Über den Zweifel des Josef und seine Rückkehr zu Maria
Zum dritten Advent ein Bild zum Leben des Heiligen Josef aus der Sint-Katharinakerk in Hoogstraten Es ist ein Simultanbild mit einer rätselhaften Anordnung der Szenen. Mich interessiert aber weniger die Legende des Josef als vielmehr der Zweifel des Josef, die erste Erscheinung des Engels im Traum und – eine ikonographische Besonderheit dieses Bildes – die Reue des Josef und seine kniefällige Hinwendung zur schwangeren Maria.
Josef ist immer reichhaltig mit Handwerkszeug ausgestattet, dessen Symbolik zu vielerlei Spekulationen Anlass gegeben hat. Die Geschehnisse müssen wir so rekonstruieren: Josef überfällt elementarer Zweifel, ob er sich der schwangeren Maria annehmen soll. Voller Panik rafft er sein Handwerkszeug und flieht aus der Stadt. Auf der Flucht weg vom Haus der Maria hat er sich dann zur Rast hingelegt und gerät ins träumen. Im Traum erscheint ihm ein Engel und befiehlt ihm die schwangere junge Frau zur Fürsorge. Und, so muss man aus dem unteren Teil der Szene schließen, Josef kehrt wortwörtlich um und fällt vor Maria auf die Knie. Dass er dabei immer seine Handwerksutensilien mitschleppt, ist nicht ohne Ironie. Und so stellt sich die Frage, wer hier eigentlich wen annimmt. Eine wunderbar anmutige Szene.
Getragen ist das alles, das wird aus den weiteren Szenen des Bildes deutlich, nicht nur aus der frühbyzantinischen Überlieferung, sondern auch von den Visionen der heiligen Birgitta von Schweden, die das gehobene Alter und eine leichte Schusseligkeit des Josef in den Vordergrund stellt, der zur Geburt des Herrn noch schnell eine Kerze holt, obwohl Jesus doch das Licht der Welt ist.
Die gewaltsamen Suffragetten als Vorbilder der „Letzten Generation“.
Ich habe ja in der Ausgabe 140 des Magazins für Theologie und Ästhetik über die symbolischen Bildzerstörer der „Letzten Generation“ geschrieben. Da wusste ich noch nicht, dass die „Letzte Generation“ darin historische Vorgängerinnen hatten, die nicht nur symbolisch, sondern auch real Bilder zerstörten. Und es handelt sich um solche Vorgängerinnen, auf die sich Vertreter:innen der „Letzten Generation“ auch heute explizit berufen (Vgl. dazu hier und hier). Und diese Vorbilder waren die Suffragetten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch diese Bewegung unterlag einem schleichenden Radikalisierungsprozess, der am Ende auch Gewalt gegen Sachen und Personen beinhaltete.
1914 betrat Mary Richardson die National Gallery in London und verübte einen Anschlag auf das Kunstwerk „Venus vor dem Spiegel“ von Diego Velázquez aus der Zeit zwischen 1647-1651. Mit einem Fleischerbeil zerstörte sie das Glas vor dem Kunstwerk und zerschnitt dieses dann. Zur Rechtfertigung verwies sie auf die Verhaftung einer anderen Suffragette einen Tag zuvor und auf die sexistische Anlage des Bildes. Dies erschien ihr ausreichend, dieses Werk nicht nur symbolisch, sondern real zu beschädigen. Von dieser Attacke gibt es, und das ist es, worüber ich hier schreiben möchte, unterschiedliche Fotografien, genauer: von den Ergebnissen der Attacke. Und die sind etwas widersprüchlich.
Nach dem ersten ‚Foto‘ hätte sich die Suffragette auf den unteren Körperteil der Venus fokussiert. Dort sehen wir sieben Schnitte im Bild. Das zweite ‚Foto‘ zeigt aber ein ganz anderes Tatortbild. Hier sehen wir mindestens acht Schnitte vor allem im oberen Körperbereich der Venus. Es gibt keine vernünftige Logik, die diese beiden angeblichen Fotos miteinander verbinden könnte – außer der Tatsache, dass sie scheinbar dasselbe Attentat zeigen. Handelt es sich also um zwei ganz unterschiedliche Bilder vom selben Ereignis? Aber warum zeigen sie unterschiedlich verletzte Körperregionen? Müssen wir alternativ davon ausgehen, dass ein Bild ein Symbolbild ist und das andere ein Dokumentarfoto?
