Die Grenzen der oralen Kultur

Die Flucht aus der Schriftkultur in die angeblich authentischere orale Kultur ist zum Scheitern verurteilt.

Das Lob der präsentischen oralen Kultur gegenüber der angeblich vergangenheitsbesessenen Schriftkultur lebt davon, dass man heute gar nicht mehr in die Situation geraten kann, in einer primär oralen Kultur leben zu müssen – von extrem seltenen Ausnahmen abgesehen. Selbst die ostentative Kritik an der Schriftkultur kann man schließlich nur in der Schriftkultur entfalten – wodurch quasi ein performativer Selbstwiderspruch entsteht.

Man möchte auch keinem heutigen Menschen ein Leben in einer bloß oralen Kultur wünschen. Zum einen sind auch orale Kulturen, anders als manche es sich erträumen, durchaus machtbestimmte Kulturen. Wer welche Sprecher-Rolle übernimmt und übernehmen darf, ist geregelt und in Machtstrukturen zum Erhalt der Gruppe (oder Horde) eingebettet. Klaus Wolschner schreibt auf seinen Seiten zur „Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft“ über die orale Kultur:

Wer reden darf und kann, hat Macht und macht die Umstehenden zu Zuhörern. In oralen Gesellschaften ist machtpolitisch geregelt, wer die gemeinsamen Wahrheiten zur Sprache bringen kann und damit Gemeinschaft stiftet und festigt. Wissen in oralen Kulturen wird verkörpert, erhält seine Autorität durch die Person, die es ausspricht. Wahrheit ist gebunden an den Redner. Das irritierte Platon an der Schriftkultur: Wie kann es Weisheit ohne den Weisen geben, der dafür bürgt und Nachfragen im Dialog erläutern kann?

Verstehen können wir als Eingeborene einer Schriftkultur das Funktionieren einer oralen Kultur gar nicht (mehr), sie ist uns geradezu wesensfremd geworden. Der exemplarisch gemeinte Verweis auf eine präsentische(re) orale Theaterkultur gegenüber einer sich in den alten Texten erschöpfenden bzw. an ihnen abarbeitenden Theaterkultur führt da durchaus in die Irre. Denn ohne Schrift gäbe es kein Theater. Wenn überhaupt etwas von der Schrift abhängig ist, dann das Theater. Wir haben keine Hinweise auf eine Kultur des Theaters in den Zeiten, die noch keine Schrift kannten. Die ältesten Belege für eine Theaterkultur führen uns nach Ägypten in die Zeit vor etwa 4000 Jahren, also in eine Zeit, die schon 5000 Jahre von der Schriftkultur geprägt worden war.

Man kann sich natürlich mit Hilfe von ethnologischen Beschreibungen (etwa der Pirahã-Kultur) die Zeit vor der Schriftkultur schönreden – leben wollte da kaum jemand, der heute lebt und zum Beispiel auf zeitzeichen.net schreibt, nicht einmal für 14 Tage im Exotik-Urlaub.

Wobei schon das Wort „Zeitzeichen“ für eine orale Kultur schlicht unverständlich wäre (freilich wissen auch nur noch die wenigsten Angehörigen der heutigen Schriftkultur, was Zeitzeichen sind, können es aber immerhin nachschlagen: „beim nächsten Ton des Zeitzeichens ist es …“).

Das Denken und die Vorstellungen von Gemeinschaft werden von der oralen Kultur beeinflusst:

Was gesagt und was gedacht wird, drückt weniger Subjektives als Exemplarisches aus. Ein „Ich“ in einer oralen Kultur sieht sich in dem Bezug zu der Gruppe, als Teil eines kollektiven Wir. Jedes Reden ist auf das Kollektiv bezogen, abweichendes, originelles Reden stellt das Gemeinsame in Frage. Da gibt es kein „Ich“ mit einer komplexen individualpsychologischen Selbst-Wahrnehmung. Das situative Denken kann kein „Ich“ aus der umgebenden Welt und ihrer kommunikativen Dynamik herauslösen. Es gibt keine abstrakte, über alle Ereignisse konstante Persönlichkeits-Struktur, der einzelne Mensch ist nur Teil der Situation. [Klaus Wolschner]

