Weihnachten in Kriegszeiten

Weihnachten findet nicht nur an idyllischen Orten statt.

Ginge es bei den Karikaturen der arabischen Karikaturisten nicht völlig faktenfrei um den durch und durch kommerzialisierten Santa Claus der US-amerikanischen Weihnachtsindustrie (der auch in der westlichen Welt nur in den allerseltensten Fällen zu den wirklich Armen kommt), sondern um das von Lukas beschriebene Geschehen der Zeitenwende, das dort in der heutigen Westbank, also in Bethlehem lokalisiert wird, und wollte man es mit den Ereignissen im Gaza-Streifen verbinden, dann müsste man es mit einem Weihnachtsbild wie dem von Albrecht Altdorfer verknüpfen. Zumindest zeigt sich bei Altdorfer, wie stark auf den arabischen Karikaturen die Weihnachtsbotschaft verzerrt wird. Bei Altdorfer finden wir keine Idylle, keinen fetten Weihnachtsmann, der freigiebig seine Geschenke verteilt, hier wird jene Situation deutlich, in der Menschen in äußerst verzweifelter Situation keinen Platz mehr in irgendeiner Herberge finden.

Gleiches gilt für das Bild aus der Donauschule, das Wolf Huber zugeschrieben wird. und vielleicht die kleine Eiszeit spiegelt.

Die Unwirtlichkeit der Situation führt aber nicht dazu, dass das Weihnachtsgeschehen gar nicht erst stattfindet, sondern es vollzieht sich geradean einem solchen Ort. Das ist das Besondere der Weihnachtserzählung, dass sie eben nicht in der Großstadt, sondern im irgendwo stattfindet, dass sie uns nicht irgendwelche glitzernden Geschenke verspricht, keinen eitlen Tand oder irgendwelche Luxusgüter. Hier kommt aber auch nicht, wie manche meinen, ein geopolitischer Befreier zur Welt, der nun die Palästinenser in ihren Befreiungskampf oder in den Märtyrertod führt. All das ist nicht mit der Weihnachtserzählung verbunden.

Aber die Geburt des Gottessohnes ereignet sich dort, wo sonst niemand hingehen würde, er ereignet sich am unwahrscheinlichen Ort. Das ist zumindest die Hoffnung der Christen.

Santa Claus im Nimmerland

Blickt man auf die israelkritischen Karikaturen arabischer Karikaturisten stößt man aktuell häufig auf Santa Claus. Aber wen besucht der Weihnachtsmann eigentlich?

Dafür, dass die am Nahost-Konflikt beteiligten Parteien mit den Erzählungen des Christentums aus nachvollziehbaren Gründen sehr wenig bis gar nichts zu tun haben, und die Islamisten zudem westliche Werte im Allgemeinen eher als dekadent ablehnen, überrascht es doch, wie häufig christliche Brauchtümer und Folklore zumindest auf den israelkritischen Karikaturen vorkommen.

93% aller Palästinenser:innen sind muslimischen Glaubens, nur 6% sind christlichen Glaubens, freilich nicht im Gazastreifen. Dort ist der Anteil der Christ:innen von 15% im Jahr 1950 auf 0,05% im Jahr 2022 gesunken. Die Christ:innen dort sind zumal vor allem orthodox, bei denen Weihnachten erst am 6. Januar gefeiert wird. Wenn also auf den Karikaturen  der Israelkritiker:innen Santa Claus am 11. oder 18.12. 2023 den Gazastreifen besucht, fragt man sich doch, wen er da besuchen will: alle Menschen guten Willens? Das kann er machen, aber warum? Konsequenterweise wird Santa Claus auf einer anderen Karikatur von einem israelischen Soldaten auf die Knie gezwungen und durchsucht. Mir käme ein Santa Claus Anfang Dezember im Gazastreifen auch merkwürdig vor. Zumal die arabischen Karikaturisten sich immer auf die kommerzielle amerikanische Santa Claus Figur beziehen – der mit den glitzernden Geschenken.

Wenn in Bethlehem die Weihnachtsfeiern aus durchschaubaren Gründen (vor allem aus Solidarität mit Gaza) eingeschränkt oder abgesagt werden, dann spielt das auch auf den Karikaturen eine Rolle. Wir blicken z.B. auf eine Krippengeschichte mit den Hirten (und Ochs und Esel!), den Hl. drei Königen, die freilich von israelischen Panzern umzingelt werden, während am Himmel die Flugzeuge der IDF ihre Raketen als Sterne schicken. Fehlt nur noch der Hinweis auf den bethlehemitischen Kindermord, um die Szene zu vollenden. (Die Hirten sind übrigens Palästinenser, die Könige aber keine Adligen aus Katar oder Saudi-Arabien.) Bei einem eher äquidistanten Karikaturisten besucht der amerikanische Weihnachtsmann Gaza, aber niemand kann ihn dort empfangen, weil Gaza zerbombt ist.

