer heute aktuell Bezug auf historische Formen nehme, müsse diese vielmehr als Zitate und Fundstücke der Tradition kenntlich machen. Mit anderen Worten „die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, dass die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muss: mit Ironie, ohne Unschuld”. Das scheint mir eine fortdauernde Einsicht zu sein.

Günther Anders – Eine Re-Lektüre

Günther Anders über die durch Apparate gesteuerte Wahrnehmung.

Das Sehen ist überholt und abgeschafft. Und ersetzt durch das Photographieren. Wo einer doch etwas anblickt – lass dich nicht irreführen: das tut er ausschließlich als Angestellter seines Herrn, der ihm um den Hals hängt, nämlich seines photographischen Apparats. Ich beobachtete eine holländische Reisegesellschaft. In dieser war einer, dessen Leica streikte und der offensichtlich hysterisch und atemlos wurde vor Versäumnispanik, weil er die Sehenswürdigkeiten, die ihm reif und knipsbar in die Augen hineinhingen, nicht pflücken konnte, während seine Reisekollegen rechts und links das konnten. Sich die Piazza oder den David oder Donatellos Judith anzusehen, auf diesen Gedanken kam er gar nicht, Augen hatte er ausschließlich für die anderen, für die Glücklicheren, die sich knipsend ihre Befriedigung verschaffen durften, und die er, bebend vor Missgunst und vor Neid, der fast wirkte wie Sexualneid, bei ihrer Tätigkeit beobachtete. – Einer dieser Glücklicheren ließ sich sogar knipsend knipsen, gewiss, um zuhause das Aufregendste, was es in Italien zu erleben gegeben hatte: nämlich eben sein Knipsen, vorweisen zu können. Wer etwas sieht, ohne es aufnehmen zu dürfen, der «hat» nichts vom Gesehenen, der «hat» es nicht. Nur knipsend «haben» sie … Bleibt nur die bescheidene Frage, was man vom Leben noch hat, wenn man weder mehr zu sehen noch zu erinnern braucht.

Was Günther Anders hier in seinem Italien-Reisebuch von 1956 (!) beschreibt, ist von der Wirklichkeit längst dramatisch überholt worden. Zwar halten die Besucher:innen weiterhin die Kamera (nun als Digitalkameras) zwischen sich und die Wirklichkeit (obwohl es doch hochauflösende und besser ausgeleuchtete Bilder online gibt), sie können die Wirklichkeit auch gar nicht mehr sehen (nur noch fotografieren), weil die Kulturindustrie mit ihren den Blick steuernden Kommentaren sich dazwischen drängt. Das Bild ist nur noch wahr, wenn eine zertifizierte Stimme im Ohr es dazu erklärt hat. In einem gewissen Sinn kehrt die Menschheit so zurück in das Mittelalter, zumindest in vorreformatorische Zeiten. Es bedarf bestallter Kleriker:innen der Kunstgeschichte, die einem vermitteln, was auf den Bildern gültig ist und was nicht. Das sapere aude ist einem Folgen auf das erläuternde Wort gewichen. Heil aus dem Heilsschatz der Kunstgeschichte gibt es nur noch, wenn man dem normierenden Wort folgt.

Das unterscheidet die heutigen Menschen von der Bildertheologie Luthers: Luthers Beitrag zur neuen Verfügbarkeit des Bildes betrifft nicht dessen Hersteller, sondern den Empfänger. Luther legt den Grund für die Betrachterästhetik, die Kunst als einen (nominalistischen) Vereinbarungsbegriff auffasst. Der Betrachter soll vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben. Er hat das letzte Wort. Luthers Bildempfänger ist kein fraglos Anstaunender, in ihm steckt ein potentieller Interpret, der kritisch nach dem Woher und Wozu, nach dem Umraum des Kunstgegenstandes fragt. [Werner Hofmann]. Diese Erkenntnis ist aktuell wieder im Schwinden begriffen. Wir wollen uns als Subjekte nicht mehr erproben, sondern nur noch der Stimme namenloser Kommentator:innen folgen.

Kulturindustrie II. Eine weitere Reiseerfahrung

Ein weiterer Beitrag zur kulturindustriellen Präfigurierung unseres Blicks.

Mitte September 2023 bin ich im Rahmen einer privaten Reise in Padua. Auch dort geht die Kolonisierung der Lebenswelten weiter und auch hier versucht die Kulturindustrie bzw. in diesem Fall die religiöse Verwaltung die authentische ästhetische und religiöse Erfahrung von Artefakten in den Griff zu bekommen und die Wahrnehmung der Besucher:innen kontrolliert zu steuern. Bisher war nämlich das Baptisterium des Domes in Padua nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes frei zugänglich. Man zahlte seinen Obolus und konnte sich nun dem Hauptwerk von Giusto de’ Menabuoi widmen. Er ist ein Maler aus der zweiten Generation nach Giotto. 1370 zieht Menabuoi nach Padua und steigt dort zum Hofmaler der örtlichen Herrscherfamilie der Carraresi auf. In diesem Zusammenhang erhält er den Auftrag, das Baptisterium des Domes als künftige Grabkapelle der Carraresi auszumalen. Und am Ende steht ein in sich stimmiges komplexes Werk, das die Betrachter:innen jedes Mal fasziniert und zu eigenen Entdeckungen einlädt.

Nun aber läuft alles anders. Man muss sich im Dom-Museum anmelden, bekommt dann einen Time-Slot zugewiesen, indem eine audiovisuelle Führung durchgeführt wird, die einen ideologisch (d.h. religiös-katholisch) und ästhetisch präfiguriert. Zunächst wird man in einen Saal geführt, der eine Multimedia-Show enthält, die einem Grundlagen des Christentums bzw. des Katholizismus anhand der Bilder beibringt. Darauf hätte ich gerne verzichtet. Mag sein, dass die Bildung weltweit so weit herabgesunken ist, dass ein großer Teil der Menschheit Kunstwerke wie dieses nicht mehr aus sich heraus verstehen kann, aber diese katholische Dröhnung ist wirklich zu viel. Seit der Moderne sind Kunstwerke nicht mehr Ideologie-Schleudern, sondern eigenständige Artefakte mit einer eigenen Sprache und Botschaft. Das gefällt den alten Herren nicht und so suchen sie die Artefakte wieder in den religiösen Kosmos einzufangen, indem sie die Besucher:innen religiös belehren und einnorden.

