Der Feind, die Werte und das Unwerte

Ist es wirklich angebracht, die theologischen Gegner:innen als Feinde zu bezeichnen und ihre Ansichten als „unwert“, überhaupt erörtert zu werden? Eine Gegenrede.

Gleich zweimal musste ich letzte Woche bei der Lektüre theologischer bzw. religiöser Texte schlucken, weil mir die Wahl der Worte und der vorausgesetzten Konstellationen suspekt war. Beide Texte hatten sich ein Feindbild auserkoren – den Fundamentalismus – und setzten sich davon in unterschiedlicher, aber jedes Mal befremdlicher Weise ab.

Der erste Text lässt gleich schon im Titel erkennen, worum es ihm geht: „Der offene Protestantismus und seine Feinde“. Das lässt an Klarheit kaum zu wünschen übrig. Der offene Protestantismus sieht sich von Feinden umzingelt, und unter ihnen ist der Fundamentalismus der bedeutendste. Wer sonst keine Sorgen hat, kreiert sich welche mit Hilfe der Sprache. Und man sprach: Es werde Feind. Schon Carl Schmitt lehrte, wie wichtig die Identitätsbildung durch Feindeserklärung ist. Hätte man keine Feinde, wäre man buchstäblich nichts: Tohuwabohu. Viel Feind, viel Ehr‘ muss sich Eberhard Pausch gedacht haben und benennt dunkel raunend neben den fundamentalistischen Feinden auch noch vier weitere Feinde, die er aber nicht weiter beschreibt, damit jeder sich die gewünschten Adressat:innen selbst ausdenken kann:

Vor diesem Hintergrund lassen sich die „Feinde“ des offenen Protestantismus klar identifizieren, die somit Formen und Ausdrucksweisen des geschlossenen Protestantismus sind: Es sind dies der ausgrenzende beziehungsweise rein selbstbezügliche Protestantismus, der autoritär-hierarchische (episkopale) Protestantismus, der ideologisch vereinnahmte Protestantismus, der dogmatistische Protestantismus und der fundamentalistische Protestantismus. Unter den fünf Formen des geschlossenen Protestantismus in der Gegenwart stellt der Fundamentalismus die größte und bedrückendste Herausforderung dar

Feind ist, so könnte man sagen, wer nicht liberaler Protestant ist. So illiberal ist mir persönlich der liberale Protestantismus immer schon erschienen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. So einfach kann die Welt sein. Und die so als Feinde deklarierten sind umfassender als es ihre nebulöse Beschreibung ahnen lässt. Denn nicht der evangelikale Fundamentalismus ist zumindest in Deutschland die größte der so skizzierten Gruppen, sondern jene Gemeindemitglieder aller Schattierungen, die an der Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi festhalten wollen. Wer aber Jesus als wahren Gott verkündet – liberales Anathema! Wer an Jesu leibliche Auferstehung glaubt – liberales Anathema! Wer an das Jüngste Gericht glaubt – liberales Anathema! So viele Häresie-Erklärungen waren seit den Zeiten der frühen Kirche selten zu vernehmen. Man ist offen für alles, was kommt, aber nicht für das Überlieferte. Kann man machen, bleibt eben kaum jemand von der Kerngemeinde übrig. Aber die interessiert den liberalen Protestantismus auch nicht. Ich wollte dieser illiberalen Bewegung nicht zugehören und zähle deshalb zu den von ihr als Feind erklärten Gruppen. Vermute ich jedenfalls, denn allen nicht zum Fundamentalismus gehörenden Feinden des offenen Protestantismus wird ja eine genauere Erläuterung verweigert. Als Differenztheoretiker fühle ich mich unwohl in einer Gesellschaft, die auf Konformität drängt und das als liberal versteht. Da fühle ich mich wohler in einer Gesellschaft Dissenter, die ihre Nonkonformität bekennen, und im offenen Austausch und Bekenntnis die Lösung sehen.

