ESC ist positive Kulturpolitik

Das Televoting zum ESC gibt ein ermutigendes Zeichen in Sachen Solidarität mit Israel.

https://eurovisionworld.com/eurovision/2024#switzerland

Der Eurovision Song Contest betont immer, er sei eine unpolitische Veranstaltung. Das muss er wohl auch, um nicht zur politischen Propaganda-Plattform zu werden. Dennoch ist er natürlich durch und durch politisch. Weniger in dem, was die Gruppen singen, sondern in dem, wie die Menschen europa- und inzwischen ja auch weltweit abstimmen. Das wurde dieses Mal besonders deutlich. Während alle auf die Schreihälse vor und in der Konzerthalle starrten, stimmte die europäische Bevölkerung ab – und das ziemlich eindeutig. Gehen wir einmal davon aus, dass der israelische Beitrag für alle erkennbar nicht der beste und auch nicht der zweit- oder drittbeste war, dann kann das Abstimmungsverhalten der europäischen Bevölkerung nur als eindrückliches kulturpolitisches Zeichen gelesen werden. Was immer Grata Thunberg und ihre propalästinensischen Mitstreiter:innen vorab und parallel agitiert haben, die europäische Bevölkerung, soweit sie überhaupt am ESC interessiert war, hat das nicht gekümmert. Sie wollten ein Zeichen der Solidarität mit Israel geben. Während die deutsche Publizistik und diverse Lobbyist:innen beredt über den grassierenden Antisemitismus klagten, griffen die Menschen in Europa zum Telefonhörer und setzten ein kulturpolitisches Zeichen.

  • 15 nationale Televotings setzen Israel auf Platz 1
    (Australien, Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien und der sog. Rest der Welt).
  • 7 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 2
    (Albanien, Irland, Moldavia, Österreich, Slowenien, Tschechien, Zypern).
  • 3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 3
    (Dänemark, Georgien, Island)
  • 3 nationale Televotings setzten Israel auf Platz 4
    (Aserbaidschan, Griechenland, Lettland).

Damit haben 28 von 37 nationalen Televotings Israel aus kulturpolitischen Gründen hervorgehoben (wenn man davon ausgeht, dass Platz 5 eine angemessene Wertung wäre). Das ist ein eindrucksvolles Zeichen der Solidarität. Und die, so vermute ich, bezog sich weniger auf den Nahost-Konflikt selbst, sondern vor allem auf die unangemessenen Versuche von Aktivist:innen, Israel und Jüd:innen aus der Kultur auszuschließen. Dagegen wollte man protestieren und ein Zeichen setzen. Die Solidarität, unter den Künstler:innen des ESC nicht wirklich funktionierte (das Verhalten Griechenlands und der Niederlande während der Pressekonferenz war unsäglich), wurde stattdessen von den Menschen in Europa durch ihre Abstimmungen zum Ausdruck gebracht. Dass Jury und Publikum aus der Ukraine und aus Kroatien jeweils 0 Punkte gaben, dürfte eher aus taktischen Gründen geschuldet sein, um einen Mitkonkurrenten zu begrenzen. Israel dagegen hat alle unmittelbaren Konkurrenten bedacht. Dass Israel bei seinem Voting die einzige weitere Jüdin im Wettbewerb bevorzugt (24 Punkte für Luxemburg), kann man nachvollziehen.

Was mir aber wichtig ist, dass den Menschen europaweit der Boykott-Aktivismus a la BDS und Thunberg zunehmend auf den Keks geht. Sie setzen der kulturpolitischen Ausgrenzung ein kulturpolitisches Zeichen entgegen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn derartige Wettbewerbe ganz frei von solchen Auseinandersetzungen wären, aber seien wir ehrlich: Der ESC ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein kulturelles Kampffeld – für Diversität, Queerness, für ein liberales und offenes Europa. Jene aber, die Kultur als ein rein politisches und national-politisches Kampffeld begreifen, sind dieses Mal krachend gescheitert, kaum jemand in Europa wollte ihnen folgen, selbst in jenen Ländern nicht, wo die größten Communitys der Palästinenser in Europa sind: Frankreich (mehr als 100.000), Schweden (bis zu 75.000), Großbritannien und Deutschland (offiziell 8000, geschätzt 175.000 bis 225.000) gaben im Televoting jeweils 12 Punkte für Israel.