Und wenn man dann endlich in die Kapelle tritt, so sind die Bilder nicht frei zugänglich, sondern unterliegen einer gesteuerten Wahrnehmung. Man kann seinen Blick nicht frei schweifen lassen, weil nur das, worüber der Audioguide gerade redet, auch erleuchtet wird, der Rest liegt im Dunkeln. Und die Menschen sind schon so zugerichtet, dass sie das auch noch als freundliche Hilfestellung empfinden. Das ist es aber nicht, sie werden eben nicht zu eigener Wahrnehmung emanzipiert, sondern, ganz im Gegenteil, gesteuert – ganz zu ihrem Besten natürlich. Ja, Kunstwahrnehmung ist manchmal etwas anstrengend, herausfordernd und voraussetzungsreich. Aber die neuen kulturindustriellen Vermittlungsstrategien verhindern, dass überhaupt jemand authentische oder sagen wir besser: individuelle Erfahrungen machen kann. Immer treten Apparate zwischen das Werk und das Subjekt, letztlich könnte man genauso gut zu Hause eine Dokumentation auf Arte schauen. Traurige Zeiten.

Kulturindustrie I. Eine Reiseerfahrung

Es wird immer schlimmer. Zur kulturindustriellen Präfigurierung unserer Bildwahrnehmung.

Anfang September bin ich mit einer Reisegruppe in Brügge und Gent und besuche dabei auch den Genter Altar. Nach vielen Jahren der Restaurierung ist dieser nun wieder „zugänglich“ und wird den Besucher:innen mit Hilfe einer umfassenden Augmented Reality Show vorgestellt. Das ist der neue Trend in der kulturellen Vermittlung, eine Entwicklung, die sich schon seit Jahrzehnten abzeichnete. Der erste Grundsatz lautet: authentische, subjektive, eigene ästhetische Erfahrungen werden dem Publikum gar nicht mehr zugetraut. Bevor es das Kunstwerk betrachten darf, wird es ideologisch geschult, genauer: kulturindustriell zugerichtet. Man bekommt einen Kopfhörer mit Brille aufgesetzt und wird in die Unterkirche geschickt, um in einem dreiviertelstündigen Programm die Hintergründe zu erfahren, von denen die Betreiber:innen vermuten, dass heutige Besucher:innen nicht mehr darüber verfügen. Und mehr oder weniger merkbar werden dabei auch Ideologien untergeschoben, die der Interessenlage der Auftraggeber:innen entsprechen. Etwa dass Hubert van Eyck der ursprüngliche Schöpfer des Genter Altars sei. Das ist Unsinn, zwar gab es einen Hubert van Eyck, er ist mit Jan van Eyck aber nicht verwandt, kein Werk von ihm ist erhalten, er starb völlig verarmt 1426, obwohl er angeblioch doch den Auftrag für den Genter Altar bekommen hatte. In Gent giibt es einen Kult um Hubert, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Unterzeichnungen des Altars nur eine Handschrift, nämlich die von Jan van Eyck zeigen. Zur Motivation kurz die Zusammenfassung der Wikipedia:

Nils Büttner sieht die Motive für die Hinzufügung der Inschrift im Genter Lokalpatriotismus des 16. Jahrhunderts. Denn Jan van Eyck kam aus Brügge, war also kein Genter, während der zufällig namensgleiche Hubert als Genter Maler belegt war. Gent und Brügge standen seit jeher in Konkurrenz. Es war bei humanistischen Gelehrten beliebt, die eigene Heimatstadt mit einem „Städtelob“ zu feiern. Dabei ging es natürlich nicht an, dass das berühmteste Kunstwerk der Stadt von einem Auswärtigen geschaffen worden war. Weil Hubert van Eycks Name in Gent überliefert war, wurde er kurzerhand zum Bruder Jan van Eycks gemacht und dem auswärtigen Jan vorangestellt.

Das hindert die Genter bis heute nicht daran, an der Urheberschaft von Hubert van Eyck festzuhalten und als Wahrheit den Besucher:innen zu vermitteln. Und das gelingt ihnen um so effizienter, als dass die Besucher:innen der per Augmented Reality vermittelten Information gar nicht entgehen können. Der zweite „Preis“ den die Besucher:innen zahlen müssen, ist, dass Kunstwerke, die früher den Besuchenden frei zur Betrachtung offen standen, nun in die Führung eingebunden und ganz nebenbei abgehandelt werden. Und auch dabei wird alles der Genter Ideologie unterworfen, denn nicht Hugo von der Goes, sondern Justus van Gent soll das faszinierende Altarbild in der Unterkirche geschaffen haben. Aber die Wissenschaft weist es van der Goes zu:

Von seiner Hand sind heute fünfzehn Altarbilder und Gemälde bekannt. Darunter befindet sich das Kalvarienberg-Triptychon, das lange Zeit Justus von Gent (Joos van Wassenhove) zugeschrieben wurde. Die meisten Experten sind sich mittlerweile einig, dass es sich um das Werk von Van der Goes handeln muss.

Heute aber ist das Werk nur noch im Rahmen der Augmented-Reality-Tour zugänglich, die früher vorhandene Kapelle zur stillen Andacht mit dem Kunstwerk wurde vollständig der Kulturindustrie geopfert, eine authentische Erfahrung des Altars von Hugo van der Goes (auch als religiöses Artefakt) ist nicht mehr möglich. Das ist eine Katastrophe. Die Besucher:innen bekommen dagegen Schmonzetten von geraubten und wieder zurückgekehrten Teilen des Genter Altars zu hören, die mit der Erfahrung des Werkes aber auch rein gar nichts zu tun haben und eigentlich nur Marginalien sein dürften. Aber so wird alles getan, damit die Bedeutung des Altars gar nicht mit eigenen Wahrnehmungen erschlossen werden kann.

