Taylor Swift erbricht sich …

Anlässlich von Taylor Swifts Erbrechen im Clip zu „Anti-Hero“ frage ich: gibt es für so etwas kunstgeschichtliche Vorbilder?

… und alle schauen hin. Wer hätte das gedacht – das Erbrechen als Show-Akt. Gerade ist Taylor Swifts Musikvideo zu ihrem neuen Stück „Ant-Hero“ erschienen und die Fans sind amüsiert-schckiert.

Taylor Swift – Anti-Hero

Als kunsthistorisch interessierter Mensch möchte ich nun weniger über die sicher beeindruckende intertextuelle Verwobenheit ihres Textes zu ihrem bisherigen Oeuvre wissen (das interessiert vor allem die Fans), als vielmehr die Bezüge zur kunstgeschichtlichen Tradition. Gibt es eine Kunstgeschichte des Erbrechens habe ich mich gefragt.

Und tatsächlich werde ich im Amsterdamer Rijksmuseum fündig. Die ersten Grafiken zum Thema „Erbrechen“ beginnen dort um das Jahr 1524. Als ich sie gesehen habe, war ich froh, dass Taylor Swift sich in ihrem Clip auf das Erbrechen beschränkt hat. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit waren da weniger zimperlich (hier eine Zusammenstellung in meinem Rijks-Studio). Zumindest habe ich dabei ein Bild gefunden, das der Szene bei Swift ähnlich ist. Es ist von Jan van Velde II. (1593-1641) und stammt aus dem Jahr 1633.

Der erbrechende Bettler

Bei Talor Swift sieht der gleiche Vorgang etwas dezenter und weniger direkt aus, aber unangenehm fürs Ego, wenn man sich selbst ankotzt:

Taylor Swift kotzt Taylor Swift auf den Schoß

Fundstück aus der aktuellen Arbeit V

Eine Szene, die den armen Lazarus zusammen mit einem schwarzen Bedienten in der Armenküche eines Klosters zeigt.

Lazarus und ein Kammermohr in der Klosterküche

IIn einem Bild von Joseph Danhauser, das als Gegenstück zu seinem Werk zum Thema „Armer Lazarus“ entworfen wurde, sieht man Lazarus zusammen mit einem Kammermohr (siehe Fundstück I) in der Armenküche eines Klosters. Es findet sozusagen eine Verbrüderung zwischen dem schwarzen Bedienten und Lazarus statt. Da Lazarus einer der wenigen Menschen ist, der jetzt schon im Paradies ist, ist diese Gleichstellung mit dem Kammermohr bemerkenswert.

Die Klostersuppe von Joseph Danhauser

Aber heutigen Betrachtern würde es schwerfallen, in dem Bild überhaupt eine Variante der Geschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus zu erkennen. Ohne Hilfestellungen und direkte Hinweise funktioniert das nicht mehr. Zumal der Künstler das Bild angereichert hat und es offenbar mit anderen biblischen Texten vermischt hat. Ich meine, Anspielungen auf die Fußwaschung nach dem Johannes-Evangelium erkennen zu können und darüber hinaus auch konkrete Anspielungen auf das Mahl der Emmaus-Jünger mit Jesus nach der Auferstehung (Da wurden ihnen die Augen aufgetan). Und schließlich findet sich im Hintergrund – einem Kreuzgang eines Klosters – eine Anspielung auf Jesu Weltgerichtsrede, denn hinter dem Paar mit dem reichen Prasser sehen wir einen Opferstock, der in der Kirche traditionell der Geldsammlung für die Armenspeisung dient. Also ein überaus dicht codiertes Bild.

Fundstück aus der aktuellen Arbeit IV

Günther Anderes vergleicht den Status der Kunst mit dem Verhältnis von Schmetterling und Raupe

Zum Verhältnis von Schmetterlingen zu Raupen. Eine Idee von Günther anders

Günther Anders macht sich 1954 vor einem Besuch der nord- und mittelitalienischen Kunststädte Gedanken darüber, was Kunst eigentlich für die Menschen bedeutet und in welchem Verhältnis sie zur Geschichte steht. Dabei nutzt er eine interessante Metapher, die von der Raupe, die davon befreit wurde, Schmetterling zu werden.

Es sei „wie die Geschlechterfolge jener isländischen Schmetterlinge, denen es nur in seltensten Fällen erlaubt ist, wirklich Schmetterlinge zu werden, weil sie, gehetzt durch die Kürze des Sommers, schon als Raupen gezwungen waren, Reproduktionsfähigkeit zu
entwickeln, sodass sie sich nun als Geschlechterfolge von Raupen entwickeln, die von ihren «Überraupen» = dem Schmetterlingsdasein vielleicht gar nichts mehr wissen. Geschieht es nun aber, dass eine dieser Raupen durch eine besondere Gunst doch das Schmetterlingsdasein erreicht, dann steht sie «quer zur Geschichte» der Raupen.

Und er fährt fort:

„Einerseits ist der Schmetterling allen Raupen voraus, da er das erreicht hat, was sie «noch nicht» sind; andererseits aber ist er, da er einer Raupengeneration angehört hatte, die bereits weitergezeugt hat, überholt durch ein neues Raupengeschlecht. Dieses Zugleich von
«voraus» und «überholt» scheint auf den ersten Blick etwas höchst Sonderbares; nirgends finden wir die Erscheinung beschrieben. Aber in Wirklichkeit ist uns das Phänomen durchaus vertraut. Und zwar eben durch die großen Kunstwerke. Denn sie sind das, was «quersteht» in unserer Geschichte.“

Das finde ich einen interessanten Gedanken, eine übrigens von Günther Anders eigens erfundene Metapher, denn den isländischen Schmetterling gibt es wohl gar nicht, aber als Metapher gibt sie eine sich zunehmend durchsetzende Entwicklung wieder, die Einstellung, dass wir der Kunst nicht (mehr) bedürfen.

