Und immer wieder dieselbe Rede

Der Papst kehrt zur alten Rollenverteilung von Kunst und Kirche zurück: Kunst spielt für die Kirche eine wichtige Rolle, wenn sie ethisch präfiguriert ist.

Wofür sollte Kunst denn auch sonst da sein – außer eine Rolle zu spielen in den ethischen Debatten und Reflexionen dieser Welt? Seit 500 Jahren arbeitet die Kunst daran, nicht mehr automatisch diesen metaphysischen, ethischen und religiösen Präjudizierungen unterworfen zu werden, sondern selbst zu bestimmen, was Kunst als Kunst macht. Aber die Kirche kann es nicht lassen. Sie kennt keine Eigenwertigkeit der Kunst. Dabei heißt Kunstwerke zu schaffen, besondere Werke zu schaffen, Werke, die sich durch ihre Differenz zu allen anderen Bereichen menschlichen Lebens auszeichnen. Das Werk der Künstler:innen steht „neben den lebensnotwendigen Werken der eigentlichen Arbeit, neben der Wissenschaft, neben Kirche und Staat“ – „Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernst zu nehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen, ohne von jener loszukommen“ (so Karl Barth 1920). Letztlich geht es beim Satz des Papstes um eine metaphysische Ingebrauchnahme der Kunst: die an der Buchstäblichkeit, dem Material orientierte Kunst soll vom Geist in die Sinndeutung eingebunden werden. Dagegen geht es im Interesse der Kunst darum, die Autonomie der kulturellen Bereiche vor der theologischen und religiösen Hegemonie zu bewahren.

Nun hatte die katholische Kirche immer schon ein gebrochenes Verhältnis zu Immanuel Kant und seiner Bestimmung menschlicher Erkenntnisse in den drei Kritiken (Kritik der reinen Vernunft – Kritik der praktischen Vernunft – Kritik der Urteilskraft). Mit der Autonomie der Künste, ihrer ihr immanenten Zweckhaftigkeit ohne äußeren Zweck wusste sie nichts anzufangen. Gelobt und geliebt wird die Kunst, wenn sie zweckrational eingebunden werden kann, wenn sie also gegen »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit und für das ökologische Gleichgewicht« ankämpft. Und was ist mit all der anderen Kunst (die vermutlich einen Großteil aller Kunstwerke ausmacht)? Kirchlich bzw. religiös ist sie uninteressant. Aber was macht die Kunst als Kunst noch attraktiv, wenn sie doch nur das visualisiert, was der Stellvertreter Gottes auf Erden eh‘ schon jeden Sonntag von der Kanzel kundtut? Gegen »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit und für das ökologische Gleichgewicht« zu sein, ist eine Art Teilnahme am ethischen Buzzword-Bingo, aber kein Element der Kunst. Das Modell nach dem auch dieser Papst zu denken scheint, ist das der vorgängigen Themen und Texten, denen die Kunst ihre visuelle Gestaltungskraft andienen darf. Das ist ein mittelalterliches und frühneuzeitliches Verständnis von Kunst, das diese als Religions- oder Ethik-Design begreift. Vor allem aber ist es ein illiberales Verständnis von Kunst. Wenn die Kunst nur Rollen einzunehmen hat, ist sie nicht frei, allenfalls Hofnarr am Tisch der Mächtigen und der Diskursgestalter. Frei ist sie aber nur als souveräne Kunst, die sich Formwerdung und inhaltliche Bezüge selbst wählt.