All das ist für Eingeborene der heutigen Gesellschaften kaum erträglich. Man kann, wie das viele im Gefolge von Claude Lévi-Strauss getan haben, von Traumzeiten träumen, von der Flucht in schriftlose und scheinbar freiere Gesellschaften. Aber das ist bloß ein eskapistischer Traum, den sich nur Privilegierte leisten können, nicht aber jene, die kaum über die Runden kommen. Selbst die moderate Kritik an der Schriftkultur in Richtung einer verstärkten Berücksichtigung oraler Strukturen stößt schnell an ihre Grenzen. Natürlich kann man sagen:

Ich schlage einen anderen Weg vor, und zwar dass wir uns die ambivalenten Dynamiken von Schriftlichkeit bewusst machen und ihren negativen Aspekten entgegenarbeiten. Dass wir also neue Narrative setzen und uns aktiv darum bemühen, in eigenen Worten über Erfahrungen und Werte zu sprechen, ohne immer und immer wieder auf den abendländischen Kanon zurückzukommen.

Ich glaube jedoch nicht, dass dies ein sinnvoller Vorschlag ist. Er verkennt die Voraussetzungen unserer Kultur. Man meint, „jeder habe das Recht, seine eigene Lebensweise zu gestalten und sich dabei auf sein eigenes Gefühl für das wirklich Wichtige oder Wertvolle zu stützen“. Dann bleibt aber nur noch die Orientierung am unmittelbar und subjektiv Wahrgenommenen, ohne dass man sich über den „unentrinnbaren Horizont“ der Wahl klar würde. Das funktioniert so nicht. Der Philosoph Charles Taylor schreibt in „Das Unbehagen an der Moderne“: wollte ich …

„die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und über­haupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist. Die Authentizität ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forderungen voraus“

Letztlich geht es darum, „‘wer’ wir sind und ‘woher wir kommen’ … Sobald wir begreifen, was es heißt, sich selbst zu definieren und zu bestimmen, worin die eigene Originalität besteht, erkennen wir, dass wir ein Gefühl für das, was Bedeutung hat, im Hintergrund voraussetzen müssen.“ Und dazu gehört notwendig die Schriftkultur.

Medien(un)kunde

Es gibt Texte, die bringen einen zur Verzweiflung, weil man nicht erkennen kann, ob sie zur Gattung der Ironie, der Satire oder zur Realsatire gehören.

Es gibt Texte, die bringen einen zur Verzweiflung, weil man nicht erkennen kann, ob sie zur Gattung der Ironie, der Satire oder zur Realsatire gehören.

Ich lese gerade einen Meinungsbeitrag, der damit einsetzt, dass die Menschen immer neueste Medien beargwöhnen, allerdings dies selten gegenüber dem ersten Medium anwenden würden „das die Menschheit je erfunden hat: die Schrift.“ Und schon zucke ich zusammen und frage mich, ob das ernst gemeint ist.

Wenn man einmal zum engeren Begriff der „Menschheit“ nur den Homo Sapiens zählt, nicht den Homo Neanderthalensis oder gar den Homo Erectus, dann befinden wir uns in einem Zeitraum von mehr als 300.000 Jahren vor heute. Die Schrift wurde dagegen erst vor knapp 9.000 Jahren erfunden. Demnach wäre die Menschheit 291.000 Jahren medienfrei gewesen. Jeder/Jede weiß sofort, dass das Bullshit ist. Die Steinzeit mit den ältesten Werkzeugen menschlicher Wesen vor dem Homo Sapiens beginnt vor 2,6 Millionen Jahren und bekommt ihren Namen von ihrem Mediengebrauch. Die Bilder in den Höhlen von Chauvet (die nun eindeutig dem Homo Sapiens zugeordnet werden) sind mit Sicherheit über 39.000 Jahre alt und sind damit 30.000 Jahre älter als die Schrift. Zumindest die Bilder an den Höhlenwänden kann man als vom Menschen erfundenes Medium bezeichnen. So gesehen ist die Schrift eines der jüngsten Medien der Menschheit.

