Günther Anders – Eine Re-Lektüre

Günther Anders über die durch Apparate gesteuerte Wahrnehmung.

Das Sehen ist überholt und abgeschafft. Und ersetzt durch das Photographieren. Wo einer doch etwas anblickt – lass dich nicht irreführen: das tut er ausschließlich als Angestellter seines Herrn, der ihm um den Hals hängt, nämlich seines photographischen Apparats. Ich beobachtete eine holländische Reisegesellschaft. In dieser war einer, dessen Leica streikte und der offensichtlich hysterisch und atemlos wurde vor Versäumnispanik, weil er die Sehenswürdigkeiten, die ihm reif und knipsbar in die Augen hineinhingen, nicht pflücken konnte, während seine Reisekollegen rechts und links das konnten. Sich die Piazza oder den David oder Donatellos Judith anzusehen, auf diesen Gedanken kam er gar nicht, Augen hatte er ausschließlich für die anderen, für die Glücklicheren, die sich knipsend ihre Befriedigung verschaffen durften, und die er, bebend vor Missgunst und vor Neid, der fast wirkte wie Sexualneid, bei ihrer Tätigkeit beobachtete. – Einer dieser Glücklicheren ließ sich sogar knipsend knipsen, gewiss, um zuhause das Aufregendste, was es in Italien zu erleben gegeben hatte: nämlich eben sein Knipsen, vorweisen zu können. Wer etwas sieht, ohne es aufnehmen zu dürfen, der «hat» nichts vom Gesehenen, der «hat» es nicht. Nur knipsend «haben» sie … Bleibt nur die bescheidene Frage, was man vom Leben noch hat, wenn man weder mehr zu sehen noch zu erinnern braucht.

Was Günther Anders hier in seinem Italien-Reisebuch von 1956 (!) beschreibt, ist von der Wirklichkeit längst dramatisch überholt worden. Zwar halten die Besucher:innen weiterhin die Kamera (nun als Digitalkameras) zwischen sich und die Wirklichkeit (obwohl es doch hochauflösende und besser ausgeleuchtete Bilder online gibt), sie können die Wirklichkeit auch gar nicht mehr sehen (nur noch fotografieren), weil die Kulturindustrie mit ihren den Blick steuernden Kommentaren sich dazwischen drängt. Das Bild ist nur noch wahr, wenn eine zertifizierte Stimme im Ohr es dazu erklärt hat. In einem gewissen Sinn kehrt die Menschheit so zurück in das Mittelalter, zumindest in vorreformatorische Zeiten. Es bedarf bestallter Kleriker:innen der Kunstgeschichte, die einem vermitteln, was auf den Bildern gültig ist und was nicht. Das sapere aude ist einem Folgen auf das erläuternde Wort gewichen. Heil aus dem Heilsschatz der Kunstgeschichte gibt es nur noch, wenn man dem normierenden Wort folgt.

Das unterscheidet die heutigen Menschen von der Bildertheologie Luthers: Luthers Beitrag zur neuen Verfügbarkeit des Bildes betrifft nicht dessen Hersteller, sondern den Empfänger. Luther legt den Grund für die Betrachterästhetik, die Kunst als einen (nominalistischen) Vereinbarungsbegriff auffasst. Der Betrachter soll vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben. Er hat das letzte Wort. Luthers Bildempfänger ist kein fraglos Anstaunender, in ihm steckt ein potentieller Interpret, der kritisch nach dem Woher und Wozu, nach dem Umraum des Kunstgegenstandes fragt. [Werner Hofmann]. Diese Erkenntnis ist aktuell wieder im Schwinden begriffen. Wir wollen uns als Subjekte nicht mehr erproben, sondern nur noch der Stimme namenloser Kommentator:innen folgen.

Kulturindustrie II. Eine weitere Reiseerfahrung

Ein weiterer Beitrag zur kulturindustriellen Präfigurierung unseres Blicks.

Mitte September 2023 bin ich im Rahmen einer privaten Reise in Padua. Auch dort geht die Kolonisierung der Lebenswelten weiter und auch hier versucht die Kulturindustrie bzw. in diesem Fall die religiöse Verwaltung die authentische ästhetische und religiöse Erfahrung von Artefakten in den Griff zu bekommen und die Wahrnehmung der Besucher:innen kontrolliert zu steuern. Bisher war nämlich das Baptisterium des Domes in Padua nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes frei zugänglich. Man zahlte seinen Obolus und konnte sich nun dem Hauptwerk von Giusto de’ Menabuoi widmen. Er ist ein Maler aus der zweiten Generation nach Giotto. 1370 zieht Menabuoi nach Padua und steigt dort zum Hofmaler der örtlichen Herrscherfamilie der Carraresi auf. In diesem Zusammenhang erhält er den Auftrag, das Baptisterium des Domes als künftige Grabkapelle der Carraresi auszumalen. Und am Ende steht ein in sich stimmiges komplexes Werk, das die Betrachter:innen jedes Mal fasziniert und zu eigenen Entdeckungen einlädt.