Faktisch, auch das soll nicht unerwähnt bleiben, gibt es sogar noch ein drittes Foto, das wiederum den beiden anderen punktuell widerspricht: Hier sieht man tiefe Brüche in der Leinwand, während sich die Schnitte über den ganzen Körper verteilen. Es passt noch am ehesten zum zweiten Bild, weicht aber in Details von ihm ab. Alle drei Bilder werden wie Fotos behandelt. Das ist etwas mysteriös. Es zeigt, wie schwierig es ist, selbst unstrittige Vorgänge zu bewerten. Am plausibelsten scheint mir angesichts der Vehemenz der Aktion das dritte Foto zu sein. Das erste Bild dürfte eine Pressemontage sein, die imaginativ „annährungsweise“ vorgegangen ist, das zweite gibt die Situation als Gesamtbild aufgrund des dritten Originalfotos wieder. Es gibt auch noch Illustrationen zum Geschehen.
In der Zwischenzeit sind andere Fragen anhand solcher Kunstwerke diskutiert worden. Heute diskutieren manche darüber, ob das Publikum nicht grundsätzlich vor derartigen ‚sexistischen‘ Werken geschützt werden müsse (vgl. hier und hier) und die Argumente sind nicht besser geworden, nur dass wir die Werke nicht mehr zerstören, sondern sie abhängen und ins Depot verbannen oder symbolisch mit Kartoffelbrei oder Torten bewerfen. Viel mehr Einsicht in die Bedeutung von Kunst kann man daraus aber nicht erkennen.
Abschließen möchte ich mit dem warnenden Hinweis, mit dem Claudia Mäder ihren entsprechenden Artikel in der NZZ beendet:
Vor allem aber sollte jeder, der sich heute in die Tradition der prominenten Suffragetten stellt, deren Geschichte bis zum Ende verfolgen. Während Emmeline Pankhurst zur nationalistischen Kriegstreiberin wurde und Männer, die keine Uniform trugen, als Feiglinge verachtete, landete Mary Richardson bei den Faschisten. 1932 trat sie der British Union of Fascists bei, ab 1934 führte sie die Frauensektion der Partei. Nach eigenem Bekunden ist es der Mut zur Tat gewesen, der die Frau, die 1914 einen Velázquez aufschlitzte, zwei Jahrzehnte später an den Schwarzhemden faszinierte. (Quelle)
Über einladende und ausgrenzende Räume der Religion
Ich habe hier einmal zwei unterschiedliche Tafeln des Wurzacher Altars, die aber Szenen zeigen, die am selben Ort spielen, mittels Photoshop zu einem Bild zusammenmontiert. Darin erkennt man viele der Details wieder, die ich in den vergangenen Tagen erörtert habe. Was mich nun interessiert, sind die unterschiedlichen Raumschließungen und Raumöffnungen auf dem Bild. Auf der linken Seite sehen wir eher das einfache Volk, von den Hirten bis zu den Bürgern, auf der rechten Seite die gehobenen Schichten, allen voran die Könige mit ihrem Gefolge. Meine Frage ist: Ist es ein Zufall, dass die einen durch einen Holzzaun auf Distanz gehalten werden, während die anderen durch das den Torbogen direkt zu Christus Zutritt haben: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …? Es ist ja auffällig, dass das Christentum die Könige zu Heiligen verklärt hat, während die primären Zeugen namenlos und ohne religiöse Auszeichnung blieben.
Ich weiß, dass es andere Weihnachtsbilder gibt, auf denen die Hirten auch zu Jesus vordringen, aber auf diesem konkreten Altarwerk ist es wohl bewusst anders dargestellt, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Räume des Religiösen sind nie egalitär. Normalerweise bezieht sich das aber weniger auf die Menschen, sondern auf den Raum als solchen. Religiöse Räume sind Heterotope, Anders-Orte, in denen der Rest der Welt unter religiösen Paradigmen reflektiert wird. Das Christentum ist aber seit frühen Zeiten auch eine Ständegesellschaft gewesen, bei der einige dem Heiligen näher sind und vor allem näherkommen dürfen als andere. Das wird auf dieser Bildmontage überaus augenfällig. Die Frage ist, ob sich das in der Moderne geändert hat, oder ob wir nicht immer noch diese Unterscheidung von den Nahen und Fernen machen.