Ob unsere sehr frühen Vorfahren das Feuer auch zur Kommunikation genutzt haben, können wir nicht mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich ist das aber schon und dürfte ein noch älterer Gebrauch von Medien zur Kommunikation sein. Die menschliche Sprache, die orale Kultur geht der Schrift voraus, sie ist spätestens vor 22.000 Jahren vollständig ausgebildet. Es macht m.a.W. keinen Sinn, von der Schrift als dem ersten Medium des Menschen zu reden. Es sei denn, man definiert den Menschen über seinen Schriftgebrauch. Die Geschichte des Menschen setzt dann mit der Schrift ein, alles andere ist die menschliche Vorgeschichte. Das war ein Ansatz, den Leopold von Ranke vertreten hat: Er lässt die Geschichte der Menschheit dort beginnen, „wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige, schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.“ Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit teilen sich demnach an der Schrift.  Erst wenn die Menschen beginnen, mittels der Schrift ihre Existenz zu reflektieren, kommen sie zu sich selbst und sind keine Tiere mehr. Derartiges wird heute nicht mehr vertreten.

Dagegen war für den Philosophen Wilhelm Weischedel das Entwerfen von Bildern ein Grundgeschehen im Dasein des Menschen und ohne Bilder gibt es für den Menschen keine Welt. Geschichte setzt nach Weischedel also wesentlich früher ein und zwar mit den frühesten menschlichen Bildern, die wir heute etwa auf die Zeit von 40.000 vor Christus ansetzen. Es gibt aber gute Gründe, den Mediengebrauch des Homo Sapiens noch deutlich früher anzusetzen.

Der von mir gelesene Text meint nun, die Schrift halte uns „mit einem Fuß im Gestern“ fest. Das kann man mit guten Gründen bezweifeln.

Nun glaube ich schon nicht, dass wir in einer Schriftkultur leben, mir scheint die Vermutung viel wahrscheinlicher, dass die Menschen schon immer visuell präfiguriert und orientiert waren. Die Schriftorientierung galt immer nur für bestimmte (herrschende) Schichten der Gesellschaft. Ob die Schriftkultur nun patriarchalisch überformt ist, darüber kann man trefflich streiten. Die visuelle, also wesentlich ältere Kultur der Menschen ist es nicht (bzw. nur in den Hochzeiten des Christentums). Sie begleitet aber die Schriftkultur seit deren später Entstehung. Wir können an den Bildern der Höhle von Chauvet sehen, dass sie überwiegend von Frauen gefertigt wurden, wir können an den Artefakten der frühen Homo Sapiens sehen, dass sie sich an der Welt der Frauen orientieren. Die Bilderkultur ist eine offene Kultur, vor allem eine deutungsoffene Kultur. Was gerade vielleicht noch eingebunden war in den religiösen Kult, kann schon kurz darauf für die reine ästhetische Erfahrung oder als kulturgeschichtliches Dokument freigesetzt werden. Friedrich Schiller hat das in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung der Menschheit hervorgehoben. Kultur – auch Theater- und Schriftkultur – ist grundsätzlich polyvalent. Auch und gerade dort, wo sie der Kanonbildung unterliegt, bleibt Kultur von offenen Kunstwerken bestimmt, deren Deutung und Lesart eben nicht fixiert werden kann. Deshalb ist die Orestie im Wiener Burgtheater ein Gegenwartsstück. Sie erzählt uns nicht ein historisches Ereignis, sondern öffnet einen geistesgegenwärtigen Blick auf das Jetzt.

Die Geschichte der Bibel ist ein besonders gutes Beispiel für eine derartige fortdauernde Präsenz, noch jede Generation findet in diesem Buch ihre Geschichte und ihre Geschichten. Was ich aber überhaupt nicht zu teilen vermag, ist der Gestus, der die Bibel abschreibt und empfiehlt, alles doch mal in eigene Worte zu fassen. „Auch den Schriftreligionen täte es im Übrigen gut, wenn sie ihre Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen öfter mal in eigene Worte fassen, statt dauernd aus der Bibel oder einer anderen Heiligen Schrift zu zitieren.“ Was für eine erbärmliche Kultur wäre das. „Sie werden lachen: nur meine eigenen Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen“ – antwortete Bertolt Brecht auf die Frage nach seiner Lieblingslektüre. Ach, nein, er wählte lieber die Bibel als unentrinnbarem Horizont.