Auch auf den israelsolidarischen Karikaturen spielt Weihnachten bzw. Santa Claus eine Rolle, nur ist es stimmiger. Hier hat sich im Gefolge eines Weihnachtsmanns, der Geschenke verteilt, ein Hamas-Terrorist eingeschlichen, ein Hinweis auf historische bzw. aktuell angedrohte Attentate auf Weihnachtsmärkte in Europa. Auf einer anderen Karikatur gibt es einen „Clash of cultures“: während der Weihnachtsmann Geschenke bringt, transportiert der Hamas-Terrorist nur Raketen. Mit einer Ausnahme geht es aber bei keiner der Karikaturen um die im Lukasevangelium erzählten Ereignisse. Vielmehr wird der kommerzialisierte Santa Claus als Geschenkebringer aufgegriffen. Warum dieser Geschenke in den Gazastreifen bringen sollte, statt für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen, erschließt sich nicht. Aber eigentlich geht es ja auch nur darum, den westlichen Adressat:innen  ein schlechtes Gewissen zu machen – ganz egal womit.

Wer ist hier im freien Fall?

Über die Kirchen wird häufig behauptet, sie befänden sich „im freien Fall“. Warum das kaum zutrifft und wenn, es für andere Institutionen noch viel mehr gelten müsste.

Was stellen wir uns unter einem freien Fall vor? Wenn wir auf das obige Diagramm blicken, welche Linie käme wohl unserer Vorstellung von einem „freien Fall“ am nächsten (falls man nicht gleich an Fallschirmspringer:innen denkt)? Wir haben hier die Entwicklungskurven dreier Institutionen vor uns, die Einblick in das letzte Vierteljahrhundert gesellschaftlicher Veränderungen geben. Dazu wurden alle drei Institutionen für das Jahr 1998 auf 100 gesetzt und nun verglichen, wie sie sich in den folgenden 25 Jahren entwickelt haben.

Und man kann feststellen: es sieht für alle drei Institutionen wirklich nicht gut aus: Allein bis 2012 haben alle drei mindestens 10% ihres früheren „Marktanteils“ verloren. Aber sie können darauf verweisen, dass es anderen gesellschaftlichen Institutionen ebenso geht, auch diese verlieren im vergleichbaren Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz bzw. werden nicht mehr so nachgefragt, wie im letzten Jahrtausend. Wir haben seit langem eine Krise der gesellschaftlichen Institutionen. Das ist für diese eine traumatische Erfahrung. Und die Frage stellt sich, wie man damit umgehen soll. Die betrachteten Institutionen sind die Mitglieder der evangelischen und die der katholischen Kirche und drittens die Printverkäufe der FAZ. Das sind natürlich in dem Sinne keine vergleichbaren Institutionen, weil sie unterschiedliche gesellschaftliche Segmente bearbeiten. Sie verbindet aber der Verlust an Kundschaft.

Fokussieren wir den Blick auf die letzten zehn Jahre. Und da ist es schon auffällig, wie dramatisch der Mitgliederverlust der Kirchen gewesen ist. Es sind nicht nur der Missbrauch-Skandal oder die mangelnde gesellschaftliche Innovationskraft der Kirchen, die hier sichtbar wird, hier kommen viele Faktoren zusammen. Vergleicht man die kirchliche Entwicklung aber mit der der FAZ, dann kommt es einem schon fast harmlos vor. Die FAZ hat im selben Zeitraum ihre Printverkäufe fast halbiert (nur noch geschlagen von der BILD, die ihre Printverkäufe mehr als halbiert).

Weshalb schreibe ich das? Reinhard Müller kommentiert in der FAZ unter der Überschrift „Christlich geprägt – was sonst?“ das Urteil zum Kreuzerlass in Bayern.

Wer Deutschland ein entchristlichtes Land nennen will, der findet reichlich Futter, etwa die zahlreichen Kirchenaustritte. Und doch ist Deutschland tief christlich geprägt. Weniger wegen der vielen eindrucksvollen Kirchengebäude, von denen nicht wenige mittlerweile ganz anders genutzt werden. Schon eher wegen des Halts, den die Kirchen bieten. Mögen sie sich auch, was die Zahl ihrer Mitglieder angeht, im freien Fall befinden – sie werden weiterhin gesucht, wenn es ums Ganze geht. Nicht nur als Raum fur Promi-Trauungen, sondern für Taufe, Trauung und im Todesfall. Von Weihnachten zu schweigen.