Und wenn man sich dann endlich, nach 45 Minuten kulturindustrieller Zurichtung, dem Genter Altar nähern kann, sucht man das vorher Gehörte im Werk auch zu sehen. Für die ästhetische Erfahrung ist das barbarisch. Um eine Formulierung von Reinhard Hoeps aufzugreifen:

Die Bilder werden einer ihnen vorgängigen außerbildlichen Realität untergeordnet, der sie im Schema symbolischer Repräsentation zu gehorchen haben.

Man sieht nur noch, was man vorher gehört hat. Und die Besucher:innen sind auch noch dankbar, weil sie all das ja nicht gesehen hätten, wenn ihnen nicht jemand bereits vorhergesagt hätte, dass das auf dem Bild zu sehen ist. Grundsätzliche Wahrnehmungen, wie etwa die gleiche Größe des ersten Menschenpaares mit Gottvater, die in der Einführung nicht erwähnt werden, aber sehr augenscheinlich sind, geraten so aus dem Blick.

Der gesamte Genter Altar ist aber heutzutage in einem Glaskäfig platziert, ganz so wie die Alien-Königin in Alien 4 – Die Wiedergeburt durch den Wissenschaftler Dr. Jonathan Gediman in einen ausbruchssicheren Glas­käfig eingesperrt wurde

Das geschieht in der Hoffnung, dass das Kunstwerk seiner ideologischen Rahmung nicht entkommen kann. Und anders als in Alien 4 ist diese Hoffnung beim Genter Altar sogar begründet. Er wird nie wieder frei sein und seine genuine ästhetische Qualität entfalten können. Er ist von den Kulturmanager:innen in einen Käfig gesperrt worden und wird nur noch distanziert zugänglich gemacht, wenn man sich vorher mit einer bestimmten Ideologie hat überschütten lassen.

Highway to hell?

Nur, weil man es gern hätte, ist jemand noch lange nicht in der Hölle. Über die populäre Leichtfertigkeit bei der Rede vom „Highway to hell“.

Berthold Kohler, Herausgeber der FAZ, spielt Gott und weiß den russischen Söldnerführer bereits in der Hölle. So wünscht sich das Bürgertum die Welt und vor allem die Religion. Der liebe Gott – nein, der Mensch anstelle Gottes – soll es richten. Er sieht Prigoschin auf dem Weg in die Unterwelt, der er nach allem was wir wissen, doch niemals entsprungen war. Aber Kohler meint gar nicht die kriminelle Unterwelt oder das Reich des Todes, sondern er meint die Hölle, die poulärkulturell ja längst mit allen gefüllt ist, die wir nicht mögen. In der Hölle, so könnte man Sartre abwandeln, sind immer die anderen. Wir aber, die wir so urteilen, kommen natürlich alle, alle in den Himmel, dafür sorgt schon Willy Millowitsch. Oh sancta simplicitas! rief Jan Hus angesichts der frommen alten Frau, die das Feuer zu seinen Füßen noch anfeuern wollte. Das hätte der Kleinbürger Kohler gerne, dass wir hier auf Erden  gleich an Gottes Stelle und lange vor dem Jüngsten Gericht entscheiden, wer in den Himmel kommt und wer in die Hölle. Das aber, nach allem was wir (zumindest als Christen) wissen und glauben, entscheidet allein noch der Weltenrichter und nicht der Herausgeber der FAZ oder Kanzler Scholz. Wir wissen schlicht nicht, wie Gott am Ende der Zeiten urteilt. Ist er ein Allversöhner wie manche veritablen Theologen vermuten? Oder lässt er die Übeltäter am Ende der Tage einfach in der Erde liegen? Oder wägt er sorgfältig gemäß seinem ewigen Ratschluss die Seelen der Verstorbenen und erweist sich als Vollzieher der Prädestinationslehre (eventuell auch in der doppelten Gestalt). Wir wissen es nicht. Solche Urteile und Gedanken hängen nicht zuletzt davon ab, welcher Religion wir selbst angehören. Wäre Prigoschin Buddhist, würde er also vermutlich als ziemlich mickrige Figur wiedergeboren werden, weil er für so viel Leid und Tod auf Erden verantwortlich war. War er Jude, der vom christlichen Weltgericht wenig gehalten haben dürfte und deshalb im Reich des Todes verharrt? War er orthodoxer Christ, der dann wohl an die Hölle geglaubt hat, die freilich nicht direkt nach dem Tod und ohne göttlichen Gerichtsprozess verordnet wird. Allerdings wäre die Hölle dann kein konkreter Ort, sondern eine spezifische verzehrende Erfahrung Gottes. War er Atheist, dann dürfte ihm das Nachleben recht egal sein, er geht über in einen Zustand, der vor allem aus Wasser, Kohlenstoffdioxid, Harnstoff und Phosphat besteht. Wäre er Protestant, bestünde aufgrund der Rechtfertigungslehre die Hoffnung, dass Gott ihn in den Himmel aufnimmt (dort hatte ihn ja schon die taz landen lassen – aber nur wegen der Überfüllung der Hölle).

Die letzten Dinge sind selbst nach christlicher Lehre sehr komplex. Wer ist schon jetzt im Himmel und für wen bestehen begründete Hoffnungen? Es gibt eine beeindruckende Elfenbeintafel aus dem 11. Jahrhundert, die uns visuell sehr schön über den Himmel und dessen Zugänglichkeit Auskunft gibt. Auch dabei ist manches deutungsbedürftig, in der Sache selbst ist die Tafel aber recht klar: im Paradies des Himmels sind bisher nur wenige Menschen: Abraham und der arme Bettler Lazarus, wegen des Gleichnisses, das Jesus erzählt hat, Dismas, weil Jesus ihm das bei der Kreuzigung zugesagt hat und schließlich Maria, weil die katholische Kirche das so beschlossen hat. Alle anderen müssen warten, „der Cherub steht noch dafür“. Ob die Jünger Jesu schon im Paradies des Himmels sind, wird dagegen nicht so ganz klar, sie sitzen aber direkt neben dem richtenden Christus.

