Kunst und Kritik

Was sollte Kunstkritik auszeichnen und inwiefern beeinflussen die Inhalte das Urteil über das Kunstwerk?

Kunstkritik ist zugegebenermaßen ein außerordentlich schwieriges Geschäft. Oft verwechselt man den eigenen Geschmack mit einem Kunsturteil, noch häufiger verwechselt man den Inhalt der Kunst bzw. eines Kunstwerks mit dessen künstlerischer Qualität. Wenn sich also etwas mit der Ukraine, dem Klimawechsel oder dem Globalen Süden beschäftigt, stellt man sich die Kunstfrage gar nicht mehr (Was an diesem Objekt ist eigentlich Kunst?), sondern reagiert darauf, dass Künstler:innen sich überhaupt mit diesem spezifischen Thema beschäftigen. Würde man dem folgen, wäre Kunst abhängig von der Bedeutung seines Darstellungsgegenstandes. Ein Kunstwerk einer Kreuzigung wäre dann bedeutsamer als ein Kunstwerk eines Pissoirs, ein MeToo-Kunstwerk wichtiger als eine Landschaftsdarstellung. Das mag kulturgeschichtlich ab und an der Fall sein (aber nicht immer, wie Marcel Duchamps Urinoir belegt), künstlerisch gilt es aber nicht, ganz im Gegenteil. In der Kunst sind alle Themen und Inhalte nur Anlässe (außerästhetische Substrate), anhand derer Künstler:innen ihr Werk entwickeln. Ob das Werk künstlerisch herausragt, wird an seiner formalen Durchdringung und nicht an der Bedeutsamkeit seines Inhalts entschieden. Dass wird im deutschen Feuilleton oft übersehen. Dann wird die bloße Tatsache, dass sich jemand auf den Ukraine-Krieg bezieht, schon zum künstlerischen Argument. Dass ist auch dort der Fall, wo es etwa um Tierrechte geht. Ein Artefakt wird aber nicht besser oder schlechter, wenn es sich für oder gegen Tierrechte einsetzt. Die Künstler:innen werden uns vielleicht sympathischer, wenn wir ihr Anliegen teilen, aber das macht ihre Kunst nicht qualitätvoller.

Zum zweiten: Künstler:innen nutzen außerästhetische Substrate, um ihr Werk zu gestalten, Farben, Formen, Themen, Erzählungen, Bilder, Klänge usw. usf. Es gehört zur Kompetenz in der Kunstkritik, nicht nur zwischen Kunst und Darstellungsgehalt unterscheiden zu können, sondern auch, den Darstellungsgehalt selbst korrekt einzuordnen, z.B. die Ikonographie. Das ist ein Teil der Bildung, die für die Kunstkritik Voraussetzung ist.

Man kann kunstgeschichtlich etwa die Leistung Donatellos bei der Darstellung der Maria Magdalena nur angemessen würdigen, wenn man zum einen weiß, wer Maria Magdalena überhaupt ist, wie sie in der Bibel und in späteren Legenden dargestellt wird und wie andere Künstler vor Donatello mit diesem Stoff umgegangen sind. Wer daher Maria Magdalena irrtümlicherweise für eine Figur aus der Orestie oder aus den homerischen Erzählungen hält, wird auch seine Leser:innen in seiner Kunstkritik in die Irre führen, weil seine Maßstäbe dann die falschen sind. Oftmals sind solche Zuordnungen von Stoffen gar nicht so einfach, wie ein luzider Hinweis von Karl dem Großen und seinem Hoftheologen Theodulf von Orléans in den Libri Carolini zeigt. Sie fragten, wie man mit zwei Kunstwerken umgehen soll, von denen eines Venus und Cupido und das andere Maria und Christuskind zeigt, man aber nicht weiß, an welches Bild welcher Titel gehört – und welches damit zu verehren ist. Sie plädieren für ein schlichtes Kunsturteil.