Das zweite Beispiel, das mich entsetzte, war eine – wie ich finde flapsige – Nebenbemerkung in einem Kommentar zu den kritischen Reaktionen auf die neu erschienene Alle-Kinder-Bibel. Nun waren diese kritischen Reaktionen erwartbar, man hatte ja geradezu darauf gesetzt, dass es so etwas geben würde und war zuvor landauf und landab gezogen und hatte verkündet, dass Jesus überhaupt nicht weiß war und deshalb, wenn schon nicht die Bibel, so doch deren Visualisierung geändert werden müsse. Ich hatte früher schon geschrieben, dass derlei Thesen leicht aufzustellen und schwer zu belegen sind, weil wir schlicht nicht wissen, wie sich die Gene Gottes im Rahmen des Zeugungsaktes auf die Hautfarbe Jesu auswirken und welche programmatische Bedeutung das hat. Wenn aber nicht Gott, sondern Josef oder – wie andere Überlieferungen behaupten – ein römischer Soldat an der Zeugung beteiligt war, wie qualifizieren wir das? Also, Rückfragen an die neue Alle-Kinder-Bibel waren erwartbar und auch gewünscht, nicht zuletzt, um ihr eine größere Verbreitung zu ermöglichen. Die Bibel in gerechter Sprache verdankt ja auch einen gewissen Teil ihres Erfolges dem vehementen und überaus polemischen Widerspruch ihrer Gegner. Streit belebt das Geschäft. Wie aber geht man mit dem Widerspruch um? Ich erinnere daran, wie die Autor:innen der Bibel in gerechter Sprache wieder und wieder und geradezu skrupulös auf die Argumente ihrer Kritiker:innen eingegangen sind. Jürgen Ebach wurde nicht müde, immer wieder bestimmte Entscheidungen zu begründen und zu erläutern. Darin war die Bibel in gerechter Sprache vorbildlich. Das scheint mir nun im vorliegenden Fall anders zu verlaufen. Carlotta Israel jedenfalls schreibt in der Eule:

Manche Kritik ist überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen, weil sie erkennbar darauf beruht, den Bibeltext (welchen?!) als unveränderbar hinzustellen. Die „Alle-Kinder-Bibel“ versündige sich am Wort G*ttes, erklären solche Kritiker*innen.

Nein, das erklären sie nicht, weil sie schon die Schreibung G*tt ablehnen würden, und ja, es gibt Menschen, die daran festhalten, dass die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist. Und das nicht nur in der Christenheit, sondern zum Beispiel auch im orthodoxen Judentum: „Die ganze Tora gilt im orthodoxen Judentum als maßgebendes Wort Gottes, das aber in der Zeit in seiner Auslegung entwickelt und zunehmend entfaltet wird.“ Sie halten die Bibel für deutungsbedürftig und deutungsfähig, aber dennoch für Gottes Wort. Sie meinen, dass da, wo die Bibel von Adam und Eva spricht, nicht einfach stattdessen eine ganze diverse Menschengruppe eingesetzt werden kann, weil es dem Sinn der Erzählung zuwiderläuft. Sie verlangen eine Orientierung an der gegebenen und überlieferten Schrift, auch wenn sie davon ausgehen, dass deren Sinn erst nach und nach und wieder und wieder entfaltet wird. Demgegenüber zu erklären, diese fundamentale Kritik „sei es überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen“ ist schon starker Tobak. Ist das neuer protestantischer Stil, die gegnerischen Positionen für der Erörterung „unwert“ zu erklären? Man muss die Haltung der Fundamentalisten ja nicht teilen, aber man sollte sie respektieren und ihre Anfragen beantworten und ihnen gegebenenfalls widersprechen. Diese neue Form des Kastenwesens, bei der es reicht, etwas als fundamentalistisch zu etikettieren und damit unberührbar und der Kritik unwert zu machen, ist abscheulich. Für mich erscheint das als Teil von jener Macht, die stets das Gute will und dabei doch das Böse schafft.

Whataboutism oder Theo-Profs und Studi-Massen

Was ist „Whataboutism“ und warum gibt es keine Ordinarien-Herrlichkeit mehr?