Elfenbeintafel 11. Jahrhundert, Jüngstes Gericht, 15x21 cm, byzantinisch, Victoria & Albert Museum, London

Elfenbeintafel 11. Jahrhundert, Jüngstes Gericht, 15×21 cm, byzantinisch, Victoria & Albert Museum, London

Auch hier sitzen mehr Menschen in der Hölle als auf das Paradies warten. Dabei wissen wir wenig über die Höllenbewohner. Zumindest der reiche Prasser wird von Jesus erzählerisch dort verordnet. Die anderen warten aber nur im Reuch des Todes.

Unter den Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts haben viele die Lehre der ewigen Höllenstrafe abgelehnt, u.a. Herman Schell, Hans Urs von Balthasar, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ernst F. Ströter, Karl Barth und Wilhelm Michaelis. Jürgen Moltmann schreibt in seiner „Theologie der Hoffnung“:

„Die Logik der Hölle scheint mir nicht nur inhuman, sondern extrem atheistisch zu sein: hier der Mensch in seiner freien Entscheidung für Hölle oder Himmel – dort Gott als der Ausführende, der diesen Willen vollstreckt. Gott wird zum Diener des Menschen degradiert. Wenn ich mich für die Hölle entscheide, muss Gott mich dort hinstecken, obwohl es nicht sein Wille ist. Drückt sich so die Liebe Gottes aus? Und wo bleibt die Allmacht Gottes? Menschen würden selbst ihrem Schicksal überlassen, sie brauchen Gott eigentlich nicht, denn nur der Mensch bestimmt, was passiert.“

Das ist ja letztlich der (atheistische) Grundgedanke bei denen, die Menschen wie Prigoschin jetzt schon in der Hölle wähnen. Sie brauchen Gott nur noch als Handlanger ihrer eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen – ähnlich wie Dante, der seine Gegner und Feinde auch umstandslos in die Hölle beförderte. Weil die Menschen es nicht vermögen, soll Gott dann nach den Vorstellungen der Menschen richten. So funktioniert der Gottesgedanke aber nicht.

Streit um die Predigtkultur

Notizen zur Kritik an der Kritik an der Kirchentagspredigt und einige Zitate zur Aufgabe der Predigt.

Im Augenblick wird meine Kritik an der Predigt des Schlussgottesdienstes beim Kirchentag in Nürnberg auf Facebook kritisch gewürdigt. Das ist das Schöne in einer meinungs-differenten Welt, dass nicht immer nur ein Prediger recht hat oder sein Kritiker, sondern dass es ganz unterschiedliche Perspektiven auf kontroverse Sachverhalte gibt. Insofern ist jede Diskussion nur zu begrüßen.

Gut, bestimmte Standards sollten bei diesen Diskussionen eingehalten werden, man sollte vor allem nicht ad hominem argumentieren und man sollte dem anderen nicht Dinge unterstellen, die für ihn nicht zutreffen.

Nein, ich bin kein ordinierter Pfarrer, der einen Kollegen kritisiert, ich bin ein ganz normales Gemeindeglied (mit theologischer Ausbildung), der seine Perspektive auf eine öffentliche und medial bundesweit verbreitete Predigt artikuliert.

Nein, ich hasse den Kirchentag nicht, ganz im Gegenteil, wer meine Texte im Magazin für Theologie und Ästhetik in den letzten 25 Jahren verfolgt, weiß, dass ich mich immer wieder auf die großen Projekte und Leistungen des Kirchentages, wie etwa die Begleitung der Bibel in gerechter Sprache, die Förderung des christlich-jüdischen Gespräches beziehe, ja dass ich selbst diverse Projekte und Texte zum Kirchentag beigesteuert habe. Ich muss da also nichts abarbeiten, wie mir einige Stammtischpsychologen unterstellen.

Nein, ich vergleiche den Kirchentag auch nicht mit einem totalitären System, ich verweise nur darauf, dass ein befreundeter Autor, 1935 geboren, die Massenorientierung des Kirchentages mit seinen Kindheitserfahrungen verglich. Ich kritisiere den Kirchentag, weil er die Solidarität, die wir als evangelische Christ:innen den Künstler:innen nach 1945 schulden (vgl. dazu Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz. Berlin 2001), an entscheidender Stelle gebrochen hat, weil man den Herrschenden und Kirchenfürsten eines anderen Staates mit der Ausladung Herta Müllers gefällig sein wollte.

Nein, ich bin auch nicht genderkritisch, sondern genderkritik-kritisch (z.B. hier, hier, hier). Aber dazu müsste man sich informieren und im Magazin tà katoptrizómena lesen. Aber diese Zeit haben wir heute nicht mehr, wo einigen schon eine 20-Seiten-Lektüre als Zumutung vorkommt.

Dass der Titel dieses Magazins tà katoptrizómena lautet, ist kein Beitrag zur Spaßgesellschaft, es ist keinesfalls lustig gemeint, sondern greift Formulierungen des Apostels Paulus im 1. und 2. Korintherbrief auf, die über unser grundsätzliches Verhältnis zur Welt Auskunft geben.

ἡμεῖς δὲ πάντες ἀνακεκαλυμμένῳ προσώπῳ τὴν δόξαν κυρίου κατοπτριζόμενοι τὴν αὐτὴν εἰκόνα μεταμορφούμεθα ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν καθάπερ ἀπὸ κυρίου πνεύματος.

Ob diese Formulierung popkulturell tauglich ist, könnte man etwa anhand von Justin Timberlakes Video zu „Mirrors“ (2013) nachprüfen.

Grundsätzlich aber sollten wir uns in der Kirche der Gegenwart darüber verständigen, was Kritik  bedeutet und was der Kirche Kritik wert ist. Wer sich kritisch zur Kirche verhält, so musste ich erfahren, gilt wie Jorge von Burgos als übellaunig. Ich würde frei nach Adorno dagegenhalten:

„Der Splitter in meinem Auge ist vielleicht das beste Vergrößerungsglas“.