Zu einer antijudaistischen Erzählung aus der Legenda aurea zum Hl. Nikolaus.
Wir neigen ja dazu, uns aus all den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählungen des Christentums nur jene herauszupicken, die uns heute noch unproblematisch erscheinen. Dagegen verschweigen wir schamhaft all die anderen, die aber doch auch in den gleichen Erzählzyklus gehören. Das gilt nicht nur für den Heiligen Martin, sondern auch für den Heiligen Nikolaus, den wir immer für seine Goldklumpen für die verarmte Familie feiern, aber nicht für seine dingmagische Herabsetzung von Juden kritisieren. In der Legenda aurea findet sich folgende Geschichte, die oben auf dem Glasfenster aufgegriffen und gebündelt wird:
Als ein Jude sah, welche Wunder die Macht des Heiligen (scil. Nikolaus) wirken konnte, ließ er sich ein Bild von ihm machen, stellte es in seinem Hause auf, und wenn er eine längere Reise vorhatte, anvertraute er ihm seine Habe, wobei er Drohungen folgender Art auszusprechen pflegte: «Siehe, Nikolaus, alle meine Dinge anvertraue ich deiner Hut! Solltest du nicht alles gut bewachen, werde ich mich an dir mit Schlägen rächen!» Als er nun wieder einmal abwesend war, kamen Diebe, raubten alles und ließen nur das Bild zurück. Als der Jude bei seiner Rückkehr sah, wie man ihn beraubt an: «Herr Nikolaus! Ich hatte dich doch in meinem Hause aufgestellt, damit du meine Habe vor Dieben bewahrst! Warum wolltest du das nicht tun, warum hieltest du die Diebe nicht fern? So wirst du nun schreckliche Schläge bekommen und an Stelle der Räuber büßen! Meinen Schaden werde ich durch deine Qualen wieder wettmachen, und ich werde meine Wut mit Schlägen und Peitschenhieben kühlen!» Dann nahm der Jude das Bild und schlug und peitschte es grausam.
Da aber geschah Wunderbares und Staunenswertes: Als die Räuber die Beute untereinander teilten, erschien ihnen der Heilige Gottes, wie wenn er die Schläge empfangen hätte, und sprach: «Warum bin ich euretwegen so grausam gegeißelt und so schrecklich geschlagen worden? Warum musste ich so viel Qualen erleiden? Schaut, wie mein Leib voller blauer Flecken ist, wie er rot ist von Blutungen! Geht rasch hin und gebt eure Diebesbeute zurück! Sonst wird der allmächtige Gott gegen euch wüten, euer Verbrechen wird bekannt werden, und ihr werdet alle an den Galgen kommen!» Da sagten jene: «Wer bist du, der du so zu uns sprichst?» Der Heilige: «Ich bin Nikolaus, der Diener Jesu Christi, den der Jude für seine Habe, die ihr geraubt habt, so grausam gepeitscht hat.» Da liefen sie voller Angst zum Juden, berichteten vom Wunder, vernahmen von ihm, was er dem Bild getan, und gaben ihm alles zurück. So kamen die Räuber wieder auf den rechten Weg, der Jude aber nahm den Glauben an den Erlöser an.
Diese Geschichte ist böse in sich, konstruiert, um Juden verächtlich zu machen. Nicht nur, weil der geschilderte Jude als zu Bekehrender wahrgenommen wird (das ist fast noch der harmloseste Teil der Erzählung), sondern weil er als durch und durch unwahrhaftiger Jude dargestellt wird. Ein Jude, der durch seine Handlungen sich selbst als heuchlerisch überführt.
Nicht umsonst setzt die Erzählung damit ein, dass ein (natürlich reicher) jüdischer Bürger, der sein Geld in einer Schatztruhe hortet, sich insgeheim ein Kultbild zum Schutz seines Reichtums aufstellt. Er macht das, weil er, wie es einleitend heißt, an die Macht der Bilder glaubt. Schon das ist eine perverse, herabsetzende Darstellung.