Über Freiheit als „Methode der Kunst“ hat am Ende des 20. Jahrhunderts der Künstler, Theologe und Philosoph Thomas Lehnerer reflektiert. Im Anschluss an Immanuel Kant skizziert Lehnerer ästhetische Erfahrung als ein „Empfinden aus Freiheit“ und Bildende Kunst als eine „Methode aus Freiheit“. Das Empfinden von Schönheit ist danach „die vielleicht ganz alltägliche, aber unbedingte Freude daran, dass etwas ohne Not und Grund – frei – sich bewegt, dass etwas lebendig ist in dieser Welt, einfach so. – Freie Lebendigkeit spüren, das ist Schönheit … Schönheit als solche (als Empfinden aus Freiheit) beruht weder auf Natur noch auf Kultur … Schönheit ist ein an sich selbst freier, unbedingter, dennoch aber subjektiv wahrnehmbarer Glücksfall.“ Kunstwerke sind im Gegenzug Gegenstände, die den ‚Zweck‘ haben, dieses „Empfinden aus Freiheit“ auszulösen. Thomas Lehnerer hat vehement bestritten, dass sich Kunst und Religion im Sinne einer gemeinsamen Gattung konstellieren lassen: „Dort wo Kunst ihren Selbstbezug ausformuliert, wo sie ihre Autonomie zur Geltung bringt und dadurch als Totalität sich ausweitet, wo sie m.a.W. ihrem Begriff radikal folgt, ist sie bestimmte Negation von Religion“. Unter diesen Gesichtspunkten „bleiben alle religiös-theologischen Bemühungen, Kunst zu verstehen, limitiert.“ Daher besteht die Perspektive der Begegnung von Kunst und Kirche in der Anerkenntnis dieser Differenz. Geführt werden müsste „ein Diskurs zwischen Kunst und Theologie, in dem beide Seiten ihre Position stark machen und in dem deshalb wirklich etwas auf dem Spiel steht. Es sollte ein Gespräch sein, bei dem die Einigung nicht bereits im Vorhinein programmiert ist, ja vielleicht sogar nicht einmal angestrebt werden muss…, ja (das Gespräch) eigentlich keine Übereinstimmung zum Ziel haben (kann)“ (Alle Zitate Thomas Lehnerer).

Einsichtig werden muss, dass die religiöse Interpretation und in diesem Fall die päpstliche Interpretation des Engagements der Kunst den ästhetischen Charakter der Kunstwerke, ihr Kunsthaftes verfehlt. Man sucht nur das Eigene im Fremden und jubelt auf, wenn man meint, etwas Gemeinsames gefunden zu haben. Man kann aber sicher sein, dass die Kunst in ihren Werken diese scheinbare Gemeinsamkeit wieder unterlaufen wird. Genau das ist nämlich der ästhetische Prozess, der sich eben nicht ethisch stillstellen lässt: er nennt sich „Die Souveränität der Kunst“

Kunst ist eben nicht deshalb interessant, weil sie eine Verbündete im Kampf gegen »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit und für das ökologische Gleichgewicht« ist, sondern weil sie Kunst ist. Nicht das „Was“ eines Werkes macht die Kunst interessant, sondern das „Wie“, nicht der Inhalt, sondern die Form.

Es gab einmal einen Papst, aber auch nur einen einzigen, der das zu würdigen wusste.

Aus der Papstrede in München 1980:
Eine grundsätzliche neue Beziehung von Kirche und Welt, von Kirche und moderner Kultur und damit auch von Kirche und Kunst wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil geschaffen und grundgelegt. Man kann sie bezeichnen als Beziehung der Zuwendung, der Öffnung, des Dialogs. Damit ist verbunden die Zuwendung zum Heute, das „Aggiomamento” … Die Welt ist eine eigenständige Wirklichkeit, sie hat ihre Eigengesetzlichkeit. Davon ist auch die Autonomie der Kultur und mit hr die der Kunst betroffen. Diese Autonomie ist, echt verstanden, kein Protest gegen Gott oder gegen die Aussagen des christlichen Glaubens: sie ist vielmehr der Ausdruck dessen, dass die Welt Gottes eigene, in die Freiheit entlassene Schöpfung ist, dem Menschen zur Kultur und Verantwortung übergeben und anvertraut. Damit ist die Voraussetzung gegeben, dass die Kirche in ein neues Verhältnis zur Kultur und zur Kunst eintritt, in ein Verhältnis der Partnerschaft, der Freiheit und des Dialogs. Das ist umso leichter möglich und kann umso fruchtbarer sein, als die Kunst in Ihrem Land frei ist und sich im Raum der Freiheit verwirklichen und entfalten kann. … Die Kirche sieht die Berufe der Künstler und Publizisten in einer Bestimmung, die zugleich die Mitte, die Größe und die Verantwortung Ihrer Berufe bezeichnet. Nach christlicher Auffassung ist jeder Mensch Bild und Gleichnis Gottes. Dies trifft hinsichtlich der schöpferischen Tätigkeit in einer besonderen Weise für den Künstler und den Publizisten zu. Ihr Beruf ist Ihrer jeweiligen Aufgabe entsprechend ein schöpferischer Beruf. Sie geben der Wirklichkeit und dem Stoff der Welt Form und Gestalt. Sie verbleiben nicht in der bloßen Abbildung oder in der Beschreibung der Oberfläche. Sie versuchen, die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt zu „verdichten“ im ursprünglichen Sinn des Wortes. Sie wollen in Wort, Ton, Bild und Gestaltung etwas ahnen lassen und vernehmbar machen von der Wahrheit und Tiefe der Welt und des Menschen, wozu auch die menschlichen Abgründe gehören. Dies zu sagen, bedeutet keine heimliche christliche oder kirchliche Vereinnahmung der Kunst und der Künstler, der Medien und Publizisten, sondern eine Würdigung aus der Sicht des christlichen Glaubens, eine Würdigung, die erfüllt ist von Positivität, von Respekt und Anerkennung.