In meinem Text zur Kirchentagspredigt gab es zwei marginale Fehler, die ich inzwischen korrigiert habe. So habe ich geschrieben, die Lutherbibel habe das Wort „töten“ durch „sterben“ ersetzt. Das ist unzutreffend, es war der Kirchentagsgottesdienst selbst, der an dieser Stelle vom Luthertext abgewichen ist und von „sterben“ sprach. Im Gottesdienst ist das auch auffällig, weil zweimal kurz hintereinander von „sterben“ die Rede ist. Dort hieß es „Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; sterben hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit“. Das ist für die durchdachte Poetik des Kohelet ungewöhnlich. Ansonsten gab es einen sinnentstellenden Rechtschreibfehler, ein P fehlte in meinem Text.

Um ein wenig zur sachlichen Diskussion beizusteuern, möchte ich etwas nachtragen, was meine Gedanken zur Predigt auf dem Kirchentag inhaltlich bestimmt hat, im Text aber nicht explizit ausgeführt wurde – wohl aber der Sache nach. Es sind Zitate aus einem Vortrag über die ‚Gemeindemäßigkeit der Predigt‘, gehalten in der schon bedrängten Zeit des Jahrs 1935:

Der Prediger kann unmöglich seinen Mund legitim auch nur auftun als christlicher Prediger, ohne zum vornherein den Bogen des Bundes geschlagen zu sehen über die, mit denen er es zu tun hat, ohne bei jedem Wort, das er sagt, zu bedenken, dass Christus für diese Menschen gestorben und auferstanden ist, dass Gott sich dieser Menschen schon erbarmt hat und dass er darum, weil er sich ihrer erbarmt hat, sich ihrer auch annehmen wird in Zeit und Ewigkeit. Das ist sozusagen die objektive, die „sakramentale“, die „metaphysische“ Voraussetzung der Predigt, ohne welche sie nicht bestehen kann.

Die Gottesdienstgemeinde ist als Gemeinde keine Menschengruppe, die ideologisch oder politisch zu belehren ist oder über die der Prediger Gericht zu halten hat. Die Gottesdienstgemeinde ist eine über die sich Gott schon erbarmt hat. Das sollte man immer bedenken. Natürlich ist diese Gottesdienstgemeinde auch eine fehlerhafte und sündige Gemeinde, aber was heißt das für den ebenfalls fehlerhaften und sündigen Prediger? Gibt ihm das eine besondere Stellung, das Recht, die Gemeinde mit seinen Wahrheiten zu belehren?

Was kann unter diesem Gesichtspunkt Dienst am Wort Gottes bedeuten, dass da eine Gemeinde ist, Ausgesonderte, aber eine Gemeinde von Menschen, Sündern, Sterbenden? Dienst am Wort Gottes: darin liegt eine Abgrenzung gegenüber allen anderen an sich auch möglichen und weithin auch guten und verheißungsvollen Versuchen menschlicher Rede. Wenn die Predigt Dienst am Wort Gottes ist, dann kann der Versuch, der da gemacht wird, der Dienst, der da in Angriff genommen wird, Menschen das Evangelium zu sagen, unter keinen Umständen darin bestehen wollen, wie es sonst wohl auf der ganzen Linie der Fall ist, wo Menschen miteinander reden, dass der Prediger seinen Hörern ein kleineres oder größeres Wahrheitssystem vermittelt. Wenn wir Menschen sonst miteinander reden, dann geht es uns wohl immer darum, uns gegenseitig ein Bild zu vermitteln von einer Wahrheit, die uns vorschwebt, ein Bild von kleinen Erfahrungen und Erkenntnissen, für die man die anderen gewinnen möchte. Dieses Vorgehen kann nicht das Vorgehen des christlichen Predigers sein. Wo der Prediger meint, über ein Wahrheitssystem zu verfügen, da sündigt er gegen das Gebot der Gemeindemäßigkeit. Denn dazu ist er nicht unter diese Menschen gestellt, um das zu tun, was nun eben ein Philosoph, ein Politiker, ein Pädagoge zu tun pflegt. Dienst am Wort Gottes muss nach der Heiligen Schrift heißen: Bezeugung des in seinem Wort und in seinem Handeln offenbaren Gottes selber. … Die Predigt hat die Aufgabe, die Texte des Alten und des Neuen Testamentes heute in der heutigen Sprache heutigen Menschen zu vermitteln.

Exakt das, was Karl Barth hier 1935 in seinem Vortrag zur Gemeindemäßigkeit der Predigt gesagt hat, habe ich bei der Kirchentagspredigt in Nürnberg verletzt gesehen – und zwar elementar. Hier wurde nicht das Wort Gottes bezeugt, wie es sich in der Heiligen Schrift (hebräische Bibel und neutestamentliche Deutung) zeigt, sondern ein Wahrheitssystem der sich angeblich im Stand der Lüge befindlichen Gemeinde übergestülpt.

Und das dritte, was ich nicht eingelöst sah, war die Liebe zu jener Gemeinde, die vor dem Prediger und vor den Bildschirmen saß. Von ihnen hatte sich der Prediger ein Bild gemacht, gegen das er nun predigte. Dagegen sei mit Max Frisch gesprochen:

„Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: „wofür ich Dich gehalten habe.“ Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.

Und Liebe heißt eben nicht, die anderen erziehen zu wollen, sondern sie anzunehmen wie sie sind. Abschließend deshalb noch einmal Karl Barth:

Die Voraussetzung der Predigt muss ganz schlicht die Liebe des Predigers zu der Gemeinde sein. Liebe, das heißt ganz schlicht: Nicht ohne diesen anderen, den man liebt, sein wollen, nicht allein sein wollen, sondern mit ihm sein wollen, wie er nun einmal ist, in seiner Totalität, in seiner Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Gemeinde, das ist die Wirklichkeit der Kinder Gottes im finsteren Tal. Wenn ich diesen Menschen das Wort Gottes sagen will, so muss ich diese Menschen lieb haben, mit ihnen sein wollen, wie sie sind.

Rechtsästhetik

Gibt es so etwas wie „Rechtsästhetik“ und was hätte das für Folgen?