Und wie ein guter orthodoxer Christ oder Katholik spricht er mit dem Bild, ganz der platonischen Urbild-Abbild-Theorie folgend – was dem Abbild geschieht, überträgt sich aufs Urbild. Auch das ist absurd und bösartig zugleich. Es zeigt, dass das Christentum dem Judentum eigentlich vorwirft, dass es das Bilderverbot aufgestellt hat, dem es selbst nicht folgen mag, und deshalb den Juden unterstellt, sich auch nicht daran zu halten. Im Gegenzug zeigt man, wie wirkmächtig das Christentum sich die Bilder (zumindest in seinen Erzählungen) vorstellt.
Und so ist alles weitere Dingmagie bis ins letzte Detail. Das hat eine Tradition seit dem byzantinischen Bilderstreit, in dem auch vehement mit der angeblichen Wirkmächtigkeit von Ikonen argumentiert wurde. Und wer sich darauf einlässt – konvertiert. Das glaube ich nun auch, nur ist das nicht ein erstrebenswerter Zustand, denn man konvertiert in eine Welt des Aberglaubens.
Hat der Hl. Josef für das neugeborene Jesuskind einen Brei am offenen Feuer zubereitet?
Auf der zweiten von mir aktuell betrachteten Tafel findet sich links am Bildrand die obige Darstellung. Man erkennt sofort die Übereinstimmung mit der nebenstehenden Figur des Heiligen Josef aus der vorherigen Tafel. Nur dass der dunkel-violette Untermantel fehlt, Josef keine Handschuhe und keinen Zimmermannsstab trägt und stattdessen eine Pfanne in der rechten Hand hat.
Dieses Motiv des Speise zubereitenden Josef tritt um 1400 in der Kunst auf und deutet auf eine volkstümliche Hinwendung zur Figur des Nährvaters hin. Er wird als treusorgender Gatte der Maria dargestellt, der sich um den Haushalt kümmert, während Maria sich dem Kind widmet. In der Literatur wird oft behauptet, Josef bereite hier einen Brei für das Christuskind. Das ist wohl wenig wahrscheinlich, denn auch im 15. Jahrhundert wusste man, dass Neugeborene nur Milch vertragen. Hier steuert offenbar der Wunsch nach Idylle die Wahrnehmung. Im 21. Jahrhundert kann dann sogar geschrieben werden, dass in Josef der ideale Mann dargestellt werde, weil er sich im Haushalt engagiere.
Das ist wohl eher Wunsch-Projektion, realistischer dürfte die Darstellung im Stundenbuch der Katharina von Kleve sein, die Maria beim Stillen und Josef beim genüsslichen Verzehr des von ihm vorher über dem offenen Feuer gekochten Breis zeigt.
Mariä Heimsuchung bzw. Visitatio Mariae – so wird die Begegnung von der schwangeren Maria mit ihrer schwangeren Cousine Elisabet bezeichnet. Es gibt viele wunderbare Bilder in der Kunstgeschichte zu diesem Ereignis, die wichtigsten habe ich in einer früheren Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik zusammengestellt.
Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts stoßen wir dann vermehrt auf intra-uterinären Darstellungen, die die beiden ungeborenen Kinder zu den zentralen Akteuren im Bild werden lassen.
Dargestellt sind beide Frauen auf dem 1460 entstandenen Bild aus Kremsmünster als junge Schwangere, was zumindest im Fall der Elisabet der Überlieferung widerspricht. Auch das Alter der Ungeborenen wird angeglichen
Wir werden nun also mehr oder weniger direkt nicht nur auf die Schwangerschaft der beiden Frauen aufmerksam gemacht, sondern sehen explizit auch noch eine Darstellung der beiden ungeborenen Kinder. Zum einen dient das der Klärung der unterschiedlichen Bedeutung beider Ungeborenen: Jesus ist wesentlich bedeutender als Johannes, was sich an der jeweiligen Gestik zeigt (Anbetung vs. Segen), zum anderen soll das im biblischen Text Beschriebene auch visuell zum Ausdruck kommen: die Freude des ungeborenen Johannes über die Begegnung seiner Mutter mit der mit Jesus schwangeren Maria. Wie hier auf dem Heimsuchungsbild aus dem Stift Kremsmünster aus dem Jahr 1460 thront Jesus auf diesen Bildern schon als Pantokrator ante portas, während Johannes sich kniend in eine Haltung der Anbetung ergibt.