Fundstück aus der aktuellen Arbeit III

Frau in einem Gebetbuch blätternd zwischen Alltag, Glaube und Ewigkeit.

Frau in einem Gebetbuch blätternd zwischen Alltag, Glaube und Ewigkeit.
Frau in einem Gebetbuch blätternd zwischen Alltag, Glaube und Ewigkeit.(1514)

Das Bilddetail stammt aus einem Kunstwerk vom beginnenden 16. Jahrhundert, in dem ein Geldwechsler bei der Arbeit gezeigt wird. Hier sehen wir die fromme Frau des Geldwechslers, die versucht, die Arbeit ihres Mannes mit den Bestimmungen des Glaubens in Übereinstimmung zu bringen. Aber auch in ihre eigene Welt der Religion dringt der Alltag bereits ein: rechts hinter ihr der Lärm der Straße, links vor ihr der Hohlspiegel, der ein Zimmerfenster mit Ausblick spiegelt.

Fundstück aus der aktuellen Arbeit II

Detail eines Bildes aus dem Jahr 1599, auf dem eine Frau ihre Altersarmut beweint.

Detail eines Bildes aus dem Jahr 1599, auf dem eine Frau ihre Altersarmut beweint.
Altersarmut

Das Bilddetail stammt aus einem Kunstwerk, das die Altersarmut eines Ehepaares thematisiert und zugleich zeigt, wie die begüterten Kinder sich weigern, ihre Eltern zu unterstützen. Wenn man sich das Detail genau anschaut, dann ist die alte betrübte Frau derartig geschwächt, dass sie ihren linken Arm, dessen Hand die Tränen wegwischt, mit der rechten Hand stützen muss.

Altersarmut spielt durch die Geschichte der Menschheit hindurch eine wichtige rolle für die Ethik, die eine Horde, eine Gruppe oder eine Gesellschaft entwickelt. Im biblischen Gebot, das wir wahrscheinlich in der Formulierung „Du sollst Vater und Mutter ehren“ gelernt habe, spielt in der ursprünglichen Formulierung die Altersarmut eine zentrale Rolle. Anders als es das bürgerliche 19. Jahrhundert mit seinem verschnöselten Begriff der Ehre meinte, geht es gar nicht um „Ehre“, sondern um „kabod“, Schwere und Gewichtigkeit. Salopp könnte man formulieren: „Du sollst Vater und Mutter fetthalten“. Das war in Zeiten, in denen es keine Sozialgesetzgebung gab, ein zentrales ethisches Moment. Die Eltern, die weder durch Jagd noch Verdienst sich noch ernähren konnten, nicht verhungern zu lassen. Früher war das intuitiv einsichtig, heute, genauer seit 1980 wird es als Abstraktum gesellschaftspolitisch unter dem Stichwort „Altersarmut“ diskutiert:

Nutzung des Wortes altersarmut seit 1945
Nutzung des Wortes „Altersarmut“ seit 1945

Fundstück aus der aktuellen Arbeit I

Detail eines Bildes aus dem Jahr 1836 zum Thema Reicher Prasser – Armer Lazarus, bei dem im Hintergrund ein sog. Kammermohr platziert wurde.

Detail eines Bildes aus dem Jahr 1836 zum Thema Reicher Prasser - Armer Lazarus, bei dem im Hintergrund ein sog. Kammermohr platziert wurde.
Der sog. Kammermohr

Das ist ein Detail aus einem Biedermeierbild, das eigentlich die Geschichte vom armen Lazarus und dem reichen Prasser zum Thema hat. Ich beschäftige mich im Augenblick damit, weil es um die Frage geht, wie Reichtum heute visuell zum Ausdruck kommt. Dabei war ein Bild vorgegeben, bei dem das nebenstehende Detail fast unsichtbar das rahmende Geschehen abbildete. Im Zentrum des Bildes fand man dagegen die biblische Geschichte des armen Lazarus, die in das 19. Jahrhundert verlegt wurde. Das Ende der Geschichte (Lazarus im Himmel und der Prasser in der Hölle) wurde auf diesem Bild nicht dargestellt – dafür gab es dann ein anderes Bild, ein Gegenstück.

Am linken Bildrand fügt der Künstler also das rechte Bilddetail ein, das sich aus der Zeitgeschichte erklärt (Kammermohren waren seit dem 18. Jahrhundert bei den Herrschenden beliebt), aber heute angesichts der Debatten über Kolonialismus und europäischen Reichtum einen anderen Fokus bekommt. Wer generiert den Reichtum des Reichen? Über den Kammermohr lerne ich dabei bei der wikipedia:

Der prächtig ausstaffierte und livrierte Kammermohr diente Herrschern, kirchlichen Würdenträgern oder wohlhabenden Kaufleuten als exotisches Prestigeobjekt und Statussymbol. Er sollte den Reichtum und Luxus des eigenen Hauses zur Schau stellen und fungierte darüber hinaus in vielen Fällen als Gesellschafter oder Privatlehrer. Vor allem versinnbildlichte der Kammerdiener aber die weltweiten Fernhandels- und Machtbeziehungen seines Eigentümers. Offiziell kannte das Heilige Römische Reich den Rechtsstatus des Sklaven nicht, weshalb der Historiker Michael Zeuske die Kammermohren als „Sklaven ohne Sklaverei“ bezeichnet.

Und das wird dann auf dem Bild dargestellt und ruft bei mir Assoziationen zu Thorstein Veblens „Theorie der müßigen klasse“ oder auch Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ hervor: Individueller Reichtum artikuliert sich als ostentative Geste auf Kosten der Ausgebeuteten und Unterdrückten.