Bis heute war mir nicht bekannt, dass es so etwas wie „Rechtsästhetik“ überhaupt gibt und wozu es hilfreich sein könnte. Heute erfahre ich, dass es nicht nur einschlägige Bücher dazu gibt [Damler, Daniel (2016): Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken. Berlin: Duncker & Humblot], sondern dass es auch gute Gründe dafür gibt, sich damit zu beschäftigen. David Boss schreibt auf dem auch für Theolog:innen sehr empfehlenswerten Verfassungsblog über die rechtlichen Dimensionen von Metaphern in der öffentlichen Rede. Konkret: Kann jemand dafür bestraft werden, dass er / sie anderen vorwirft, sie hätten „Blut an den Händen“ obwohl dies ja „nur“ metaphorische Rede ist? Das ist eine spannende Frage. Und Boss zeigt, wie man sich auf einem hohen Niveau, das in den Alltagsdiskussionen von Kirche und Theologie selten anzutreffen ist, mit dieser Frage auseinandersetzt. Ich habe dabei viel gelernt. Er stellt einleitend fest: „Metaphern sind nicht nur rhetorisches Stilmittel. Sie sind auch ein bedeutender Teil der Rechtswirklichkeit.“ Und er zeigt sehr eindrücklich, inwiefern das zutrifft. Ich wünschte, ich hätte schon früher solche Diskussionen über die juristische Bedeutung von Metaphern kennengelernt, es ist auch für die theologische und kulturwissenschaftliche Arbeit sehr erhellend. Boss schreibt:

Die bildliche Wirkung einer Metapher ist nie nur passiv-rezeptiv, sondern immerzu auch aktiv-gestaltend: A stellt sich etwas vor und schafft mit einer Metapher davon gleichzeitig eine Vorstellung von etwas. B stellt sich unter der Vorstellung von As Metapher wiederum etwas vor und kreiert darauf aufbauend eine eigene Vorstellung. In ihrer Prägnanz ist die Metapher somit nie aussageartig „wahr“ oder „falsch“, wie es demgegenüber die juristische Subsumtion unter Begriffe vorgibt zu sein. Sie hat eine eigenständige Potenz.“

Was mir bei Boss wieder in Erinnerung trat, war der Umstand, dass Metaphern eine eigene Wirklichkeit konstruieren, mit der man umgehen muss. Metaphern sind nicht nur rhetorische Stilmittel, sondern mit ihrem Gebrauch verändert sich die Wirklichkeit auch, ohne dass man das mit wahr oder falsch kategorisieren kann.

Aber das ist erst der Anfang. Jetzt kommen erst die (rechts-)hermeneutischen Fragen. Dazu muss ich hier nichts schreiben, ich verweise einfach auf seinen Text:

Boss, David: „Blood On Your Hands“: Die rechtliche Dimension von Metaphern im Fall Zooey Zephyrs, VerfBlog, 2023/8/03,
https://verfassungsblog.de/blood-on-your-hands-2/,
DOI: 10.17176/20230803-104311-0

Bilder zur Sprache bringen

Das Heft 144 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen, Werke der Bildenden Kunst zur Sprache zu bringen.

Inhaltsverzeichnis

Editorial

VIEW

„Ich bin das Licht der Welt“
Vier Bilder
Erich Franz [12 S.]

Sprechende Bilder für schweigende Mönche
Zu einigen Kunstwerken von Rogier van der Weyden
Andreas Mertin [20 S.]

Vom Ankommen im Bild
Vier Positionen aus dem Kunsthaus Kannen
Gisela Steinlechner [10 S.]

Auf der Schwelle zum Suprematismus
Malewitschs „Krieger der Ersten Division“ von 1914
Gerd Steinmüller [12 S.]

„Ich beneide die Leute um ihre Freiheit“
Notizen zur Künstlerin Marie Bashkirtseff
Karin Wendt [6 S.]

Einstürzende Neubauten?
Aus der christlichen Erzähl- und Bilderwelt
Andreas Mertin [4 S.]

Frostiger Exodus – oder: Heim ins Reich?
Wenn aus Prompts animierte Klischee-Bilder werden
Andreas Mertin [10 S.]

„Le Dessous des Images“ – „Mit offenen Augen“
Wie man lernt, Bilder zu lesen – Ein TV-Tipp
Andreas Mertin [2 S.]

KIRCHENTAGSNACHLESE

Für alles gibt es eine Zeit!
Oder sollen wir das Eschaton immanentisieren?

Eine kritische Collage zur Kirchentagspredigt
Andreas Mertin [20 S.]

Das Kirchentagslied –
„Konfektionsmusik mit christlichen Konfektionstexten“

Eine Kritik an der Kritik der Kritik an fromm polierten Schnulzen
Andreas Mertin [10 S.]

CAUSERIEN

Wir leben in klebrigen Zeiten
Kritik der Spaghetti-Eis-Theologie
Andreas Mertin [6 S.]

Kunstverwendung im aktivistischen Diskurs
Oder: Der Zweck heiligt die Mittel
Andreas Mertin [6 S.]

RE-VIEW

Unter Beteiligung
Kurzvorstellungen
Redaktion [2 S.]

THEOMAGBLOG

Was ich noch zu sagen hätte
Gesammelte Beiträge aus dem Theomag-Blog
Andreas Mertin [12 S.]

Das elfte Gebot: Du sollst keine Ausstellung abbrechen

Aus Anlass der Schließung der Nürnberger Ausstellung mit Werken von Rosa von Praunheim einige Überlegungen zur Arbeit mit Kunst in der Kirche.