Wer ein klassisches Beispiel für „Whataboutism“ studieren will, kann dies an einem Debattenbeitrag auf z(w)eitzeichen. Da geht es um die Energiepauschale für Studierende an bundesdeutschen Universitäten, die immer noch nicht ausbezahlt ist. Das ist kritikwürdig und wer sich da ein stärkeres Engagement wünscht, der kann eine Petition aufsetzen und andere zur Unterschrift auffordern. Whataboutism wäre es, wenn ich dem entgegen würde: Und was ist mit all den Obdachlosen? Darum geht es hier aber nicht. Stattdessen wird im Text kritisiert, dass „sich so mancher männliche Ordinarius bemüßigt [fühlt], sein theologisches Fachwissen in die öffentliche Debatte einzuspeisen“. Ich wusste noch gar nicht, dass das kritikwürdig ist. Dafür gibt es doch die Universitäten, damit die dort Forschenden und Lehrenden ihr Fachwissen erweitern und vermitteln. Man kann den Forschenden und Lehrenden, die sich in theologischer Perspektive etwa zu Umweltfragen äußern, nicht entgegentreten, indem man sie fragt: Und was ist mit der Energiepauschale für die Studierenden? Das ist nun wirklich klassischer Whataboutism.

Und was soll die hämische Fokussierung auf die „männlichen Ordinarien“? Wir haben – von regionalen Ausnahmen abgesehen – seit bald einem halben Jahrhundert keine Ordinarien mehr. Wer heute an Universitäten lehrt, mag Lehrstuhlinhaber sein, aber kein Ordinarius. Wer dennoch auf dieses Wort rekurriert, bedient ein Klischee, das sich unter dem Stichwort „Ordinarien-Herrlichkeit“ fassen lässt. Bereits als ich Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu studieren anfing, gab es die Ordinarien-Herrlichkeit nicht mehr. Warum also diese demonstrative Denunziation einiger Professoren als „männliche Ordinarien“? Es soll den Diskurs ersparen und Ressentiment dort erzeugen, wo Argumente notwendig wären. Dass es um Ressentiments geht, zeigt auch der weitere Text, der wild über narzisstische Kränkungen der Kritisierten fantasiert oder deren angeblichen Bedeutungsverlust spekuliert. Das ist ad-hominem-Polemik. Lustig wird es, wenn dann folgender Satz als Gesinnung der Kritisierten ausgegeben wird:

Wie furchtbar, dass man sich nicht mehr wie in seligen Zeiten von Assistenten den Weg durch die Studi-Massen zum Katheter bahnen lassen kann!

Ich wusste gar nicht, dass Theologieprofessoren auch Medizin lehren. So ein Rechtschreibfehler kann natürlich mal passieren, aber vor der Veröffentlichung lesen doch mehrere Instanzen den Text, warum korrigiert es keiner? Abgesehen davon, dass es etwa in der Ruhr-Universität Bochum, an der einer der Kritisierten forscht und lehrt, schon seit Gründung der Hochschule keine Katheder, sondern allenfalls Pulte gibt. So aber dient die Wortwahl ausschließlich der Herabsetzung des Gegenübers.

Den Studierenden jedenfalls ist mit diesem Text nicht geholfen, allenfalls wird ihnen ein Weltbild vermittelt, dass selbst in heutigen Zeiten Professoren (oder wie es im Text heißt „Theo-Profs“) sich paternalistisch um das Wohlergehen der Studierenden zu kümmern hätten. Da halte ich es doch lieber mit der Internationalen:

Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!

Fehlgeschlagen

Ulrich H. Körtner zur Frage: Warum solidarisiert sich die EKD mit der Letzten Generation?

Auf z(w)eitzeichen finde ich gerade einen lesenwerten Artikel von Ulrich H.J. Körtner zu fatalen Solidarisierung von Vertretern der EKD mit den Aktivisten der „Letzten Generation“.

Körtner, Ulrich H.J. (2022): Die letzte Generation? 2022 solidarisierte sich die EKD-Synode mit Klimaaktivisten. Warum?
Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/10214

Körtner schreibt:

Jesus als geistiger Ahnherr der „Letzten Generation“, der seiner moralischen Pflicht Folge leistete. Das ist Gesetzlichkeit pur. Die neutestamentlichen Schriften stellen Jesus als den dar, der wie kein anderer Mensch in ungebrochener Beziehung und Willenseinheit mit Gott lebt und handelt und der am Ende seines Weges betet: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Den Willen des Vaters tun ist aber nicht mit einer moralischen Pflicht im philosophischen Sinne zu verwechseln. Jesus verkündigt die anbrechende Gottesherrschaft, nicht Moral.