Das ist eine funktionale Bestimmung der Kirche als systemstabilisierender Faktor. Man kann das so sehen, wenn einem die Leitkultur wichtig ist. Mich stört schon das Wort „prägen“, das notwendig mit struktureller Gewalt verbunden ist. Ich glaube nicht, dass das zufällig ist, wo wir doch auch beeinflusst oder auch verbunden sagen könnten. Ob die Kirche oder die Religion sich als Agenturen der Übergangsriten (rites de passage) retten können, scheint mir mehr als zweifelhaft.

Insbesondere totalitäre Staaten wie die DDR haben gezeigt, dass die Übergangsriten auch ganz säkular bearbeitet werden können. Die rites de passage sind für industrielle und nachindustrielle Staaten immer weniger wichtig, sie sinken herab – gerade an den von Müller benannten Festen – zu Folklore. Weihnachten und (Traum-)Hochzeit hat dieses Schicksal schon lange erfasst, bei der Taufe oder dem Tod deuten sich derartige Entwicklungen aber auch an.

Gestoßen habe ich mich aber vor allem an der Formulierung vom freien Fall der christlichen Kirchen. Das kann in der Tendenz gar nicht bestritten werden, die Kirchen verlieren Jahr für Jahr Mitglieder. Aber sie befinden sich keinesfalls im freien Fall. Fast immer, wenn diese Formulierung genutzt wird, gibt sie nicht das wieder, was die Autor:innen beschreiben wollen. Wenn die Ölpreise im freien Fall sind, landen sie eben nicht – wie Fallschirmspringer:innen – ganz unten. Wenn die Sozialdemokratie Angst hat vor dem freien Fall in der Wählergunst, dann halbieren sich vielleicht ihre Zustimmungswerte, aber sie gehen nicht auf Null zurück. Korrekt wäre der Sprachgebrauch, wenn man sagt, einen freien Fall aus 100 Metern auf eine Wiese würde man nicht überleben. Meistens aber geht es um eine dramatische Einbuße an Zustimmung und der „freie Fall“ wird als dramatisierende, aber schiefe Metapher genutzt.

Diese Formulierung vom freien Fall ärgert mich besonders dort, wo jemand dann auch noch eine Institution vertritt, die weit größeren Fliehkräften unterliegt. Es ist, als wenn ein ganz Armer auf einen nicht so ganz Armen verweist und sagt: Schau mal wie schlecht es dem geht. Das mag zwar so sein, aber es ist und bleibt schief. Nun will Müller die Kirchen ja eigentlich verteidigen und sie als wertbasierte Stützen unserer Gesellschaft herausstellen. Aber indem er sie mit einer Metapher beschreibt, die auf der Sachebene nicht angemessen ist, verfehlt er sein Ziel.

Aber auch rein empirisch stimmt die Theorie von einem Zusammenhang von Religion und gesellschaftlichen Werten kaum. Blickt man auf die Länder mit dem größten Prozentsatz an Katholiken in der Bevölkerung und schaut nach, welchen Platz sie z.B. im Demokratieindex haben, stehen an erster Stelle El Salvador (76,4% – Platz 122, moderate Autokratie), Paraguay (74,5% – Platz 88, defizitäre Demokratie), Guatemala (66,7% – Platz 103, hybrides System), Costa Rica (64,3% – Platz 11, funktionierende Demokratie), Honduras (59,1% – Platz 113, moderate Autokratie), die Dominikanische Republik (58,1% – Platz 71, defizitäre Demokratie) und Nicaragua (57,7% – Platz 160, harte Autokratie). In Europa hat Malta den größten Katholikenanteil (98% – Platz 38, defizitäre Demokratie). Das ist eine erschreckende Bilanz – wenn man davon ausgeht, es gäbe einen Zusammenhang zwischen katholischer Religion und gesellschaftlichen Werten.

Sinn macht das allenfalls, wenn man Religion auf den lutherischen Protestantismus beschränkt: Norwegen (87,3% – Platz 1), Finnland (71,2% – Platz 4), Dänemark (75,9% – Platz 2), Schweden (73,7% – Platz 3), Island (80,2% – Platz 17). Demokratisch vorbildlich sind vor allem Staaten mit einer früheren lutherischen Staatskirche. Sie alle sind funktionierende Demokratien. Natürlich liegt ihre gesellschaftliche Wertebasis nun gerade nicht in ihrer Religion begründet, sondern vor allem in der Ökonomie und gesellschaftlichen Traditionen.