Umberto Eco schrieb 1984 in der Nachschrift zu seinem berühmten Roman „Der Name der Rose”, dass heutzutage freilich niemand mehr überlieferte Formen unbefangen verwenden könne, ohne sich der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen. Aber ebenso habe sich auch die permanente Kritik der überlieferten Formen erschöpft. Wer heute aktuell Bezug auf historische Formen nehme, müsse diese vielmehr als Zitate und Fundstücke der Tradition kenntlich machen. Mit anderen Worten „die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, dass die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muss: mit Ironie, ohne Unschuld”. Das scheint mir eine fortdauernde Einsicht zu sein.

Günther Anders – Eine Re-Lektüre

Günther Anders über die durch Apparate gesteuerte Wahrnehmung.

Das Sehen ist überholt und abgeschafft. Und ersetzt durch das Photographieren. Wo einer doch etwas anblickt – lass dich nicht irreführen: das tut er ausschließlich als Angestellter seines Herrn, der ihm um den Hals hängt, nämlich seines photographischen Apparats. Ich beobachtete eine holländische Reisegesellschaft. In dieser war einer, dessen Leica streikte und der offensichtlich hysterisch und atemlos wurde vor Versäumnispanik, weil er die Sehenswürdigkeiten, die ihm reif und knipsbar in die Augen hineinhingen, nicht pflücken konnte, während seine Reisekollegen rechts und links das konnten. Sich die Piazza oder den David oder Donatellos Judith anzusehen, auf diesen Gedanken kam er gar nicht, Augen hatte er ausschließlich für die anderen, für die Glücklicheren, die sich knipsend ihre Befriedigung verschaffen durften, und die er, bebend vor Missgunst und vor Neid, der fast wirkte wie Sexualneid, bei ihrer Tätigkeit beobachtete. – Einer dieser Glücklicheren ließ sich sogar knipsend knipsen, gewiss, um zuhause das Aufregendste, was es in Italien zu erleben gegeben hatte: nämlich eben sein Knipsen, vorweisen zu können. Wer etwas sieht, ohne es aufnehmen zu dürfen, der «hat» nichts vom Gesehenen, der «hat» es nicht. Nur knipsend «haben» sie … Bleibt nur die bescheidene Frage, was man vom Leben noch hat, wenn man weder mehr zu sehen noch zu erinnern braucht.

Was Günther Anders hier in seinem Italien-Reisebuch von 1956 (!) beschreibt, ist von der Wirklichkeit längst dramatisch überholt worden. Zwar halten die Besucher:innen weiterhin die Kamera (nun als Digitalkameras) zwischen sich und die Wirklichkeit (obwohl es doch hochauflösende und besser ausgeleuchtete Bilder online gibt), sie können die Wirklichkeit auch gar nicht mehr sehen (nur noch fotografieren), weil die Kulturindustrie mit ihren den Blick steuernden Kommentaren sich dazwischen drängt. Das Bild ist nur noch wahr, wenn eine zertifizierte Stimme im Ohr es dazu erklärt hat. In einem gewissen Sinn kehrt die Menschheit so zurück in das Mittelalter, zumindest in vorreformatorische Zeiten. Es bedarf bestallter Kleriker:innen der Kunstgeschichte, die einem vermitteln, was auf den Bildern gültig ist und was nicht. Das sapere aude ist einem Folgen auf das erläuternde Wort gewichen. Heil aus dem Heilsschatz der Kunstgeschichte gibt es nur noch, wenn man dem normierenden Wort folgt.

Das unterscheidet die heutigen Menschen von der Bildertheologie Luthers: Luthers Beitrag zur neuen Verfügbarkeit des Bildes betrifft nicht dessen Hersteller, sondern den Empfänger. Luther legt den Grund für die Betrachterästhetik, die Kunst als einen (nominalistischen) Vereinbarungsbegriff auffasst. Der Betrachter soll vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben. Er hat das letzte Wort. Luthers Bildempfänger ist kein fraglos Anstaunender, in ihm steckt ein potentieller Interpret, der kritisch nach dem Woher und Wozu, nach dem Umraum des Kunstgegenstandes fragt. [Werner Hofmann]. Diese Erkenntnis ist aktuell wieder im Schwinden begriffen. Wir wollen uns als Subjekte nicht mehr erproben, sondern nur noch der Stimme namenloser Kommentator:innen folgen.