Promotionsstipendium

Der badische Landesverein für Innere Mission schreibt ein Promotionsstipendium aus.

Der Badische Landesverein für Innere Mission wurde im 19.Jahrhundert gegründet und blickt auf eine lange Geschichte zurück. Diese Geschichte soll nun (kirchen-)historisch und praktisch-theologisch aufgearbeitet werden. Dazu wurde ein Promotionsstipendium ausgeschrieben. Interessent:innen für ein solches Stipendium werden gebeten mit Wolfgang Vögele (wolfgang.voegele@theologie.uni-heidelberg.de) oder dem Landesverein Kontakt aufzunehmen.

Hier der Werbezettel nochmals als PDF.

Wer ist hier im freien Fall?

Über die Kirchen wird häufig behauptet, sie befänden sich „im freien Fall“. Warum das kaum zutrifft und wenn, es für andere Institutionen noch viel mehr gelten müsste.

Was stellen wir uns unter einem freien Fall vor? Wenn wir auf das obige Diagramm blicken, welche Linie käme wohl unserer Vorstellung von einem „freien Fall“ am nächsten (falls man nicht gleich an Fallschirmspringer:innen denkt)? Wir haben hier die Entwicklungskurven dreier Institutionen vor uns, die Einblick in das letzte Vierteljahrhundert gesellschaftlicher Veränderungen geben. Dazu wurden alle drei Institutionen für das Jahr 1998 auf 100 gesetzt und nun verglichen, wie sie sich in den folgenden 25 Jahren entwickelt haben.

Und man kann feststellen: es sieht für alle drei Institutionen wirklich nicht gut aus: Allein bis 2012 haben alle drei mindestens 10% ihres früheren „Marktanteils“ verloren. Aber sie können darauf verweisen, dass es anderen gesellschaftlichen Institutionen ebenso geht, auch diese verlieren im vergleichbaren Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz bzw. werden nicht mehr so nachgefragt, wie im letzten Jahrtausend. Wir haben seit langem eine Krise der gesellschaftlichen Institutionen. Das ist für diese eine traumatische Erfahrung. Und die Frage stellt sich, wie man damit umgehen soll. Die betrachteten Institutionen sind die Mitglieder der evangelischen und die der katholischen Kirche und drittens die Printverkäufe der FAZ. Das sind natürlich in dem Sinne keine vergleichbaren Institutionen, weil sie unterschiedliche gesellschaftliche Segmente bearbeiten. Sie verbindet aber der Verlust an Kundschaft.

