Kulturindustrie I. Eine Reiseerfahrung

Es wird immer schlimmer. Zur kulturindustriellen Präfigurierung unserer Bildwahrnehmung.

Anfang September bin ich mit einer Reisegruppe in Brügge und Gent und besuche dabei auch den Genter Altar. Nach vielen Jahren der Restaurierung ist dieser nun wieder „zugänglich“ und wird den Besucher:innen mit Hilfe einer umfassenden Augmented Reality Show vorgestellt. Das ist der neue Trend in der kulturellen Vermittlung, eine Entwicklung, die sich schon seit Jahrzehnten abzeichnete. Der erste Grundsatz lautet: authentische, subjektive, eigene ästhetische Erfahrungen werden dem Publikum gar nicht mehr zugetraut. Bevor es das Kunstwerk betrachten darf, wird es ideologisch geschult, genauer: kulturindustriell zugerichtet. Man bekommt einen Kopfhörer mit Brille aufgesetzt und wird in die Unterkirche geschickt, um in einem dreiviertelstündigen Programm die Hintergründe zu erfahren, von denen die Betreiber:innen vermuten, dass heutige Besucher:innen nicht mehr darüber verfügen. Und mehr oder weniger merkbar werden dabei auch Ideologien untergeschoben, die der Interessenlage der Auftraggeber:innen entsprechen. Etwa dass Hubert van Eyck der ursprüngliche Schöpfer des Genter Altars sei. Das ist Unsinn, zwar gab es einen Hubert van Eyck, er ist mit Jan van Eyck aber nicht verwandt, kein Werk von ihm ist erhalten, er starb völlig verarmt 1426, obwohl er angeblioch doch den Auftrag für den Genter Altar bekommen hatte. In Gent giibt es einen Kult um Hubert, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Unterzeichnungen des Altars nur eine Handschrift, nämlich die von Jan van Eyck zeigen. Zur Motivation kurz die Zusammenfassung der Wikipedia:

Nils Büttner sieht die Motive für die Hinzufügung der Inschrift im Genter Lokalpatriotismus des 16. Jahrhunderts. Denn Jan van Eyck kam aus Brügge, war also kein Genter, während der zufällig namensgleiche Hubert als Genter Maler belegt war. Gent und Brügge standen seit jeher in Konkurrenz. Es war bei humanistischen Gelehrten beliebt, die eigene Heimatstadt mit einem „Städtelob“ zu feiern. Dabei ging es natürlich nicht an, dass das berühmteste Kunstwerk der Stadt von einem Auswärtigen geschaffen worden war. Weil Hubert van Eycks Name in Gent überliefert war, wurde er kurzerhand zum Bruder Jan van Eycks gemacht und dem auswärtigen Jan vorangestellt.

Das hindert die Genter bis heute nicht daran, an der Urheberschaft von Hubert van Eyck festzuhalten und als Wahrheit den Besucher:innen zu vermitteln. Und das gelingt ihnen um so effizienter, als dass die Besucher:innen der per Augmented Reality vermittelten Information gar nicht entgehen können. Der zweite „Preis“ den die Besucher:innen zahlen müssen, ist, dass Kunstwerke, die früher den Besuchenden frei zur Betrachtung offen standen, nun in die Führung eingebunden und ganz nebenbei abgehandelt werden. Und auch dabei wird alles der Genter Ideologie unterworfen, denn nicht Hugo von der Goes, sondern Justus van Gent soll das faszinierende Altarbild in der Unterkirche geschaffen haben. Aber die Wissenschaft weist es van der Goes zu:

Von seiner Hand sind heute fünfzehn Altarbilder und Gemälde bekannt. Darunter befindet sich das Kalvarienberg-Triptychon, das lange Zeit Justus von Gent (Joos van Wassenhove) zugeschrieben wurde. Die meisten Experten sind sich mittlerweile einig, dass es sich um das Werk von Van der Goes handeln muss.

Heute aber ist das Werk nur noch im Rahmen der Augmented-Reality-Tour zugänglich, die früher vorhandene Kapelle zur stillen Andacht mit dem Kunstwerk wurde vollständig der Kulturindustrie geopfert, eine authentische Erfahrung des Altars von Hugo van der Goes (auch als religiöses Artefakt) ist nicht mehr möglich. Das ist eine Katastrophe. Die Besucher:innen bekommen dagegen Schmonzetten von geraubten und wieder zurückgekehrten Teilen des Genter Altars zu hören, die mit der Erfahrung des Werkes aber auch rein gar nichts zu tun haben und eigentlich nur Marginalien sein dürften. Aber so wird alles getan, damit die Bedeutung des Altars gar nicht mit eigenen Wahrnehmungen erschlossen werden kann.

Und wenn man sich dann endlich, nach 45 Minuten kulturindustrieller Zurichtung, dem Genter Altar nähern kann, sucht man das vorher Gehörte im Werk auch zu sehen. Für die ästhetische Erfahrung ist das barbarisch. Um eine Formulierung von Reinhard Hoeps aufzugreifen:

Die Bilder werden einer ihnen vorgängigen außerbildlichen Realität untergeordnet, der sie im Schema symbolischer Repräsentation zu gehorchen haben.

Man sieht nur noch, was man vorher gehört hat. Und die Besucher:innen sind auch noch dankbar, weil sie all das ja nicht gesehen hätten, wenn ihnen nicht jemand bereits vorhergesagt hätte, dass das auf dem Bild zu sehen ist. Grundsätzliche Wahrnehmungen, wie etwa die gleiche Größe des ersten Menschenpaares mit Gottvater, die in der Einführung nicht erwähnt werden, aber sehr augenscheinlich sind, geraten so aus dem Blick.

Der gesamte Genter Altar ist aber heutzutage in einem Glaskäfig platziert, ganz so wie die Alien-Königin in Alien 4 – Die Wiedergeburt durch den Wissenschaftler Dr. Jonathan Gediman in einen ausbruchssicheren Glas­käfig eingesperrt wurde

Das geschieht in der Hoffnung, dass das Kunstwerk seiner ideologischen Rahmung nicht entkommen kann. Und anders als in Alien 4 ist diese Hoffnung beim Genter Altar sogar begründet. Er wird nie wieder frei sein und seine genuine ästhetische Qualität entfalten können. Er ist von den Kulturmanager:innen in einen Käfig gesperrt worden und wird nur noch distanziert zugänglich gemacht, wenn man sich vorher mit einer bestimmten Ideologie hat überschütten lassen.