Nun aber zum Auslöser meines Beitrages. In der taz stellt Tim Mustroph die Kunst der jüngst verstorbenen Lin May Saeed vor, die im Kolbe-Museum ausgestellt wird. Der angesehenen Künstlerin geht es auf der inhaltlichen Seite um das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren, spezifischer um Tierrechte. Formal arbeitet sie u.a. mit der Darstellung von Tieren mit Hilfe des Materials Styropor. Die Kunstkritik widmet nun sehr viele Aufmerksamkeit dem kritischen Engagement der Künstlerin, nicht zuletzt auch dort, wo es sich mit dem künstlerischen Engagement überschneidet. Manchmal schießt die mitfühlende Kunstkritik dann aber doch übers Ziel hinaus.

Saeeds Figuren (sind oft) überlebensgroße Hunde und Schakale, die sie aus dem Werkstoff Styropor herausschält. Der Werkstoff ist bewusst gewählt, als subtile Klage gegen die Vermüllung der Natur: Styropor ist nicht biologisch abbaubar, die Kunst aus ihm ist daher toxisch.

Die Logik dahinter stimmt in doppelter Hinsicht nicht. Zum einen bedarf es einer anderen Begründung für den Werkstoff als ausgerechnet den Protest gegen die Vermüllung der Natur. Das hat ja die gleiche Evidenz, als wenn ich besonders viel mit dem Flugzeug fliegen würde, um gegen den zunehmenden Flugverkehr zu protestieren. Das ist ein performativer Selbstwiderspruch. Ich kämpfe gegen ein Problem, indem ich es vergrößere – wie subtil. Das hat etwas von den Verschärfungstheorien der RAF, wonach die Zustände erst noch viel schlimmer werden müssten, bevor die Revolution eintreten könne. Und zum zweiten: Styropor ist (vielleicht) biologisch nicht abbaubar, aber deshalb ist es noch lange nicht toxisch. Dem Styropor beigemischte Flammschutzmittel können giftig sein, aber nicht das Styropor selbst. Ob Mehlwürmer Styropor nicht doch verzehren und in CO2 und verrottbares Gut umsetzen können, wird seit 2015 erforscht. Aber selbst wenn Styropor nicht abbaubar und toxisch wäre, würde damit keinesfalls auch die Kunst toxisch. Das ist ein Denkfehler, denn man verwechselt das Objekt mit der Kunst.

Das Museum liefert nun eine etwas anders geartete, aber ebenso wenig plausible Erklärung:

Auch werden in ferner Zukunft nicht Bronze oder Marmor als bildhauerisches Material Zeugnis menschlichen Schaffens ablegen, da sie verfallen sein werden. Styropor hingegen bleibt intakt. Deshalb ist dieser auf Erdöl basierende, biologisch nicht abbaubare Kunststoff der von Lin May Saeed bevorzugte Werkstoff für ihre Arbeiten.

Was immer das besagen soll (und wie fern die Zukzbft auch sein mag), es trifft nicht zu. Styropor lässt sich leicht vernichten, ich will keinem Ikonoklasten Tipps geben, aber mit Hilfe von Aceton bleibt von den Arbeiten der Künstlerin wenig übrig. Das wäre bei Bronze oder Marmor nicht so. Marmor, um nur das anzumerken, ist vor 30 Millionen Jahren entstanden und wird seit 2600 Jahren abgebaut. Man sollte diese Stoffe im Blick auf ihre Beständigkeit nicht in einen Vergleich mit Styropor bringen. Die kleine Bronzeskulptur von Helmut Lander, die vor mir auf dem Schreibtisch steht, wird jede Styroporskulptur überleben – wir werden es nur alle nicht mehr erleben.

Als Theologe fand ich noch folgende Beschreibung in der Kunstkritik amüsant:

Auch biblische Geschichten animierten die Künstlerin. Sie zeigt den heiligen Hieronymus in genau dem Moment, in dem er einem hinkenden Löwen einen Dorn aus der Pfote zieht. Der bleibt der Legende nach zum Dank bei den Mönchen. Er muss dort Wachdienst schieben, wird später wegen eines vermeintlichen Fehlers sogar bestraft, bis sich zum Ende alles fein auflöst.