Reinhard Müllers „Aufhänger“ war ja nun das Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts, das den Kreuz-Erlass für legal erklärt hatte. Der Preis dafür, auch das sollte man nicht vergessen, war die völlige Auflösung der spezifischen religiösen Bedeutung des Kreuzes zugunsten eines kontingenten kulturellen Symbols. Das Kreuz an der Wand, so hat es das Gericht formuliert, sei „ein im Wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung“, und der Eingang der Gerichtsgebäude sei ein „Durchgangsbereich“, den Bürger:innen nur „flüchtig“ passierten. Nach dieser Logik hätte man freilich auch Lederhosen in den Eingangsräumen bayrischer Gerichte vor die bayrischen Farben hängen können, oder Bierkrüge, die sind in Bayern prägendes Kulturgut.

Gerade weil aber das Kreuz im Christentum die nur vorläufige Gültigkeit menschlicher Gerichtsurteile impliziert (das Jüngste oder Letzte Gericht steht ja noch aus), ist es eigentlich in einem säkularen, kulturell ausdifferenzierten modernen Staat in Gerichtsgebäuden nicht angebracht. Die Kirchen hatten sich daher bereits 2018 gegenüber dem Kreuz-Erlass kritisch gezeigt. Kardinal Reinhard Marx meinte: „Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden.“ Ähnlich sah das der damalige evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der kritisierte, das Kreuz dürfe nie für irgendwelche „außerhalb von ihm selbst liegenden Zwecke instrumentalisiert werden“. Aber es geht bei der Argumentation von Müller auch gar nicht um religiöse Interessen. Es geht darum, Religion als staatlich eingefriedet und darin staatstragend darzustellen und zu nutzen.

Wie man es auch dreht und wendet, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Nein, die Kirche befindet sich nicht im freien Fall, sie erfährt dramatische Einbußen an Teilhabe in der Bevölkerung, die sich aber kaum mit jenen Einbußen vergleichen lassen, die andere Institutionen wie die Presse oder einige große Parteien erleiden müssen.

Staatsräson und Grundrechte

Unter dem Pseudonym Clara Neumann schreibt eine Autorin über die aufbrechenden Konflikte zwischen angemahnter Staatsräson und den in der Verfassung garantierten Grundrechten.

Clara Neumann (Anonym) (2023): Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten: Auf dem Weg zu einer präziseren Antisemitismusdefinition.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/das-spannungsverhaltnis-zwischen-staatsrason-und-grundrechten/

Majetschak,Louise; Cemel, Liza (2023): IHRA-Definition als ‚Diskursverengung‘? Replik auf Clara Neumann.

Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/ihra-definition-als-diskursverengung/ .

Ambos, Kai; Barskanmaz, Cengiz; Bönnemann, Maxim; Fischer-Lescano, Andreas; Goldmann, Matthias; Mangold, Anna Katharina et al. (2023): Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung. Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht-eine-rechtliche-beurteilung/.

Theologische Debatte

Albrecht Grözinger beobachtet und kommentiert den aktuellen Kampf der theologischen Lager und legt seine Sicht der Sachlage vor.

Grözinger, Albrecht (2023): Oberlicht und Bodenhaftung | Anmerkungen zur theologischen Diskussion um die KMU 6. In: Zeitzeichen : evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/10864

Kunst Religion Israel

Das Heft 146 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es hat zwei Schwerpunkte: das Thema Kunst und Religion sowie den aktuellen Konflikt im Nahen Osten.

Editorial

VIEW

Der verborgene Gott und die Falten der Welt
Philippe Descolas Bildtheorie und einige notwendige Aufbrüche in der Theologie
Wolfgang Vögele [20 S.]

Staunen – Verstehen – Glauben
Bemerkungen zur theologisch-kunsthistorischen Führung im Museum
Wolfgang Vögele [24 S.]

Kunst und Religion
Plädoyer für eine Begegnung auf Augenhöhe
Andreas Mertin [16 S.]

✡ ISRAEL ✡

Bilderstreit oder: Der kleine Prinz im Nahostkonflikt
Israelkritik und Antisemitismus in aktuellen Karikaturen aus aller Welt
Andreas Mertin [32 S.]

Über Israel reden
Zwei Buchhinweise
Redaktion [2 S.]