Ein weiteres Detail auf dem gerade von mir betrachteten Bild ist noch bemerkenswert. Und das ist der violette Schal, der quer über dem gut eingewickelten Jesuskind im Weidenkorb liegt. Es hat eine merkwürdige Form und wirkt wie zufällig abgelegt, ist aber natürlich wie immer auf spätmittelalterlichen Kunstwerken sorgfältig inszeniert.
Schaut man noch einmal auf das vorherige Bilddetail des Hl. Josef, dann erkennt man, dass das abgelegte Stück Stoff zur Kleidung des „Nährvaters“ gehört. Aber um welches Kleidungsstück handelt es sich? Die Form zeigt uns nun, dass es sich wohl um ein Beinkleid handelt, also quasi die Hose des Josef. Demnach hätte dieser sein Beinkleid ausgezogen, um das Neugeborene vor der Kälte zu schützen.
Tatsächlich finden wir vor allem in bestimmten rheinischen Traditionen dieses Motiv, bei dem sich Josef von Teilen seiner Beinkleidung trennt, um das Neugeborene besser auszustatten und vor der Kälte zu schützen. Die Web Gallery of Art schreibt dazu:
Was wir hier finden, ist die Geschichte von ‚Josephs Strümpfen‘. Der Vater Jesu sitzt am unteren Rand des Panels und schneidet eine seiner Leggings auf. Bestimmte … Weihnachtslieder erzählen, dass das Christ-Kind in Stoff aus dieser Unterwäsche gewickelt wurde. Aachens Kathedrale besaß einst als Relikt „Josephs Strümpfe“, die um 1400 Gegenstand intensiver Verehrung waren.
Träfe das zu, wäre auch der frierende Josef mit den Handschuhen aus der von mir betrachteten Tafel des Jahres 1437 zumindest unter seinem Mantel ohne Hose, eine Vorstellung nicht ohne Ironie. Wenn aber bereits 1400 und früher das frierende Christuskind ein Thema der Kunst war, kann es sich nicht auf die klimatischen Veränderungen im 15. Jahrhundert beziehen, sondern ordnet sich in eine kunstgeschichtliche Tradition ein. 1385, so lerne ich, schreibt ein sog. Werner der Schweizer in seinem Marienleben:
„Maria wand ir kindelin / in aerm klainu tüchelin, / Die man noch lat ze Ache sechen: / Ich warn und han es horen jechen. / Das su mit rechten maeren / Josephes hossen waeren / Zwai graewu tuchelu da sint. / Siner windelin, die man da vint.“
Die im vorherigen Beitrag betrachteten Menschen blicken u.a. auf diese Figur des hl. Josef, der hier in einer etwas ungewohnten Kleidung gezeigt wird. Dass er ein alter Mann ist, überrascht nicht, wohl aber die Fäustlinge, die er trägt. Das ist für Darstellungen seiner Person eher ungewöhnlich. Und so kann man sich fragen: wozu dienen die Fäustlinge? Heutzutage nutzen wir Handschuhe eher in der kalten Jahreszeit, um die Finger warmzuhalten. In früheren Zeiten allerdings waren Handschuhe auch ein Statussymbol, wie wir aus Porträtdarstellungen von Begüterten erkennen können, die die Handschuhe demonstrativ in der Hand halten. Aus dem Bilddetail selbst lässt sich nicht erschließen, weshalb Josef die Handschuhe trägt.
Man hat spekuliert, dass es eine Reaktion auf eine in der Mitte des 15. Jahrhunderts einsätzende Kältewelle in Europa sein könnte. Das ist möglich, überzeugt mich aber nicht richtig. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es hier entweder um Arbeitshandschuhe des Zimmermanns Josef geht oder auch um Statussymbole.