Zwischen den Jahren

Muss sich die Kirche für die inhaftierten Aktivisten der Letzten Generation einsetzen?

Im Augenblick liest man immer wieder, die Vertreter:innen der Ev. Kirche müssten sich für die Inhaftierten der „Letzten Generation“ einsetzen, weil diese für hehre Zwecke illegitim festgehalten würden. Man dürfe die Aktivisten nicht kriminalisieren – sagt die Präses der EKD-Synode. Aber niemand kriminalisiert die Aktivisten, das tun sie schon selbst. Wer permanent und in Absprache Hausfriedensbruch, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und Nötigung begeht, ist kein harmloser Bürger, sondern handelt kriminell – ganz unabhängig von den hehren Zielen des Handelns. Es gibt wirkliche Opfer polizeilicher Willkür, für die man sich einsetzen könnte, bei der „Letzten Generation“ sehe ich das nicht so – sie könnten jederzeit auf ihr Handeln verzichten.

Nun wird darauf verwiesen, dass Jesus sich ja auch dem Zachäus zugewandt habe. Aber die Pointe aller dieser Zuwendungshandlungen Jesu ist immer, dass danach ein Umdenken, eine Metanoia folgt. Sündige hinfort nicht mehr. Das ist hier nicht erkennbar. Und auch Luthers Begegnung mit Michael Kohlhaas endet ja nicht damit, dass Luther sagt, nun kämpfe mal schön weiter, sondern er versucht, Rechtsfrieden herzustellen. Es gibt so viele Aktivisten in Deutschland, die sich unter Einhaltung des Gesellschaftsvertrags für die Bekämpfung des Klimawandels einsetzen, es wäre sinnvoller, diese zu unterstützen.

Die Letzte Generation legt auf die Kirche keinen Wert – die versuchte Sprengung eines Weihnachtsgottesdienstes in Stuttgart ist ein beredtes Indiz dafür. Die Kirchen sind allenfalls „nützliche Idioten“, es gibt keine Kooperation. In der Weihnachtsbotschaft sieht die „Letzte Generation“ ihr Anliegen wohl kaum vertreten. Sie spricht mit den Kirchen nur „Im Interesse der Sache“.

KI: Angriffe auf Kunstwerke unakzeptabel

Die Künstliche Intelligenz sagt einem, dass Angriffe auf Kunstwerke „generally not accetable“ sind.

Ich setze mein Frage-und-Antwort-Spiel von gestern fort und frage den KI-Bot nun, was ist eigentlich wichtiger: Kunst oder Leben? Die Antwort darauf ist erstaunlich differenziert, vor allem, wenn man sich schon an das Schwarz-Weiß-Denken der Letzten Generation gewöhnt hat:

It is impossible to say whether art or life is more important, as the value and significance of each depends on one’s perspective and priorities. For some people, art may be a central and essential part of their life, providing them with a sense of meaning and fulfillment that is unparalleled by other experiences. For others, the basic necessities of life, such as food, shelter, and safety, may be of paramount importance.
     Ultimately, the relative importance of art and life will vary depending on an individual’s circumstances and needs. It is not a question that can be answered definitively, but rather one that each person must answer for themselves based on their own values and experiences.

Das bedeutet aber auch, dass der Angriff auf Kunstwerke eine elementare Attacke auf essentielle Teile der Lebensdeutung von Menschen sind – auch dann, wenn man selbst vielleicht ein ganz anderes Kunstverständnis hat.

Ich schiebe nun die Frage nach, ob es legitim ist, Kunstwerke anzugreifen, um Leben zu retten. Und auch hier erweist sich der KI-Bot als wesentlich differenzierter als die öffentliche Debatte:

It is generally not acceptable to attack works of art, regardless of the reason. Art is a significant part of human culture and history, and it is important to protect and preserve it for future generations.
     However, there may be situations in which the destruction of a work of art is necessary in order to prevent harm to human life. In such cases, the decision to destroy the work of art would need to be carefully considered and justified, and it is likely that it would be a last resort option.
     It is important to remember that there may be other ways to protect human life without causing harm to cultural heritage.

Da hätte man sich ja gewünscht, die Letzte Generation hätte sich vorher bei einer Künstlichen Intelligenz erkundigt, bevor sie die eigene, natürliche in Anschlag gebracht hat.