Christen, Juden, Israel
Eine Collage von Kirchentexten aus aktuellem Anlass
Redaktion [8 S.]

„Es würde mich glücklich machen“
Israel, der Fotograf Max Jacoby und ein Essay von Heinrich Böll
Karin Wendt [8 S.]

Wir müssen sie beim Wort (und Bild) nehmen!
Gegen die grassierende Kultur der Unkultur in der Popkultur
Andreas Mertin [6 S.]

Meldung: Drittälteste Kirche der Welt beschädigt
Wenn Kunstzeitschriften zu Ideologieschleudern werden
Andreas Mertin [4 S.]

CAUSERIEN

Ein theologischer Kipppunkt zum Antijudaismus?
Gedanken über einen niedergeschriebenen, aber nicht ausgesprochenen Satz
Andreas Mertin [18 S.]

Ein bitteres Déjà-vu: Blindness and Insight II
Zwei unterschiedliche Rücktritte im Abstand von 13 Jahren
und warum sie dennoch miteinander zusammenhängen
Andreas Mertin [6 S.]

Nacht über der documenta
Ein Einwurf
Andreas Mertin [6 S.]

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach wir Armen!
Geschichten von goldenen Momenten und helfenden Händen
Andreas Mertin [16 S.]

RE-VIEW

Unter Beteiligung
Buchhinweise
Redaktion [1 S.]

POST

Bilderflut: Die KI als Bildgenerator
Kleine Spielereien zur Entspannung
Andreas Mertin [10 S.]

Der Krieg der Bilder oder: Karikatur und Israelhetze

Die Rolle von Karikaturen im Krieg der Bilder nach dem 7. Oktober.

Im Augenblick arbeite ich an einem Aufsatz über den Einsatz von politischen Karikaturen in den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten. Es sind schreckliche Karikaturen, voller Vorurteile, Stereotypen und Hass – natürlich nicht vergleichbar mit den entsetzlichen Fotos, die die mörderischen Terroristen selbst auf den Social-Media-Kanälen gepostet haben. Schrecklich sind die Karikaturen, weil sie mit Wissen und in einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Horrortaten kalt am Schreibtisch entstanden sind. Irgendwo, Hunderte Kilometer vom Geschehen entfernt, sitzt jemand (es sind fast immer Männer) und freut sich über die Ereignisse oder verwünscht die Folgen

Im Kampf der Palästinenser gegen den Staat Israel haben Karikaturen eine lange Tradition, sie gehen weit über ein halbes Jahrhundert zurück und sind verbunden mit Namen wie Nadschi al-Ali, dem vielleicht bekanntesten palästinensischen Karikaturisten und seiner Figur des zehnjährigen palästinensischen Jungen Handala, der vor 54 Jahren zum ersten Mal gezeigt wurde. Diese Figur taucht im palästinensischen Kontext überall auf.

So auch jetzt auf den Karikaturen nach dem Massaker am 7. Oktober. Nun wird Handala so inszeniert, als sei ihm mit dem schrecklichen Geschehen endlich der Schlüssel zur Freiheit in die Hand gelegt. Und wenn man genau hinsieht, dann impliziert dieses kleine Bilddetail im Kontext des Massakers bereits den anvisierten Massenmord an den Juden in Israel. Denn der kleine palästinensische Handala, der gerade die Grenzmauer durchbrochen hat (so wie die palästinensischen Terroristen die Absperrungen des Gazastreifens), blickt über ein leergefegtes Land auf den Felsendom in Jerusalem, der wie eine Fata Morgana hinter der Staubwolke hervorlugt. Das ist der Kern der Botschaft vom Free Palestine.

Das Interessante an der Karikaturen auf der Plattform ist, dass sie sich chronologisch ordnen lassen. Wie haben arabische Karikaturisten auf das Massaker reagiert? Haben sie wirklich gedacht, wie Karikaturen vom 8.10. andeuten, nun sei Israel ein für allemal geschlagen, nun sei es den palästinensischen Paraglidern gelungen, den Davidsstern abstürzen zu lassen? Oder, wie ein anderer Karikaturist noch am 7.10. meint, nun müsse die israelische Armee die weiße Fahne hissen, denn sie sei von den Terrorkämpfern und ihren Raketen geschlagen worden? Nun habe sich der israelische Aggressor endgültig am Gazastreifen die Zähne ausgebissen? Fast schon ironisch ist die Karikatur, die unter dem Titel „Palestine resists“ Netanjahu (dargestellt als Nazi) mit Goliath und die Palästinenser mit David vergleicht. Da hat jemand die biblische Geschichte nicht verstanden. Denn David ist natürlich Jude, während Goliath ein Philister ist, also von jenem Volk, auf das sich die Palästinenser in ihrer Suche nach einer historischen Genealogie so gerne berufen.