Ende Juli vermeldet die Presse die Schließung einer Kunstausstellung mit Werken von Rosa von Praunheim in der evangelischen Nürnberger Kulturkirche St. Egidien. Nun waren Irritationen im Blick auf Künstler und Ausstellung vorab zu erwarten und ich bin mir sicher, dass die Kurator:innen der Nürnberger Kulturkirche das auch sorgfältig bedacht haben. Sie sind letztlich das Risiko eingegangen und irgendetwas (vermutlich handfeste Proteste) muss sie dann dazu gebracht haben, dennoch die Ausstellung wieder zu schließen. Das halte ich nun wiederum für einen Skandal. Nicht wegen der Schließung einer Ausstellung mit Werken von Rosa von Praunheim, sondern grundsätzlich wegen der Schließung einer Ausstellung in einer evangelischen Kirche. Das berührt und verletzt das protestantische Selbstverständnis, aber auch die erarbeiteten Standards der Begegnung von evangelischer Kirche und zeitgenössischer Kunst zutiefst. Wir sind eine Kirche der Freiheit und das ist nicht nur so dahingeredet. Man klärt alle kontroversen Dinge, das ist Teil der kuratorischen Arbeit, im Vorfeld einer Ausstellung. Mit der Eröffnung hat man sich aber zu diesem Gast, seinem / ihrem Beitrag zur Kulturarbeit der evangelischen Kirche bekannt und lädt diesen Gast nicht wieder aus. Punktum. Das hat etwas mit cortesia, mit zuvorkommender Gastfreundschaft zu tun, die aus ganz archaischen Gründen nicht verletzt werden darf.

Mit den Worten von George Steiner: „Wo Freiheiten einander begegnen, wo die integrale Freiheit der Schenkung oder Verweigerung des Kunstwerkes auf unsere eigene Freiheit der Rezeption oder der Verweigerung trifft, ist cortesia, ist das, was ich Herzenstakt genannt habe, von Essenz … Von Angesicht zu Angesicht im Gegenüber zur Gegenwart gebotener Bedeutung, die wir einen Text nennen (oder ein Gemälde oder eine Symphonie), streben wir danach, seine Sprache zu hören. Wie wir auch die des auserwählten Fremden hören wollen, der zu uns kommt“.

Ab und an berate ich Kirchengemeinden oder halte Vorträge in Pastoralkollegs, was man berücksichtigen muss, wenn man in der Kirche zeitgenössische Kunst ausstellt. Das sind einfache Grundsätze, die man m.E. beherzigen sollte. Ich fasse sie hier einmal knapp zusammen, um dabei auch die Problemzonen und die Regeln zu beleuchten, um die es bei der Kulturarbeit der evangelischen Kirche geht.

Der erste Punkt steht unter der Überschrift: Man muss es auch wollen. Und das heißt: Klären Sie vorab und fragen Sie sich: Wollen wir wirklich Kunst ausstellen? Was erhoffen wir uns davon? (Mehr Besucher, interessante Impulse, Gespräche in der Gemeinde, neue Perspektiven …). Andernfalls planen Sie lieber einen Ausflug in eine Ausstellung! Oder einen Besuch im Museum! Oftmals ist es ja so, dass man Kunst nur ausstellen will, weil man sonst mit (s)einer Kirche nichts mehr anfangen kann. Das ist eine schlechte Voraussetzung für den Dialog von Kunst und Kirche. Wenn man sich vorher fragt, will man das überhaupt, dann bereitet man sich eben auch schon auf all die Herausforderungen vor, die ein solcher Dialog notwendig mit sich bringt.

Der nächste Punkt ist: Eine Ausstellung braucht Ideen. Und die Fragen lauten: Welches Modell wollen Sie kultivieren? Geht es Ihnen um: Religion in der Kunst? Geht es Ihnen um: Zeitgenössische Kunst? Geht es Ihnen um: Regionale Kunst? Geht es Ihnen um: Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen? Haben Sie ein Thema, ein Motiv, eine Konstellation, die Sie uisammen mit Künstler:innen bearbeiten wollen? Das ist insofern entscheidend, als dass dieses Modell darüber Auskunft gibt, worüber anlässlich der Ausstellung diskutiert werden soll und inwiefern die Kunst als Kunst dafür unentbehrlich ist. Man kann natürlich einfach prominente Namen ausstellen, aber dann ist man Teil der Kulturindustrie und nicht an einer Begegnung von zeitgenössischer Kunst und heutiger Religion interessiert. Wenn man ein Thema wählt, wäre das eben auch theologisch und theo-ästhetisch zu bearbeiten. Was unterscheidet die Ausstellung dieser Arbeiten von einer Ausstellung derselben Arbeiten in einer Galerie? Darüber muss man Auskunft geben können.

Der nächste, in der Gegenwart oftmals entscheidende Punkt, lautet: Nicht gegen die Gemeinde! Bereiten Sie die Gemeinde vor! Das Modell der fortschrittlichen Kunst und der rückschrittlichen Gemeinde ist überholt, es stammt aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Gemeinde muss informiert werden. Sie sollte aber nicht über Kunst abstimmen, das zeigt ein völlig falsches Verständnis von Kunst; sie sollte aber wissen, was auf sie zukommt. Nach evangelischem Verständnis wird die Gemeinde vom Presbyterium repräsentiert. Es wird Ängste geben – haben Sie keine Angst davor! Viele Befürchtungen entstehen aus der Unkenntnis zeitgenössischer Kunst – hier kann man Informationen liefern. Dann gibt es Ängste, was den Raum betrifft. Da hilft es, über das evangelische Raumverständnis nachzudenken und zu arbeiten. Dieser Punkt macht zwei grundlegende Dinge deutlich: Zum einen muss die Gemeinde und das heißt nach evangelischem Verständnis: das Presbyterium vorab informiert werden. Presbyter.innen sind Bedenkenträger.innen und das muss man ernst nehmen. Viel wichtiger ist m.E. aber der zweite Punkt: man muss in der Gemeinde am Raumverständnis arbeiten. Was ist ein religiöser Raum nach protestantischem (nicht nach bürgerlichem) Verständnis? Hier kursieren immer noch Vorstellungen von Sakralität, die Martin Luther bereits im 16. Jahrhundert aufgegeben hat, die reformierte Tradition natürlich ebenso. Es gibt im Protestantismus schlicht keine heiligen Räume. Kirchen sind auch keine Ruheräume (das ist eine bürgerliche Idee, als die Kirche nichts mehr inhaltlich zu sagen hatte). Es sind religiöse und kommunikative Räume, insofern sie dem Gottesdienst und dem Gemeindeleben dienen, aber Gott wohnt nicht zwischen diesen Mauern. Gott ist den Menschen in einer Galerie ebenso nah wie in einem Kirchengebäude. Aber religiöse Räume sind Heterotope, in denen wir über die Welt nachdenken. Und das können wir anhand von und gemeinsam mit Kunst.