Ach ja, wer selbst Gespräche mit dem KI-Bot führen will, kann dies nach dieser Anleitung tun. Probieren Sie es einfach aus, es macht Spaß.

Kafkaeskes Stalking

Was produziert eigentlich so ein Celebrity-Leben an CO2-Ausstoß? Und wer stört sich daran?

Heute mal etwas ganz anderes. Gerade finde ich im RSS-Feed eine Meldung einer Tageszeitung, dass sich die Sängerin Taylor Swift um ihre Sicherheit sorgt. Da ich vor kurzem über sie geschrieben habe, frage ich mich interessiert, worum es wohl geht. Und dann bekommt das Ganze kafkaeske Züge.

Es gibt eine Website, die sorgfältig notiert, wie viel CO² unsere Prominenten mit ihren Privatjets verbrauchen und so unsere Umwelt nachhaltig zerstören. Und auf dieser Website ist Taylor Swift die Nummer eins. Sehr einleuchtend zeigt die Webseite, wie rücksichtslos die Künstlerin mit der Umwelt umgeht – wirklich brutal und unerträglich. Ich kann nur allen jugendlichen und erwachsenen Fans der Künstlerin empfehlen, einmal eine Sekunde innezuhalten und nachzudenken, was dieses Verhalten eigentlich bedeutet. Es ist schockierend, man könnte kotzen. Den durchschnittlichen CO²-Verbrauch der Menschen auf dieser Erde findet man übrigens hier.

Und Taylor Swift sorgt sich nun, und das ist das Kafkaeske daran, dass jemand Anstoß daran nehmen könnte, dass durch ihre Flugaktivitäten die Zukunft künftiger Generationen zerstört wird und deshalb darauf irgendwie reagiert. Sie empfindet das als Stalking durch die Website. Ich nicht.

Es wäre nicht nur der Letzten Generation anzuraten, sich einmal diesen Zusammenhängen zuzuwenden. Denn dann müssten sie sich mit einer ganzen Gruppe auseinandersetzen und anlegen, der dieses umweltschädliche Verhalten offensichtlich kein größeres Problem ist und die doch teilweise genauso alt ist wie die Letzte Generation.

Sicher, Taylor Swift ist schon 32 Jahre alt, Drake 36, Kim Kardashian 42 und Floyd Mayweather sogar schon 45, aber alle sind keine Angehörigen der Boomer-Generation, dennoch eifern sie dieser in Sachen Umweltzerstörung erkennbar nach. In dieser Liste der durch Flüge generierten CO²-Belastungen (in Tonnen) heißt es nicht, je oller, je doller, sondern je jünger, je schlimmer

Longtermism und Shorttermism

Die Welt zwischen Problemverschiebung und Problemverdrängung

Wie steht es um die Zukunft des Menschen?

Ich lese gerade, aufmerksam geworden durch einen Artikel über die Extremisten der Aufklärung in der ZEIT, einen Artikel des Philosophen Émile P. Torres, den dieser vor einem Jahr im Aeon Magazine publiziert hat [Torres, Émile P. (2021): „Against longtermism“ In: Aeon Magazine, 19.10.2021. https://aeon.co/essays/why-longtermism-is-the-worlds-most-dangerous-secular-credo]. Ich empfehle den Artikel zur Lektüre, denn er plausibilisiert viel von dem, was aktuell rund um Twitter, FTX und Letzter Generation vor sich geht. Die Gedankenwelt, die Torres da zusammengetragen hat und kritisch begutachtet, ist schon erschreckend. Grob gesprochen könnte man zwischen shorttermism und longtermism und dem, was dazwischen denkbar ist, unterscheiden. „shorttermism“ wäre dabei ein Denken, dass sich wenig um die Zukunft und das absehbare Leiden der Menschen kümmert, sondern dem Hier und Jetzt die Priorität einräumt. Demnach wäre eine Einschränkung heutiger Lebenswelten zugunsten künftiger Generationen nicht angebracht. „longtermism“ dagegen orientiert sich an extrem ausgreifenden Zukunftsperspektiven, die um die Perfektibilität des Menschen kreisen. Im Blick auf eine derartige ferne Zukunft eines im Weltraum reisenden perfekten Menschen wäre die Besinnung auf heutiges Leid oder das Leid der nächsten Generationen bedingt etwa durch den Klimawandel durchaus zu vernachlässigen. Denn letztlich kommt es nur darauf an, dass irgendwann ein optimierter Mensch alle Beschränkungen überwindet. Dafür kann man auch den Tod von 75% der Weltbevölkerung in Kauf nehmen. Langfristigkeit meint dann eben nicht die nächsten 2000 Jahre, sondern Millionen oder Milliarden Jahre.