Kulturindustrie II. Eine weitere Reiseerfahrung

Ein weiterer Beitrag zur kulturindustriellen Präfigurierung unseres Blicks.

Mitte September 2023 bin ich im Rahmen einer privaten Reise in Padua. Auch dort geht die Kolonisierung der Lebenswelten weiter und auch hier versucht die Kulturindustrie bzw. in diesem Fall die religiöse Verwaltung die authentische ästhetische und religiöse Erfahrung von Artefakten in den Griff zu bekommen und die Wahrnehmung der Besucher:innen kontrolliert zu steuern. Bisher war nämlich das Baptisterium des Domes in Padua nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes frei zugänglich. Man zahlte seinen Obolus und konnte sich nun dem Hauptwerk von Giusto de’ Menabuoi widmen. Er ist ein Maler aus der zweiten Generation nach Giotto. 1370 zieht Menabuoi nach Padua und steigt dort zum Hofmaler der örtlichen Herrscherfamilie der Carraresi auf. In diesem Zusammenhang erhält er den Auftrag, das Baptisterium des Domes als künftige Grabkapelle der Carraresi auszumalen. Und am Ende steht ein in sich stimmiges komplexes Werk, das die Betrachter:innen jedes Mal fasziniert und zu eigenen Entdeckungen einlädt.

Nun aber läuft alles anders. Man muss sich im Dom-Museum anmelden, bekommt dann einen Time-Slot zugewiesen, indem eine audiovisuelle Führung durchgeführt wird, die einen ideologisch (d.h. religiös-katholisch) und ästhetisch präfiguriert. Zunächst wird man in einen Saal geführt, der eine Multimedia-Show enthält, die einem Grundlagen des Christentums bzw. des Katholizismus anhand der Bilder beibringt. Darauf hätte ich gerne verzichtet. Mag sein, dass die Bildung weltweit so weit herabgesunken ist, dass ein großer Teil der Menschheit Kunstwerke wie dieses nicht mehr aus sich heraus verstehen kann, aber diese katholische Dröhnung ist wirklich zu viel. Seit der Moderne sind Kunstwerke nicht mehr Ideologie-Schleudern, sondern eigenständige Artefakte mit einer eigenen Sprache und Botschaft. Das gefällt den alten Herren nicht und so suchen sie die Artefakte wieder in den religiösen Kosmos einzufangen, indem sie die Besucher:innen religiös belehren und einnorden.

Und wenn man dann endlich in die Kapelle tritt, so sind die Bilder nicht frei zugänglich, sondern unterliegen einer gesteuerten Wahrnehmung. Man kann seinen Blick nicht frei schweifen lassen, weil nur das, worüber der Audioguide gerade redet, auch erleuchtet wird, der Rest liegt im Dunkeln. Und die Menschen sind schon so zugerichtet, dass sie das auch noch als freundliche Hilfestellung empfinden. Das ist es aber nicht, sie werden eben nicht zu eigener Wahrnehmung emanzipiert, sondern, ganz im Gegenteil, gesteuert – ganz zu ihrem Besten natürlich. Ja, Kunstwahrnehmung ist manchmal etwas anstrengend, herausfordernd und voraussetzungsreich. Aber die neuen kulturindustriellen Vermittlungsstrategien verhindern, dass überhaupt jemand authentische oder sagen wir besser: individuelle Erfahrungen machen kann. Immer treten Apparate zwischen das Werk und das Subjekt, letztlich könnte man genauso gut zu Hause eine Dokumentation auf Arte schauen. Traurige Zeiten.

Kulturindustrie I. Eine Reiseerfahrung

Es wird immer schlimmer. Zur kulturindustriellen Präfigurierung unserer Bildwahrnehmung.