Das führt uns zum nächsten Punkt: Wir sollen der Galerie keine Konkurrenz machen. Und das meint: Kirchenräume sind keine Ausstellungsräume, sondern religiöse Räume, die für Gäste offen sind. Das hat Konsequenzen für die spätere Inszenierung. Wenn Sie nur die freien Wände, die Sie haben, mit Bildern füllen wollen, handeln Sie wie eine Galerie. Dann sollten Sie gleich der Galerie Ihre Räume als Ausstellungsraum zur Verfügung stellen. Wenn Sie mit religiösen Atmosphären Ihres Raumes arbeiten, überlegen Sie, wie historisch Kunst in der Kirche Platz fand. Das ist lehrreich auch für die Gegenwart. In diesem Punkt geht es darum, zeitgenössische Kunst als solche, aber auch sich selbst als religiöse Institution ernst zu nehmen. Kirchen sind keine Galerien, sondern Heterotope, in denen über die Welt nachgedacht wird. Und das kann man auch mit Hilfe von Kunst machen.

Der nächste Punkt fordert noch einmal auf: Stellen Sie sich (vorab) Fragen! Welches Problem möchte ich / möchten wir in der Zusammenarbeit mit Künstler:innen bearbeiten? Worüber möchte ich / möchten wir neue Einsichten? Was ist das bisher Ungesehene / Unerhörte in meiner / unserer Gemeinde oder unserer Gesellschaft? Was mache ich ganz selbstverständlich im religiösen Raum, ohne darüber nachzudenken? Wo gibt es blinde Stellen? Inwiefern können mir Künstler:innen dabei helfen, diese wieder ins Bewusstsein zu heben? Diese Fragen zielen darauf, dass es um ein gemeinsames Unternehmen geht, nicht um einseitige Präsentationen.

Der nächste wichtige Punkt behandelt die unterschiedlichen Interessen von Aussteller:innen und Künstler:innen. Eine Ausstellung in einer Kirche ist kein Künstler:innen-Monolog. Wenn Sie nicht eine Ausstellung aus einem bereits bestehenden Bilderfundus zusammenstellen, besprechen Sie sich mit dem Künstler bzw. der Künstlerin. Beachten Sie aber: Künstler:innen haben andere Interessen als Sie. Es geht aber um einen Dialog, nicht um einen künstlerischen Monolog. Sie haben ein Erkenntnisinteresse im Blick auf das Besondere Ihres Raumes – das ist es, was Sie einbringen. Künstler:innen sind an Galerie-Inszenierungen gewöhnt, nicht mehr an Kircheninszenierungen. Hier müssen beide lernen. Der Raum ist als Heterotop nicht gleich-gültig, das ist die bleibende Erkenntnis aus Michel Foucaults Heterotopie-Konzept. Und das muss im Dialog mit den ausgestellten Künstler:innen auch deutlich bleiben, sonst kommt es nur zu Missverständnissen. Ich treffe oft auf Kolleg:innen, die nur stolz darauf  sind, diesen oder jenen berühmten unter den Künstler:innen ausgestellt zu haben. Darum geht es aber nicht. Kirchen sind keine Galerien, sondern kommunikative religiöse Räume.

Der nächste Punkt ist dem entsprechend: Was ist das Narrativ? Und das meint nicht das Narrativ der Kunst, sondern das Narrativ des konkreten Dialogs von Kunst und Religion. Jede gute Ausstellung in der Kirche hat ein Narrativ, eine Geschichte oder Erzählung. Was wollen Sie mit Ihrer Inszenierung den Besucher.innen erzählen? Versuchen Sie, einen Skopos (Leitsatz, Lehrsatz) Ihrer Ausstellung zu formulieren. Es geht um eine Art, regulative Idee der Ausstellung – die durchaus dann vom Resultat abweichen kann, aber doch das Ziel vorgibt.

Nun aber zum aktuell wichtigsten Punkt: Was tun bei Ärger? Kunst fordert uns heraus. Was immer Sie ausstellen, nicht alle werden einverstanden sein. Das ist gut so. Ziehen Sie niemals(!) ein Bild zurück. Erklären Sie, warum Sie es eingesetzt haben. Legen Sie Ihre Perspektive dar. Verteidigen Sie das Bild und den Künstler bzw. die Künstlerin. Viele Proteste gehen auf eine Verwechslung von Form und Inhalt zurück oder basieren auf einer veralteten Vorstellung von Kunst als Illustration. Sprechen Sie darüber mit den Protestierenden. Machen Sie eine Veranstaltung daraus. Die Schließung einer Ausstellung, aber auch schon das Zurückziehen nur eines Bildes ist ein kuratorischer Offenbarungseid. Denn das besagt nichts anderes, als dass man im Vorfeld als Kurator:in nicht genügend nachgedacht hat. Wenn also im Vorfeld erkennbar wird, dass ein Künstler oder eine Künstlerin in den auszustellenden Werken Probleme mit der katholischen Kirche aufarbeitet, ist eine evangelische Kirche vielleicht der falsche Inszenierungsort. Die Künstler:innen missbrauchen dann die evangelische Kirche und wollen gar keinen Dialog. Sie nehmen die evangelische Kirche in ihrer Besonderheit nicht ernst. Das kommt relativ oft vor und lebt von einem Kunstverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts, das Kunst an Provokation knüpfte. Darüber sind wir heute längst hinaus. Man muss schon sehr eurozentristisch denken, um an diesem Modell festzuhalten. Im Rest der Welt denkt man nicht so.

Wenn man diese Punkte abarbeitet, werden einem die Chancen und Risiken der Begegnung von Kunst und Religion bewusster. Man wird Streit nicht verhindern können, aber man sollte ihn aushalten lernen. Sich zurückzuziehen, ist feige und offenbart mangelndes Selbstbewusstsein..