Apropos Genealogie. Als die USA das Massaker unmissverständlich verurteilen, meint ein Karika-turist, Amerika habe kein Recht dazu, denn die Amerikaner hätten die Ureinwohner (also die In-dianer) auch gelyncht – so wie die Israelis die Araber. Nur dass die Araber die Kolonialisten des 7. Jahrhunderts in Palästina sind und die dortigen Ureinwohner vertreiben oder zur Konversion zwingen. Aber Geschichte ist nicht unbedingt die Stärke der Karikaturisten.

Schon wenige Tage später wird den arabischen Karikaturisten klar, dass der Preis, den das palästinensische Volk für seine von der Regierung beauftragten Terroristen zahlen wird, ein ungeheurer sein wird. Und sofort schlägt der Tonfall in den Karikaturen um, statt des Jubels über den gelungenen palästinensischen Widerstand ertönt nun eine visuelle Kakophonie gegen das israelische Militär. Man macht Rechnungen auf, die besagen, die palästinensischen Terroristen hätten am 7. Oktober doch nur einige wenige ermordet oder entführt und wenn man das mit den Missetaten der Israelis und der Einsperrung der Palästinenser im Gazastreifen vergleiche, sei das doch nur marginal. Und manche Karikaturisten greifen auf alte Arbeiten zurück, die sie schon zu früheren israelischen Gegenschlägen produziert hatten. Mit dem Raketeneinschlag neben dem christlichen Hospital im Gazastreifen wird der Ton noch einmal schriller – nun werden direkt die mittelalterlichen Stereotype von den kindermordenden Juden bedient, ein Lieblingsthema der arabischen Karikaturisten seit 60 Jahren. Und so zeichnet man ein jüdisches Mobile über dem Bett eines palästinensischen Kindes, nur dass die einzelnen Teile des Mobiles aus israelischen Raketen bestehen, die alle auf das Kind gerichtet sind.

Unmittelbar antisemitisch wird es spätestens dann, wenn die in Gaza einschlagenden israelischen Raketen so dargestellt werden, dass sie von Tora-Rollen ummantelt sind, die dann (muss man sagen: natürlich?) ein palästinensisches Kind mit dem Tode bedrohen

Als dann die den Terror verherrlichenden Stimmen auf Facebook gesperrt werden, hetzt man gegen die westlichen Medien, die einseitig auf Seiten Israels und der Unterdrücker stünden. Und so wird jedes aktuelle Ereignis in die vertraute Bilderwelt eingearbeitet.

Aber es gibt natürlich auch die anderen Bilder, zunächst die aus einer Äquidistanz, von einem neutralen Standpunkt, der das Leiden bei allen Zivilisten in den Blick nimmt. Aber diese Position leidet selbst unter seinem Relativismus, denn es muss die notwendige Empathie angesichts des Geschehens am 7. Oktober abmildern zugunsten einer relativistischen Abwägung.

Und schließlich gibt es die empathischen und zugleich besonnenen Karikaturisten, die den Wahnsinn benennen und zugleich die Folgen aufzeigen. Positiv aufgefallen ist mir dabei Marian Kamensky, der heute in Wien lebt und auf eine lange Karriere als Karikaturist zurückblicken kann. Schon mit seinem ersten Bild am 7.10. konterkariert er die Aktionen der wahnsinnigen Terroristen, indem er sie statt in einen Tunnel in das offene Rohr eines israelischen Panzers laufen lässt. Er hält die Hamas schlicht für hirnlos (brainless) wie er auf einer späteren Karikatur zeigt.

Greta Thunberg, how dare you?

Die Empathielosigkeit Greta Thunbergs gegenüber den Opfern in Israel diskreditiert ihr politisches Engagement.