Ich „lese“ gerade ein Detail eines Bildes aus dem Jahr 1437. Was kann man aus einem derartigen Detail erkennen, welche Rückschlüsse kann man auf Einstellungen, Haltungen, Vor-Urteile, Ethnien, gesellschaftliche Stände usw. ziehen? Natürlich lebt vieles von den Vorerwartungen der Betrachter:innen, von ihren Vor-Urteilen und Urteilen gegenüber Bildern des Mittelalters und der Haltung der Menschen, die darin gespiegelt werden.
Zumindest kann man am Anfang vielleicht so viel sagen: es sind sehr unterschiedliche Leute, die hier in ganz verschiedenen Formen einen Blick auf ein Ereignis werfen, das uns im Augenblick noch verborgen ist. Zudem kann man anhand der dominanten Farben die Gruppe in zwei Hälften teilen.
Die linke, hell gekleidete Gruppe scheint vorwiegend aus Frauen zu bestehen, die, blickt man auf ihre Kleidung, wohl nicht den untersten Schichten der Bevölkerung angehören. Ihr Teint ist bei drei Figuren ostentativ weiß, bei einer Figur ist die Haut dunkel gegerbt. Betont wird durch die gefalteten Hände die Frömmigkeit der Betrachterinnen.
Die rechte, dunkler gekleidete Gruppe kann selbst noch einmal in zwei unterschiedliche Parteien aufgeteilt werden. Die beiden vorderen Figuren scheinen ebenfalls nicht einfache Arbeiter zu sein, sondern weisen sich durch ihre Kleidung als bessergestellt aus. Auffällig ist die rechte Figur, die etwas aus der Gruppe herausfällt, weil sie die anderen mit ausgestreckter Hand auf ein Geschehen hinweist, das wir noch nicht sehen.
Die hintere Reihe der rechten Gruppe ist – so kann man wohl doch sagen – derb gezeichnet. Es sind einfache Menschen mit unterschiedlichen Teints, deren Blicke sich nur bedingt auf das angezeigte Geschehen richten.
Offenkundig haben wir es hier mit Mitgliedern einer Klassengesellschaft zu tun, die einem uns unbekannten Geschehen beiwohnen. Sie sind vom eigentlichen Ereignis durch eine Holzwand abgetrennt, die vielleicht sogar die gesamte Gruppe in Frauen und Männer aufteilt. Sie sind in Erwartung – aber viel mehr lässt sich noch nicht sagen – außer vielleicht, dass es auch ethnisch eine buntgemischte Gruppe ist, wenn man den dunklen Teint einiger Figuren nicht auf die Sonneneinstrahlung zurückführt.
Alles Weitere lässt sich erst sagen, wenn wir wissen, was rechts von diesem Bilddetail passiert.
Der Pariser Louvre zeigt eine faszinierende Ausstellung zum Thema „Stillleben“. Unter den Exponaten findet sich auch ein Kunstwerk der hugenottischen Malerin Luise Moillon.
Die von Laurence Bertrand Dorléac kuratierte Ausstellung Things schlägt eine neue Sichtweise auf ein Genre vor, das lange Zeit als untergeordnetes Genre angesehen wurde, dessen Name – „Stillleben“ – an sich schon faszinierend ist. Darstellungen von Dingen, die bis in prähistorische Zeiten zurückreichen, sind ein wunderbares Fenster in die Geschichte. Künstler waren die ersten, die die Dinge ernst nahmen, indem sie ihre Präsenz erkannten, sie mit Leben erfüllten, ihre Formen und Bedeutungen, ihre Kraft und ihren Charme verherrlichten. Sie haben die Fähigkeit von Objekten eingefangen, unsere Vorstellungskraft zu beflügeln – uns glauben, zweifeln, träumen oder handeln zu lassen. Die Ausstellung greift das Stillleben-Genre aus der Perspektive des andauernden Dialogs zwischen vergangenen und gegenwärtigen Künstlern auf. Es wirft ein neues Licht auf unsere Verbundenheit mit materiellen Dingen und deckt die Kunstgeschichte von prähistorischen Äxten bis zu Chardin, Manet und den Readymades von Marcel Duchamp ab.
Unter den gezeigten Artefakten ist nun auch eine Arbeit von Luise Moillon (1610-1696), die zu den berühmtesten französischen Stillleben-Malerinnen des 17. Jahrhunderts zählt und aus einer Familie hugenottischer Maler stammt.