Nun aber läuft alles anders. Man muss sich im Dom-Museum anmelden, bekommt dann einen Time-Slot zugewiesen, indem eine audiovisuelle Führung durchgeführt wird, die einen ideologisch (d.h. religiös-katholisch) und ästhetisch präfiguriert. Zunächst wird man in einen Saal geführt, der eine Multimedia-Show enthält, die einem Grundlagen des Christentums bzw. des Katholizismus anhand der Bilder beibringt. Darauf hätte ich gerne verzichtet. Mag sein, dass die Bildung weltweit so weit herabgesunken ist, dass ein großer Teil der Menschheit Kunstwerke wie dieses nicht mehr aus sich heraus verstehen kann, aber diese katholische Dröhnung ist wirklich zu viel. Seit der Moderne sind Kunstwerke nicht mehr Ideologie-Schleudern, sondern eigenständige Artefakte mit einer eigenen Sprache und Botschaft. Das gefällt den alten Herren nicht und so suchen sie die Artefakte wieder in den religiösen Kosmos einzufangen, indem sie die Besucher:innen religiös belehren und einnorden.

Und wenn man dann endlich in die Kapelle tritt, so sind die Bilder nicht frei zugänglich, sondern unterliegen einer gesteuerten Wahrnehmung. Man kann seinen Blick nicht frei schweifen lassen, weil nur das, worüber der Audioguide gerade redet, auch erleuchtet wird, der Rest liegt im Dunkeln. Und die Menschen sind schon so zugerichtet, dass sie das auch noch als freundliche Hilfestellung empfinden. Das ist es aber nicht, sie werden eben nicht zu eigener Wahrnehmung emanzipiert, sondern, ganz im Gegenteil, gesteuert – ganz zu ihrem Besten natürlich. Ja, Kunstwahrnehmung ist manchmal etwas anstrengend, herausfordernd und voraussetzungsreich. Aber die neuen kulturindustriellen Vermittlungsstrategien verhindern, dass überhaupt jemand authentische oder sagen wir besser: individuelle Erfahrungen machen kann. Immer treten Apparate zwischen das Werk und das Subjekt, letztlich könnte man genauso gut zu Hause eine Dokumentation auf Arte schauen. Traurige Zeiten.

Kulturindustrie I. Eine Reiseerfahrung

Es wird immer schlimmer. Zur kulturindustriellen Präfigurierung unserer Bildwahrnehmung.

Anfang September bin ich mit einer Reisegruppe in Brügge und Gent und besuche dabei auch den Genter Altar. Nach vielen Jahren der Restaurierung ist dieser nun wieder „zugänglich“ und wird den Besucher:innen mit Hilfe einer umfassenden Augmented Reality Show vorgestellt. Das ist der neue Trend in der kulturellen Vermittlung, eine Entwicklung, die sich schon seit Jahrzehnten abzeichnete. Der erste Grundsatz lautet: authentische, subjektive, eigene ästhetische Erfahrungen werden dem Publikum gar nicht mehr zugetraut. Bevor es das Kunstwerk betrachten darf, wird es ideologisch geschult, genauer: kulturindustriell zugerichtet. Man bekommt einen Kopfhörer mit Brille aufgesetzt und wird in die Unterkirche geschickt, um in einem dreiviertelstündigen Programm die Hintergründe zu erfahren, von denen die Betreiber:innen vermuten, dass heutige Besucher:innen nicht mehr darüber verfügen. Und mehr oder weniger merkbar werden dabei auch Ideologien untergeschoben, die der Interessenlage der Auftraggeber:innen entsprechen. Etwa dass Hubert van Eyck der ursprüngliche Schöpfer des Genter Altars sei. Das ist Unsinn, zwar gab es einen Hubert van Eyck, er ist mit Jan van Eyck aber nicht verwandt, kein Werk von ihm ist erhalten, er starb völlig verarmt 1426, obwohl er angeblioch doch den Auftrag für den Genter Altar bekommen hatte. In Gent giibt es einen Kult um Hubert, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Unterzeichnungen des Altars nur eine Handschrift, nämlich die von Jan van Eyck zeigen. Zur Motivation kurz die Zusammenfassung der Wikipedia:

Nils Büttner sieht die Motive für die Hinzufügung der Inschrift im Genter Lokalpatriotismus des 16. Jahrhunderts. Denn Jan van Eyck kam aus Brügge, war also kein Genter, während der zufällig namensgleiche Hubert als Genter Maler belegt war. Gent und Brügge standen seit jeher in Konkurrenz. Es war bei humanistischen Gelehrten beliebt, die eigene Heimatstadt mit einem „Städtelob“ zu feiern. Dabei ging es natürlich nicht an, dass das berühmteste Kunstwerk der Stadt von einem Auswärtigen geschaffen worden war. Weil Hubert van Eycks Name in Gent überliefert war, wurde er kurzerhand zum Bruder Jan van Eycks gemacht und dem auswärtigen Jan vorangestellt.

Das hindert die Genter bis heute nicht daran, an der Urheberschaft von Hubert van Eyck festzuhalten und als Wahrheit den Besucher:innen zu vermitteln. Und das gelingt ihnen um so effizienter, als dass die Besucher:innen der per Augmented Reality vermittelten Information gar nicht entgehen können. Der zweite „Preis“ den die Besucher:innen zahlen müssen, ist, dass Kunstwerke, die früher den Besuchenden frei zur Betrachtung offen standen, nun in die Führung eingebunden und ganz nebenbei abgehandelt werden. Und auch dabei wird alles der Genter Ideologie unterworfen, denn nicht Hugo von der Goes, sondern Justus van Gent soll das faszinierende Altarbild in der Unterkirche geschaffen haben. Aber die Wissenschaft weist es van der Goes zu:

Von seiner Hand sind heute fünfzehn Altarbilder und Gemälde bekannt. Darunter befindet sich das Kalvarienberg-Triptychon, das lange Zeit Justus von Gent (Joos van Wassenhove) zugeschrieben wurde. Die meisten Experten sind sich mittlerweile einig, dass es sich um das Werk von Van der Goes handeln muss.

Heute aber ist das Werk nur noch im Rahmen der Augmented-Reality-Tour zugänglich, die früher vorhandene Kapelle zur stillen Andacht mit dem Kunstwerk wurde vollständig der Kulturindustrie geopfert, eine authentische Erfahrung des Altars von Hugo van der Goes (auch als religiöses Artefakt) ist nicht mehr möglich. Das ist eine Katastrophe. Die Besucher:innen bekommen dagegen Schmonzetten von geraubten und wieder zurückgekehrten Teilen des Genter Altars zu hören, die mit der Erfahrung des Werkes aber auch rein gar nichts zu tun haben und eigentlich nur Marginalien sein dürften. Aber so wird alles getan, damit die Bedeutung des Altars gar nicht mit eigenen Wahrnehmungen erschlossen werden kann.

Und wenn man sich dann endlich, nach 45 Minuten kulturindustrieller Zurichtung, dem Genter Altar nähern kann, sucht man das vorher Gehörte im Werk auch zu sehen. Für die ästhetische Erfahrung ist das barbarisch. Um eine Formulierung von Reinhard Hoeps aufzugreifen:

Die Bilder werden einer ihnen vorgängigen außerbildlichen Realität untergeordnet, der sie im Schema symbolischer Repräsentation zu gehorchen haben.

Man sieht nur noch, was man vorher gehört hat. Und die Besucher:innen sind auch noch dankbar, weil sie all das ja nicht gesehen hätten, wenn ihnen nicht jemand bereits vorhergesagt hätte, dass das auf dem Bild zu sehen ist. Grundsätzliche Wahrnehmungen, wie etwa die gleiche Größe des ersten Menschenpaares mit Gottvater, die in der Einführung nicht erwähnt werden, aber sehr augenscheinlich sind, geraten so aus dem Blick.

Der gesamte Genter Altar ist aber heutzutage in einem Glaskäfig platziert, ganz so wie die Alien-Königin in Alien 4 – Die Wiedergeburt durch den Wissenschaftler Dr. Jonathan Gediman in einen ausbruchssicheren Glas­käfig eingesperrt wurde

Das geschieht in der Hoffnung, dass das Kunstwerk seiner ideologischen Rahmung nicht entkommen kann. Und anders als in Alien 4 ist diese Hoffnung beim Genter Altar sogar begründet. Er wird nie wieder frei sein und seine genuine ästhetische Qualität entfalten können. Er ist von den Kulturmanager:innen in einen Käfig gesperrt worden und wird nur noch distanziert zugänglich gemacht, wenn man sich vorher mit einer bestimmten Ideologie hat überschütten lassen.