Die Klimaaktivistin Greta Thunberg solidarisiert sich wiederholt im Rahmen der Fortsetzung ihrer wöchentlichen Aktionen mit dem Gazastreifen. Das ist im Rahmen der Meinungsfreiheit vielleicht ihr Recht, beweist aber eine bemerkenswerte Empathielosigkeit gegenüber den vorangegangenen Ereignissen. Thunberg ordnet sich ein in eine Tradition der Linken, die sich mit Palästinenser:innen solidarisieren, weil sie sie für die Unterdrückten im Konflikt im Nahen Osten halten, und empathielos gegenüber der Geschichte der Juden und Jüdinnen reagieren, das Existenzrecht Israels ignorieren oder sogar bestreiten. Auffällig ist zunächst, dass die Hamas selbst gar nicht erwähnt wird. Ähnlich wie bei linken Reaktionen in Deutschland bemüht man sich, zwischen Palästinensern und der Hamas zu unterscheiden. Die Hamas ist aber nicht nur eine palästinensische islamistische Bewegung, sie wurde auch von der Mehrheit der Bevölkerung im Gaza-Streifen 2006 an die Macht gebracht. In Deutschland waren es nach 1945 die Rechten, die immer zwischen den Deutschen und den Nazis unterschieden und suggerierten, nicht die Deutschen, sondern nur die Nazis seien für die Verbrechen verantwortlich. Das ist aber eine schiefe Perspektive und wird auch in der Übertragung auf die Verhältnisse im Nahen Osten nicht plausibler. Es wäre schon sinnvoll, auch in der Berichterstattung immer von der palästinensischen Hamas zu schreiben. Man kann die Palästinenser:innen nicht pauschal exkulpieren, indem man so tut, als hätten sie mit der Hamas nichts zu tun. Ja, auch viele Palästinenser:innen leiden unter der palästinensischen Hamas, die nach der Machtergreifung 2007 begann hat, ihr eigenes Volk zu unterdrücken. Das muss benannt werden. Und dennoch ist es eine an der Macht befindliche palästinensische Regierung, in deren Auftrag im Oktober tausende Zivilisten in Israel angegriffen wurden. Und deren Schergen verübten ein Massaker. Das wurde in der Narratio etwa der demokratischen Sozialisten in den USA schon Anfang des Jahres vorbereitet, indem sie von der Nichtunterscheidbarkeit von Militär und Zivilbevölkerung in Israel sprachen. Unter Verweis auf die Siedlerbewegung werden alle Israelis zu legitimen Zielen erklärt. Die Folgen davon erleben wir aktuell.

Im Rahmen einer Kritik an der europäischen Kolonialpolitik wird der Staat Israel sowohl als Profiteur des Kolonialismus wie auch selbst als kolonialistische Macht dargestellt, weshalb er zu bekämpfen sei. Das ist aber eine verkürzte Sicht. Als ob nicht die arabischen Palästinenser:innen selbst die Erben einer großen kolonialen Bewegung wären, die Mitte des 7. Jahrhunderts Palästina eroberte. Kolonialismus kann nicht auf das 19. und 20. Jahrhundert begrenzt werden, er durchzieht die gesamte Geschichte. So wie die europäische Kolonialgeschichte nicht erst im 15. Jahrhundert beginnt, beginnt auch die Kolonialgeschichte im Nahen Osten viel früher. Anders aber, als es die Bibel darstellt, ist die Bildung der jüdischen Staaten in der Antike nicht Ergebnis einer kolonialen Eroberung, sondern einer Ausdifferenzierung der regionalen Bevölkerung.

Indem Greta Thunberg auf ihrem Foto nun die Solidarität mit den Palästinenser:innen mit dem Engagement für die Umweltbewegung verknüpft hat, schädigt sie letztere. Wäre das Eintreten für bestimmte nationalistische Gruppen in Palästina das Schibboleth des Engagements für die Umwelt, werden alle, denen die Solidarität mit Israel und die Erinnerung an Millionen in der Shoa getöteter Juden und Jüdinnen unverzichtbar ist, ausgeschlossen. Hier werden zwei ethische Dilemmata auf fatale Weise miteinander verknüpft.

Aufgabe aller Erziehung ist, so hat es Theodor W. Adorno 1966 in seinem berühmten Rundfunkvortrag gesagt, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“

Auch Greta Thunbergs nachgeschobene Erklärung, sie sei natürlich gegen Antisemitismus, macht es nicht besser, im Gegenteil. Dass sie gegen Antisemitismus sind, erklären auch fast alle. Antisemitismus wird nicht durch formelhafte Bekenntnisse aufgehoben, sondern misst sich an den Folgen, die bestimmte Äußerungen haben. Der auf dem Foto von Thunberg sichtbare Slogan „Free Palestine“ lässt sich mit aller Vernunft nur so deuten, dass Palästina von Israel (und den Juden) befreit werden soll. Das ist eine völkerrechtswidrige Forderung, die man als israelbezogenen Antisemitismus charakterisieren muss. Dem entkommt man nicht, indem man abstrakt erklärt, man sei aber doch gegen Antisemitismus. Nach dem Motto: Ich habe nichts gegen Juden, viele meiner Freunde sind Juden, aber Juden (oder Israelis) gehören nicht nach Palästina. Man muss nicht Vertreter der IHRA-Definition des Antisemitismus sein, um darin israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen. Das humanistische Schibboleth für alle ist hier notwendig die Anerkennung des völkerrechtlich verbürgten Existenzrechts Israels.