Ist das nicht schön, wie die gute alte Bibel immer wieder (auch für den Theologen) überraschende Geschichten zu erzählen weiß? Und der geschilderte Löwe ist sicher froh über sein Schicksal, ergeht es ihm doch ganz anders als dem im vierzehnten Kapitel des Richterbuches erwähnten Löwen, den Simson komplett zerreißt. „Da kam der Geist des Herrn über Simson, und Simson zerriss den Löwen mit bloßen Händen, als würde er ein Böckchen zerreißen“. Albrecht Dürer hat dieser Szene eine sehr schöne Grafik gewidmet, die freilich auf Tierrechte wenig Rücksicht nimmt. Im Vergleich dazu hat der Löwe des Hieronymus noch Glück gehabt – bei biblischen Helden weiß man ja nie genau, woran man ist.

Aber in welchem Buch der Bibel finden wir eigentlich die ‚biblische Geschichte‘ von Hieronymus und dem Löwen? Erraten, in gar keinem, weil der Kirchenvater Hieronymus im ausgehenden 4. und beginnenden 5. Jahrhundert nach Christus zu den Übersetzern der Bibel gehörte und weder zu ihren Verfassern noch zum dargestellten Inhalt! So kann er schlecht in der Bibel vorkommen und dort für ein besseres Mensch-Tier-Verhältnis eintreten. Auch diesem Mensch-Tier-Verhältnis hat Albrecht Dürer ein schönes, freilich im Blick auf die Legende allzu idyllisches Bild gewidmet.

Denn so gemütlich als Tischvorleger war das Leben für den Löwen des Hieronymus nicht, er wurde (geradezu widernatürlich) zum Schutztier eines Esels ernannt, musste nach dessen Diebstahl sogar dessen Funktion als Lasten­träger übernehmen (da die Mönche ihn verdächtigten, den Esel gefressen zu haben) und wurde erst spät rehabilitiert. Erzählt wurde diese Legende aber nicht vor dem 8. Jahrhundert nach Christus und damit etwa 700 Jahre nach deb biblischen Schriften. Biblisch ist an der Geschichte wenig, aber sie ist natürlich – wie bei allen mittelalterlichen Geschichten – voller Bezüge auf die Bibel. Wer die Geschichte des zahmen Löwen in ihrer ganzen Schönheit nachlesen will, kann dies in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine tun, die seit dem 13. Jahrhundert die Heiligengeschichten popularisierte.

Die sich mir in dieser Ausgestaltung der Legende aufdrängende Frage ist aber die, welche Tier-Rechte der Esel eigentlich gegenüber dem Löwen hat? Und welcher Gerichtshof wäre in der Lage, einen solchen Prozess zwischen zwei Tieren oder gar zei Tierarten zu führen? Sonst bleibt die ganze Debatte über Tierrechte doch letztlich wiederum nur eine anthropozentrisch beschränkte. Biblisch heißt es, dass erst in der Heilszeit den Tieren gegeneinander Rechte eingeräumt werden.

„Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinanderliegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.“

P.S.: Damit keine Missverständnisse entstehen: Natürlich kann die Kunst bestimmten kontroversen Themen eine größere öffentliche Aufmerksamkeit zukommen lassen, sie kann verdichtete Bilder für komplexe Szenarien schaffen (wie Picasso mit „Guernica“ für die verbrecherische Attacke auf die spanische Zivilbevölkerung oder Caspar David Friedrich mit dem „Mensch am Meer“ für die Romantik). Das ist seit 2000 Jahren eine der großen Leistungen von Kunst. Das soll hier nicht bestritten werden. Der Anlass für ein Kunstwerk sollte unseren Blick aber nicht trüben, wenn es um ein Kunsturteil geht. Picassos „Massaker in Korea“ ist ganz sicher aus Engagement entstanden – aber es ein schlechtes Werk. Und es gibt so unzählig viele Kunstwerke, die aus Engagement geboren wurden, aber es eben nicht verdienen, Kunst genannt zu werden. Diese Frage stellt sich nun im vorliegenden Fall nicht, es ist gute Kunst, die von Lin May Saeed in der Ausstellung präsentiert wird. Aber wenn ich ganz ehrlich bin und nur mein subjektives Geschmacksurteil äußern sollte: der Hund von Alberto Giacometti überzeugt mich weiterhin mehr. Aber es ist nur ein Bronze-Werk, man könnte also abwarten, was zuerst verfallen wird.