Fokussieren wir den Blick auf die letzten zehn Jahre. Und da ist es schon auffällig, wie dramatisch der Mitgliederverlust der Kirchen gewesen ist. Es sind nicht nur der Missbrauch-Skandal oder die mangelnde gesellschaftliche Innovationskraft der Kirchen, die hier sichtbar wird, hier kommen viele Faktoren zusammen. Vergleicht man die kirchliche Entwicklung aber mit der der FAZ, dann kommt es einem schon fast harmlos vor. Die FAZ hat im selben Zeitraum ihre Printverkäufe fast halbiert (nur noch geschlagen von der BILD, die ihre Printverkäufe mehr als halbiert).

Weshalb schreibe ich das? Reinhard Müller kommentiert in der FAZ unter der Überschrift „Christlich geprägt – was sonst?“ das Urteil zum Kreuzerlass in Bayern.

Wer Deutschland ein entchristlichtes Land nennen will, der findet reichlich Futter, etwa die zahlreichen Kirchenaustritte. Und doch ist Deutschland tief christlich geprägt. Weniger wegen der vielen eindrucksvollen Kirchengebäude, von denen nicht wenige mittlerweile ganz anders genutzt werden. Schon eher wegen des Halts, den die Kirchen bieten. Mögen sie sich auch, was die Zahl ihrer Mitglieder angeht, im freien Fall befinden – sie werden weiterhin gesucht, wenn es ums Ganze geht. Nicht nur als Raum fur Promi-Trauungen, sondern für Taufe, Trauung und im Todesfall. Von Weihnachten zu schweigen.

Das ist eine funktionale Bestimmung der Kirche als systemstabilisierender Faktor. Man kann das so sehen, wenn einem die Leitkultur wichtig ist. Mich stört schon das Wort „prägen“, das notwendig mit struktureller Gewalt verbunden ist. Ich glaube nicht, dass das zufällig ist, wo wir doch auch beeinflusst oder auch verbunden sagen könnten. Ob die Kirche oder die Religion sich als Agenturen der Übergangsriten (rites de passage) retten können, scheint mir mehr als zweifelhaft.

Insbesondere totalitäre Staaten wie die DDR haben gezeigt, dass die Übergangsriten auch ganz säkular bearbeitet werden können. Die rites de passage sind für industrielle und nachindustrielle Staaten immer weniger wichtig, sie sinken herab – gerade an den von Müller benannten Festen – zu Folklore. Weihnachten und (Traum-)Hochzeit hat dieses Schicksal schon lange erfasst, bei der Taufe oder dem Tod deuten sich derartige Entwicklungen aber auch an.

Gestoßen habe ich mich aber vor allem an der Formulierung vom freien Fall der christlichen Kirchen. Das kann in der Tendenz gar nicht bestritten werden, die Kirchen verlieren Jahr für Jahr Mitglieder. Aber sie befinden sich keinesfalls im freien Fall. Fast immer, wenn diese Formulierung genutzt wird, gibt sie nicht das wieder, was die Autor:innen beschreiben wollen. Wenn die Ölpreise im freien Fall sind, landen sie eben nicht – wie Fallschirmspringer:innen – ganz unten. Wenn die Sozialdemokratie Angst hat vor dem freien Fall in der Wählergunst, dann halbieren sich vielleicht ihre Zustimmungswerte, aber sie gehen nicht auf Null zurück. Korrekt wäre der Sprachgebrauch, wenn man sagt, einen freien Fall aus 100 Metern auf eine Wiese würde man nicht überleben. Meistens aber geht es um eine dramatische Einbuße an Zustimmung und der „freie Fall“ wird als dramatisierende, aber schiefe Metapher genutzt.

Diese Formulierung vom freien Fall ärgert mich besonders dort, wo jemand dann auch noch eine Institution vertritt, die weit größeren Fliehkräften unterliegt. Es ist, als wenn ein ganz Armer auf einen nicht so ganz Armen verweist und sagt: Schau mal wie schlecht es dem geht. Das mag zwar so sein, aber es ist und bleibt schief. Nun will Müller die Kirchen ja eigentlich verteidigen und sie als wertbasierte Stützen unserer Gesellschaft herausstellen. Aber indem er sie mit einer Metapher beschreibt, die auf der Sachebene nicht angemessen ist, verfehlt er sein Ziel.

