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Manche Rechte meinen, die Gesellschaft stehe auf dem Kipppunkt zur Verrohung. Was ist daran dran?

Es ist wieder einmal Zeit, sich mit dem rechten Rand unserer Gesellschaft zu beschäftigen, also jenen, denen beginnend mit der Partei „Die Linke“ bis zur CDU/CSU alles zu linksradikal ist. Ja, diese Leute gibt es, die die CDU für linksextrem halten und sich selbst, obwohl sie eine extrem kleine Gruppe am rechten Rand der Gesellschaft sind, für die Mitte. Und damit das klappt, müssen sie sich als Vertreter einer angeblich schweigenden Mehrheit ausgeben.

Nun schweiNun schweigt die Mehrheit ja gar nicht, sie äußert sich dezidiert. Bei der Bundestagswahl 2021 gab es 61,68 Millionen Wahlberechtigte. Davon haben 76,6 Prozent an der Wahl teilgenommen. Um auf eine schweigende Mehrheit zu kommen, müsste man also 31 Millionen Wahlberechtigte hinter sich wissen. Und die können sich nur bei den Nichtwählern verstecken. Aber auch dann kämen die als „links“ verschrienen Parteien auf eine satte Mehrheit, fast Zweidrittel der Wahlberechtigten votieren für sie. Da bleibt kein Raum für eine alternative „schweigende Mehrheit“. Ich vermute, die Argumentation läuft so, dass man die Nichtwähler, die AfD, die Sonstigen und mehr als die Hälfte der CDU/CSU-Wähler zusammenrechnet, um auf die schweigende Mehrheit zu kommen. Und nicht einmal dann wäre die Mehrheit gesichert.

Natürlich gibt es Einzelthemen, bei denen es Mehrheiten jenseits der politischen Willensbildung der Bevölkerung gibt, etwa bei der Anwendung der Todesstrafe für bestimmte Taten. Aber das hat mit schweigender Mehrheit nichts zu tun.

Einer, der der schweigenden und natürlich rechts-konservativen Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck verhelfen will, ist Klaus Kelle. Er betreibt diverse meinungsstarke, aber selten sachkompetente Portale, mit denen er die Stimmung in Deutschland verändern will. Ein aktueller Aufmacher ist die Behauptung: „Diese Gesellschaft kippt“ (hier oder hier). Nun kippt im Augenblick ja vieles, es hängt immer davon ab, wo man gerade einmal steht. Für manche ist das Klima am Kipppunkt, für andere der gesellschaftliche Konsens (Spaltung), für dritte die Verrohung der Gesellschaft. Zu diesen dritten gehört Kelle

Jeder sieht, dass sich unsere Gesellschaft verändert. Und das, was wir da sehen, ist nicht gut. Als Beobachter und Aufschreiber kann ich mir jeden Tag ein Thema vornehmen und einfach nur Fakten aufschreiben, bei denen Ihnen Angst und Bange wird. Nehmen wir heute mal die Verrohung in unserer Gesellschaft, insbesondere unter Jugendlichen.

Und dann beschreibt er fast schon genüsslich einen Vorfall, bei dem drei Jugendliche einen Obdachlosen getötet haben, verhaftet wurden und dafür nun vor Gericht stehen und verurteilt werden. Und derartige Fälle, so behauptet Kellen anschließend, seien alltäglich:

Glauben Sie bloß nicht, dass das ein bedauerlicher Einzelfall wäre, solche Taten geschehen jeden verdammten Tag

Jeden verdammten Tag? Eine Kriminalstatistik für solche Taten (also Tötungen durch Jugendliche) nennt er nicht. Nach seiner Behauptung müsste es also etwa 365 Mordfälle durch Jugendliche pro Jahr geben. Das kommt mir extrem unwahrscheinlich vor. Nun kann man herausfinden, dass etwas mehr als 30 Minderjährige pro Jahr Opfer von Tötungsdelikten werden. Dagegen werden knapp fünfzig Jugendliche pro Jahr einer derartigen Tat verdächtigt. 50 sind aber keine 365. Statt einer pro Tag, weniger als einer pro Woche. Das ist schon ein Unterschied, zumal wie in diesem Fall ja auch mehrere Jugendliche für dieselbe Tat angeklagt werden. Ich weiß nicht, auf welchen „Werten“ eine rechtskonservative Ideologie basiert, die derart hemmungslos die Wirklichkeit verzerrt. Christliche Werte dürfen es nicht sein.

Deutschland geht vor die Hunde, und die grün-woke „Partycrowd“ tanzt dazu.

Schauen wir uns das einmal an. Wie steht es um die Jugendkriminalität seit 1991, als der von Kelle hochgeschätzte Helmut Kohl die Grundlagen für ein besseres Deutschland legte? Und schauen wir, wie danach während der Kanzlerjahre von Schröder und Merkel alles den Bach runterging. Oder doch nicht? War es vielleicht ganz anders, dass nämlich in der Zeit von Helmut Kohl die Jugendkriminalität so gestiegen ist, dass sie erst von der von Kelle viel geschmähten Angela Merkel gesenkt werden konnte? Man weiß es nicht? Doch:

Ja natürlich, früher war alles besser, bis Helmut Kohl kam. Ihm gelang es nach 1991, also in den letzten 8 Jahren seiner Amtszeit, die Zahl der Verdächtigten von knapp 140.000 auf 302.000 mehr als zu verdoppeln. Auf diesem Niveau hielt sich die Zahl in der Zeit Gerhard Schröders lange und erst unter der geschmähten Angela Merkel ging die Zahl der Verdächtigten deutlich zurück. Wer also die Mär erzählt, unsere Gesellschaft wäre in Sachen Jugendkriminalität an einem Kipppunkt, muss sich noch in der Amtszeit von Helmut Kohl wähnen. Ich bin weit davon entfernt, die gerade genannten Politiker für die Entwicklung der Kriminalitätsstatistik verantwortlich zu machen, nur so einfach, wie Herr Kelle es sich macht, sollte man es sich nicht machen und kontrafaktisch das Gegenteil von dem behaupten, was tatsächlich abgelaufen ist.

Panik erzeugen kann jeder, der Fake-News verbreiten kann, indem er etwa eine Nachrichtenseite aufsetzt. Darum geht es. Die Menschen sollen sich unsicher fühlen und deshalb zu rigiden Law-and-Order-Lösungen greifen, egal, ob die nun von der AfD oder der Werteunion angeboten werden. Da ist es völlig gleich, dass einem alle Fachleute erklären, die Statistik zeige, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Man kann einfach das Gegenteil behaupten – das haben wir durch Donald Trump und seinem postfaktischen Zeitalter gelernt. Die gefühlte Bedrohung bleibt ja bestehen. Und der gewünschte Effekt wird sich schon einstellen.

Konservativer Journalismus war früher auch schon mal besser – aber das ist auch nur so ein Gefühl. Aber früher hat der konservative Journalismus ja auch noch Werte verteidigt und nicht versucht mit dem rechten Rand zu paktieren. Zu Recht hieß es in der ZEIT einmal, der Unterschied der beiden Bewegungen laute: „Die einen wollen zerstören, die anderen erhalten“. Und man hat das Gefühl, einige Konservative wollten dann doch lieber zerstören als bewahren.