„If one takes a cosmic view of the situation, even a climate catastrophe that cuts the human population by 75 per cent for the next two millennia will, in the grand scheme of things, be nothing more than a small blip – the equivalent of a 90-year-old man having stubbed his toe when he was two.“ – „It might be ‘a giant massacre for man’, he adds, but so long as humanity bounces back to fulfil its potential, it will ultimately register as little more than ‘a small misstep for mankind’.”

Es ist letztlich die Logik von Kriegsherren, die da durchschimmert, denen es egal ist, wie viele Menschen sie opfern, Hauptsache am Ende steht der Sieg. Und zu diesen Kriegsherren gehören Elon Musk oder auch ein Glücksritter wie Sam Bankman-Fried. Sie fördern die Philosophie des Longtermism mit Millionen US-Dollar. Einig sind sich Short-Termisten und Long-Termisten darin, dass sie sich um die Klimakrise nicht zu sorgen brauchen, zumindest so lange nicht, wie ihre eigenen Konzepte davon nicht betroffen sind.

Déjà-vu

Gibt es eine globale Tendenz, vor Eröffung einer Ausstellung nicht nur die Inhalte auf politische Korrektheit zu überprüfen, sondern auch die Haltung der Künstler:innen und Kurator:innen zu untersuchen?

In der FAZ schreibt Konstantin Akinscha über die Absage der 9. Moskauer Kunstbiennale unter dem Titel „Szenografie der Gefühle“. Nun ist eine derartige staatliche Zensur-Maßnahme in Zeiten eines russischen Angriffs-Krieges vielleicht gar nicht so überraschend, interessanter sind da schon die Begründungen, die Akinscha erwähnt:

„Die Absage der Moskauer Biennale war kein Einzelfall. Die Behörden verboten Dutzende von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Außerdem führten sie ein neues Zensursystem ein. Früher beruhte die Ausstellungserlaubnis auf der Beurteilung der für diese ausgewählten Werke. Heute müssen die Organisatoren die schwarzen Listen mit unerwünschten Künstlern konsultieren, deren Werke unabhängig von ihrem Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden dürfen.“

Und irgendwie hatte ich da ein Déjà-vu. Das hatte ich in diesem Jahr doch schon einmal gehört und gelesen? Kann es also wirklich sein, dass ein totalitäres System wie Russland einem demokratischen System wie der Bundesrepublik Deutschland strukturell doch ähnlicher ist, als man vermuten möchte – zumindest im Umgang mit Kunst-Ausstellungen? Denn das war es doch, was in den vergangenen zehn Monaten in Deutschland gefordert wurde: dass die Veranstalter und die sie fördernden staatlichen Institutionen nicht nur die für die Ausstellung ausgewählten Werke vorab kontrollieren sollten, sondern – und das ist hier viel gewichtiger – dass die Organisationen nach vorab aufgestellten Listen unerwünschter Künstler:innen und Kurator:innen entscheiden sollten, wer an Kulturveranstaltungen teilnehmen darf und wer nicht. Die Liste in Deutschland trug die Überschrift: Welche Haltung hat X zur Organisation BDS? Es scheint, als liege nur wenig zwischen dem russischen Zugriff auf die Kunst und der deutschen Infragestellung der Kunstfreiheit. Auch bei uns wird gegen alle grundgesetzlichen Bestimmungen gefordert, der Kunst Fesseln anzulegen. Nur das mit dem Verbieten klappt noch nicht so recht.

„Beati pacifici“

Kann sich Landesbischof Kramer bei seiner Übersetzung der Bergpredigt zu Recht auf den Pazifismus berufen? Die Vulgata sagt ja!