Aber auch rein empirisch stimmt die Theorie von einem Zusammenhang von Religion und gesellschaftlichen Werten kaum. Blickt man auf die Länder mit dem größten Prozentsatz an Katholiken in der Bevölkerung und schaut nach, welchen Platz sie z.B. im Demokratieindex haben, stehen an erster Stelle El Salvador (76,4% – Platz 122, moderate Autokratie), Paraguay (74,5% – Platz 88, defizitäre Demokratie), Guatemala (66,7% – Platz 103, hybrides System), Costa Rica (64,3% – Platz 11, funktionierende Demokratie), Honduras (59,1% – Platz 113, moderate Autokratie), die Dominikanische Republik (58,1% – Platz 71, defizitäre Demokratie) und Nicaragua (57,7% – Platz 160, harte Autokratie). In Europa hat Malta den größten Katholikenanteil (98% – Platz 38, defizitäre Demokratie). Das ist eine erschreckende Bilanz – wenn man davon ausgeht, es gäbe einen Zusammenhang zwischen katholischer Religion und gesellschaftlichen Werten.

Sinn macht das allenfalls, wenn man Religion auf den lutherischen Protestantismus beschränkt: Norwegen (87,3% – Platz 1), Finnland (71,2% – Platz 4), Dänemark (75,9% – Platz 2), Schweden (73,7% – Platz 3), Island (80,2% – Platz 17). Demokratisch vorbildlich sind vor allem Staaten mit einer früheren lutherischen Staatskirche. Sie alle sind funktionierende Demokratien. Natürlich liegt ihre gesellschaftliche Wertebasis nun gerade nicht in ihrer Religion begründet, sondern vor allem in der Ökonomie und gesellschaftlichen Traditionen.

Reinhard Müllers „Aufhänger“ war ja nun das Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts, das den Kreuz-Erlass für legal erklärt hatte. Der Preis dafür, auch das sollte man nicht vergessen, war die völlige Auflösung der spezifischen religiösen Bedeutung des Kreuzes zugunsten eines kontingenten kulturellen Symbols. Das Kreuz an der Wand, so hat es das Gericht formuliert, sei „ein im Wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung“, und der Eingang der Gerichtsgebäude sei ein „Durchgangsbereich“, den Bürger:innen nur „flüchtig“ passierten. Nach dieser Logik hätte man freilich auch Lederhosen in den Eingangsräumen bayrischer Gerichte vor die bayrischen Farben hängen können, oder Bierkrüge, die sind in Bayern prägendes Kulturgut.

Gerade weil aber das Kreuz im Christentum die nur vorläufige Gültigkeit menschlicher Gerichtsurteile impliziert (das Jüngste oder Letzte Gericht steht ja noch aus), ist es eigentlich in einem säkularen, kulturell ausdifferenzierten modernen Staat in Gerichtsgebäuden nicht angebracht. Die Kirchen hatten sich daher bereits 2018 gegenüber dem Kreuz-Erlass kritisch gezeigt. Kardinal Reinhard Marx meinte: „Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden.“ Ähnlich sah das der damalige evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der kritisierte, das Kreuz dürfe nie für irgendwelche „außerhalb von ihm selbst liegenden Zwecke instrumentalisiert werden“. Aber es geht bei der Argumentation von Müller auch gar nicht um religiöse Interessen. Es geht darum, Religion als staatlich eingefriedet und darin staatstragend darzustellen und zu nutzen.

Wie man es auch dreht und wendet, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Nein, die Kirche befindet sich nicht im freien Fall, sie erfährt dramatische Einbußen an Teilhabe in der Bevölkerung, die sich aber kaum mit jenen Einbußen vergleichen lassen, die andere Institutionen wie die Presse oder einige große Parteien erleiden müssen.

Theologische Debatte

Albrecht Grözinger beobachtet und kommentiert den aktuellen Kampf der theologischen Lager und legt seine Sicht der Sachlage vor.

Grözinger, Albrecht (2023): Oberlicht und Bodenhaftung | Anmerkungen zur theologischen Diskussion um die KMU 6. In: Zeitzeichen : evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/10864