Anders als manche in den konservativen Medien es jetzt darstellen, diskreditiert das in seiner Abstraktheit und Empathielosigkeit fatale exklusive Engagement Greta Thunbergs für die palästinensische Sache nicht das Engagement der jungen Generation für die Klimawende. Man muss nur – anders als Thunberg es getan hat – das eine vom anderen trennen. Auch wer in Sachen Palästina zu anderen Schlussfolgerungen als Greta Thunberg kommt, ja ihnen diametral widerspricht, bleibt dennoch auf das Engagement zugunsten einer Klimawende verpflichtet – so ambivalent und schwierig das nach den jüngsten Äußerungen der internationalen (nicht der deutschen) FFF-Bewegung auch geworden ist. Es fällt freilich schwer, sich in (internationalen) Organisationen zu engagieren oder auch mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn ih­nen das Schicksal einer Religion und eines ganzen Landes egal ist.

Rechtsfragen

Was ist Recht und was ist Unrecht bei den Ereignissen in Israel und bei den Diskussionen zum Thema Naher Osten?

Ab und an ist es ganz gut, von Juristen auf den Boden der (Rechts-) Tatsachen geholt zu werden. Es ist ja das eine, was einem das das eigene, oft durch Moral bestimmte (Rechts-) Gefühl sagt, was man in der konkreten Situation des Nahost-Konflikts sagen darf bzw. sollte und was nicht, was man bekunden kann und was strafbare Billigung von Straftaten wäre. Da ist es gut, wenn Experten einem die Sachlage erläutern. Zu diesen Experten zählt unbestritten der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer. Auf Legal Tribune Online gibt es eine Kolumne, die sich „Eine Frage an Thomas Fischer“ nennt, und in der er aktuelle Fragen des Rechts und der Rechts-Kultur erörtert. Aktuell lautet die Frage „Ist der Jubel über Terror strafbar?“ Ich empfehle seine Darlegungen sehr zur Lektüre. Sein Fazit lautet:

1. Das Bejubeln von konkreten bzw. von hinreichend konkretisierbaren Tötungsdelikten der „Hamas“-Miliz in Israel ist nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar.
2. Die öffentliche Verbreitung der Parole „from the river to the sea / Palestine will be free“ ist im konkreten Bedeutungszusammenhang nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar. …
3. Allgemeine „Solidaritäts“-Bekundungen mit den politischen, humanitären oder rechtlichen Anliegen „der Palästinenser“ oder einzelner Gruppen von ihnen sind nicht strafbar, sondern unterfallen Art. 5 Abs. 1 GG. Entsprechende öffentliche Demonstrationen sind über Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art 2 Abs. 1 GG auch dann gerechtfertigt, wenn die dort vertretenen politischen Positionen einer Mehrheit der (deutschen) Bevölkerung abwegig erscheinen. Die palästinensische Flagge ist kein Kennzeichen der Organisation Hamas und daher nicht nach § 86a StGB strafbar.

Aus der Perspektive des Völkerrechts räumt Wolff Heintschel von Geinig im Gespräch mit der taz mit einigen auch von den Medien eifrig kolportierten Vorurteilen auf: „Es ist nach dem humanitären Völkerrecht nicht verboten, bei Angriffen gegen zulässige militärische Ziele auch Zivilpersonen oder zivile Objekte in Mitleidenschaft zu ziehen … Selbst hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung müssen also nicht per se rechtswidrig sein.“ Zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Aufforderung an die Bevölkerung, in den Süden zu gehen: „Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sagt, dass dieses Verbot nicht mehr gilt, wenn es der Sicherheit der betroffenen Zivilpersonen dient oder überragende militärische Gründe dies fordern. Und hier haben die Israelis gute Argumente auf ihrer Seite.“ Grundsätzlich aber gelte das humanitäre Völkerrecht aber für alle am Konflikt Beteiligten: „Das humanitäre Völkerrecht findet gleichmäßig auf alle Konfliktparteien Anwendung. Es kann nicht eine Konfliktpartei erklären, sich darum nicht mehr zu scheren, weil es der Gegner auch nicht tue.“