Wäre ich pro-palästinensischer Aktivist, würde mir das zu denken geben. Offenbar ist die aktuelle Form des Aktivismus völlig kontraproduktiv, es stärkt die Seite, die man doch kritisieren will. Ich vermute, dass sich auch jenseits der kulturpolitischen Kampffelder dieser Effekt einstellt, also etwa im Blick auf die Universitäten und andere gesellschaftliche Bereiche.

Für die pro-israelisch Engagierten gäbe es dagegen Anlass zu viel mehr Gelassenheit und Souveränität. Man agiert aus einer Situation, in der ein Großteil der europäischen Bevölkerung hinter einem steht und dort Zeichen setzt, wo die liberale Kultur bedroht ist. Das spricht dafür, weniger auf kulturpolitische Begrenzungen und Vorgaben zu setzen, sondern den Rezipient:innen in Europa zuzutrauen, selbst Stellung zu beziehen. Das ist immerhin ein ermutigendes Zeichen.

P.S. Wie ich gerade sehe, geht der Kommentar von Jan Feddersen in der taz in dieselbe Richtung: Volksabstimmung pro Israel.

Die Grenzen der oralen Kultur

Die Flucht aus der Schriftkultur in die angeblich authentischere orale Kultur ist zum Scheitern verurteilt.

Das Lob der präsentischen oralen Kultur gegenüber der angeblich vergangenheitsbesessenen Schriftkultur lebt davon, dass man heute gar nicht mehr in die Situation geraten kann, in einer primär oralen Kultur leben zu müssen – von extrem seltenen Ausnahmen abgesehen. Selbst die ostentative Kritik an der Schriftkultur kann man schließlich nur in der Schriftkultur entfalten – wodurch quasi ein performativer Selbstwiderspruch entsteht.

Man möchte auch keinem heutigen Menschen ein Leben in einer bloß oralen Kultur wünschen. Zum einen sind auch orale Kulturen, anders als manche es sich erträumen, durchaus machtbestimmte Kulturen. Wer welche Sprecher-Rolle übernimmt und übernehmen darf, ist geregelt und in Machtstrukturen zum Erhalt der Gruppe (oder Horde) eingebettet. Klaus Wolschner schreibt auf seinen Seiten zur „Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft“ über die orale Kultur:

Wer reden darf und kann, hat Macht und macht die Umstehenden zu Zuhörern. In oralen Gesellschaften ist machtpolitisch geregelt, wer die gemeinsamen Wahrheiten zur Sprache bringen kann und damit Gemeinschaft stiftet und festigt. Wissen in oralen Kulturen wird verkörpert, erhält seine Autorität durch die Person, die es ausspricht. Wahrheit ist gebunden an den Redner. Das irritierte Platon an der Schriftkultur: Wie kann es Weisheit ohne den Weisen geben, der dafür bürgt und Nachfragen im Dialog erläutern kann?

Verstehen können wir als Eingeborene einer Schriftkultur das Funktionieren einer oralen Kultur gar nicht (mehr), sie ist uns geradezu wesensfremd geworden. Der exemplarisch gemeinte Verweis auf eine präsentische(re) orale Theaterkultur gegenüber einer sich in den alten Texten erschöpfenden bzw. an ihnen abarbeitenden Theaterkultur führt da durchaus in die Irre. Denn ohne Schrift gäbe es kein Theater. Wenn überhaupt etwas von der Schrift abhängig ist, dann das Theater. Wir haben keine Hinweise auf eine Kultur des Theaters in den Zeiten, die noch keine Schrift kannten. Die ältesten Belege für eine Theaterkultur führen uns nach Ägypten in die Zeit vor etwa 4000 Jahren, also in eine Zeit, die schon 5000 Jahre von der Schriftkultur geprägt worden war.