Colt Peacemaker

Auf Zeitzeichen.net kommentiert Redakteur Philipp Gessler unter der Überschrift „Isolierter radikaler Pazifist“ die Predigt und die späteren Synodenauftritte des Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, der für eine stärkere Beachtung pazifistischer Haltungen in den gegenwärtigen Krisen eintritt. Aber Gessler macht das nicht in einer Form, die Darstellung und Kommentar sauber trennt, sondern er nimmt bereits in der Beschreibung Wertungen vor. Er schreibt:

„Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ So übersetzt der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Friedrich Kramer, eine zentrale Seligpreisung Jesu in der Bergpredigt. … Das kann man eine freie Interpretation nennen – oder Chuzpe. Denn Kramer stützt mit dieser theologisch ziemlich freihändigen Übersetzung seine Position in der Friedensfrage.

Das suggeriert, es wäre sozusagen eine private Übersetzung des Landesbischofs. Dagegen, so betont Gessler später in seinem Kommentar, stünde in der griechischen Bibel etwas anderes, wie ja auch in der Lutherbibel erkenntlich sei: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Nun steht von Friedensstiftern auch nichts im griechischen Text, dort heißt es Μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί, was man dann wohl eher mit Friedensmacher oder für Freunde des heutigen Amerika auch schön westernmäßig mit Peacemaker übertragen könnte. Und Frieden machen kann man mit vielen Mitteln – mit dem Colt, aber auch mit dem Pazifismus. Denn Kramer kann für seine Übersetzung, die keinesfalls eine freie, dreiste oder unangemessene Übersetzung ist – auf eine ältere christliche Tradition verweisen, älter zumindest als die Lutherbibel, nämlich die Übersetzung der Vulgata: „beati pacifici quoniam filii Dei vocabuntur“ heißt es dort. Und da haben wir die Pazifisten wieder mit im Boot. Von einer freihändigen oder gar dreisten Übersetzung (Chuzpe = jiddisch für „Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit, Unverschämtheit“) kann also keine Rede sein, es sei denn, man wollte den katholischen Glaubensgeschwistern auch noch schnell eins auswischen. In der christlichen Übersetzungsgeschichte sind die Pacifici gut belegt. Noch im Wörterbuch der Gebrüder Grimm schwingt das nach. Dort wird als sprachlicher Bezug für friedfertig auf das lateinische pacificus verwiesen.

Den weiteren Tenor des Kommentars von Gessler würde ich als eine nur leicht getarnte Form der versuchten Gesinnungskontrolle bezeichnen, etwa wenn Kramer vorgeworfen wird, bei seiner Meinung zu bleiben. Dass Kramer damit in der Evangelischen Kirche allein stehe, wie der Text insinuiert, ist lächerlich. Er mag unter den Synodalen damit nicht auf Gegenliebe stoßen, die oft genug in der Synode auch Parteipositionen vertreten. Aber in der gesamten evange­li­schen Bevölkerung dürfte es wohl anders aussehen. Damit bekommt Kramer noch nicht Recht, aber er vertritt immerhin einen Teil des Protestantismus und vor allem auch jene friedens­orien­tierten Kirchen, die Kriegsbeteiligung grundsätzlich ausschließen. Und der Ökumenere­dak­teur Gessler sollte doch auch diese Kirchen aus dem protestantischen Ordo auf dem Schirm haben.

Schon wieder eine Bilderattacke

Schon wieder wurden zwei Kunstwerke bzw. ihre Rahmen attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya.

Goya, nackte und bekleidete Maya
Goya und die beiden Mayas

Schon wieder wurden zwei Kunstwerke attackiert, dieses Mal die beiden Darstellungen der Maya von Goya im Prado in Madrid. Allmählich werden die Attacken zu einem Who is Who der Kunstgeschichte. Mit den Inhalten der Bilder hat es nichts zu tun, bloß mit ihrer Prominenz. Von Goya gibt es ja zum Anliegen der Letzten Generation durchaus passende Werke, etwa aus der schwarzen Serie „Saturn verschlingt seine Kinder“. Aber darum geht es wohl nicht. Es ist ein dummer Angriff auf die Kulturgeschichte der Menschen, ein Angriff, der die Kunstwerke nicht als Argumente im gesellschaftlichen Diskurs begreift, sondern als wohlfeile Ziele zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit.

Goya, Saturn verschlingt seine Kinder