Man kann sich natürlich mit Hilfe von ethnologischen Beschreibungen (etwa der Pirahã-Kultur) die Zeit vor der Schriftkultur schönreden – leben wollte da kaum jemand, der heute lebt und zum Beispiel auf zeitzeichen.net schreibt, nicht einmal für 14 Tage im Exotik-Urlaub.

Wobei schon das Wort „Zeitzeichen“ für eine orale Kultur schlicht unverständlich wäre (freilich wissen auch nur noch die wenigsten Angehörigen der heutigen Schriftkultur, was Zeitzeichen sind, können es aber immerhin nachschlagen: „beim nächsten Ton des Zeitzeichens ist es …“).

Das Denken und die Vorstellungen von Gemeinschaft werden von der oralen Kultur beeinflusst:

Was gesagt und was gedacht wird, drückt weniger Subjektives als Exemplarisches aus. Ein „Ich“ in einer oralen Kultur sieht sich in dem Bezug zu der Gruppe, als Teil eines kollektiven Wir. Jedes Reden ist auf das Kollektiv bezogen, abweichendes, originelles Reden stellt das Gemeinsame in Frage. Da gibt es kein „Ich“ mit einer komplexen individualpsychologischen Selbst-Wahrnehmung. Das situative Denken kann kein „Ich“ aus der umgebenden Welt und ihrer kommunikativen Dynamik herauslösen. Es gibt keine abstrakte, über alle Ereignisse konstante Persönlichkeits-Struktur, der einzelne Mensch ist nur Teil der Situation. [Klaus Wolschner]

All das ist für Eingeborene der heutigen Gesellschaften kaum erträglich. Man kann, wie das viele im Gefolge von Claude Lévi-Strauss getan haben, von Traumzeiten träumen, von der Flucht in schriftlose und scheinbar freiere Gesellschaften. Aber das ist bloß ein eskapistischer Traum, den sich nur Privilegierte leisten können, nicht aber jene, die kaum über die Runden kommen. Selbst die moderate Kritik an der Schriftkultur in Richtung einer verstärkten Berücksichtigung oraler Strukturen stößt schnell an ihre Grenzen. Natürlich kann man sagen:

Ich schlage einen anderen Weg vor, und zwar dass wir uns die ambivalenten Dynamiken von Schriftlichkeit bewusst machen und ihren negativen Aspekten entgegenarbeiten. Dass wir also neue Narrative setzen und uns aktiv darum bemühen, in eigenen Worten über Erfahrungen und Werte zu sprechen, ohne immer und immer wieder auf den abendländischen Kanon zurückzukommen.

Ich glaube jedoch nicht, dass dies ein sinnvoller Vorschlag ist. Er verkennt die Voraussetzungen unserer Kultur. Man meint, „jeder habe das Recht, seine eigene Lebensweise zu gestalten und sich dabei auf sein eigenes Gefühl für das wirklich Wichtige oder Wertvolle zu stützen“. Dann bleibt aber nur noch die Orientierung am unmittelbar und subjektiv Wahrgenommenen, ohne dass man sich über den „unentrinnbaren Horizont“ der Wahl klar würde. Das funktioniert so nicht. Der Philosoph Charles Taylor schreibt in „Das Unbehagen an der Moderne“: wollte ich …

„die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und über­haupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist. Die Authentizität ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forderungen voraus“

Letztlich geht es darum, „‘wer’ wir sind und ‘woher wir kommen’ … Sobald wir begreifen, was es heißt, sich selbst zu definieren und zu bestimmen, worin die eigene Originalität besteht, erkennen wir, dass wir ein Gefühl für das, was Bedeutung hat, im Hintergrund voraussetzen müssen.“ Und dazu gehört notwendig die Schriftkultur.