Anfang September bin ich mit einer Reisegruppe in Brügge und Gent und besuche dabei auch den Genter Altar. Nach vielen Jahren der Restaurierung ist dieser nun wieder „zugänglich“ und wird den Besucher:innen mit Hilfe einer umfassenden Augmented Reality Show vorgestellt. Das ist der neue Trend in der kulturellen Vermittlung, eine Entwicklung, die sich schon seit Jahrzehnten abzeichnete. Der erste Grundsatz lautet: authentische, subjektive, eigene ästhetische Erfahrungen werden dem Publikum gar nicht mehr zugetraut. Bevor es das Kunstwerk betrachten darf, wird es ideologisch geschult, genauer: kulturindustriell zugerichtet. Man bekommt einen Kopfhörer mit Brille aufgesetzt und wird in die Unterkirche geschickt, um in einem dreiviertelstündigen Programm die Hintergründe zu erfahren, von denen die Betreiber:innen vermuten, dass heutige Besucher:innen nicht mehr darüber verfügen. Und mehr oder weniger merkbar werden dabei auch Ideologien untergeschoben, die der Interessenlage der Auftraggeber:innen entsprechen. Etwa dass Hubert van Eyck der ursprüngliche Schöpfer des Genter Altars sei. Das ist Unsinn, zwar gab es einen Hubert van Eyck, er ist mit Jan van Eyck aber nicht verwandt, kein Werk von ihm ist erhalten, er starb völlig verarmt 1426, obwohl er angeblioch doch den Auftrag für den Genter Altar bekommen hatte. In Gent giibt es einen Kult um Hubert, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Unterzeichnungen des Altars nur eine Handschrift, nämlich die von Jan van Eyck zeigen. Zur Motivation kurz die Zusammenfassung der Wikipedia:

Nils Büttner sieht die Motive für die Hinzufügung der Inschrift im Genter Lokalpatriotismus des 16. Jahrhunderts. Denn Jan van Eyck kam aus Brügge, war also kein Genter, während der zufällig namensgleiche Hubert als Genter Maler belegt war. Gent und Brügge standen seit jeher in Konkurrenz. Es war bei humanistischen Gelehrten beliebt, die eigene Heimatstadt mit einem „Städtelob“ zu feiern. Dabei ging es natürlich nicht an, dass das berühmteste Kunstwerk der Stadt von einem Auswärtigen geschaffen worden war. Weil Hubert van Eycks Name in Gent überliefert war, wurde er kurzerhand zum Bruder Jan van Eycks gemacht und dem auswärtigen Jan vorangestellt.

Das hindert die Genter bis heute nicht daran, an der Urheberschaft von Hubert van Eyck festzuhalten und als Wahrheit den Besucher:innen zu vermitteln. Und das gelingt ihnen um so effizienter, als dass die Besucher:innen der per Augmented Reality vermittelten Information gar nicht entgehen können. Der zweite „Preis“ den die Besucher:innen zahlen müssen, ist, dass Kunstwerke, die früher den Besuchenden frei zur Betrachtung offen standen, nun in die Führung eingebunden und ganz nebenbei abgehandelt werden. Und auch dabei wird alles der Genter Ideologie unterworfen, denn nicht Hugo von der Goes, sondern Justus van Gent soll das faszinierende Altarbild in der Unterkirche geschaffen haben. Aber die Wissenschaft weist es van der Goes zu:

Von seiner Hand sind heute fünfzehn Altarbilder und Gemälde bekannt. Darunter befindet sich das Kalvarienberg-Triptychon, das lange Zeit Justus von Gent (Joos van Wassenhove) zugeschrieben wurde. Die meisten Experten sind sich mittlerweile einig, dass es sich um das Werk von Van der Goes handeln muss.

Heute aber ist das Werk nur noch im Rahmen der Augmented-Reality-Tour zugänglich, die früher vorhandene Kapelle zur stillen Andacht mit dem Kunstwerk wurde vollständig der Kulturindustrie geopfert, eine authentische Erfahrung des Altars von Hugo van der Goes (auch als religiöses Artefakt) ist nicht mehr möglich. Das ist eine Katastrophe. Die Besucher:innen bekommen dagegen Schmonzetten von geraubten und wieder zurückgekehrten Teilen des Genter Altars zu hören, die mit der Erfahrung des Werkes aber auch rein gar nichts zu tun haben und eigentlich nur Marginalien sein dürften. Aber so wird alles getan, damit die Bedeutung des Altars gar nicht mit eigenen Wahrnehmungen erschlossen werden kann.

Und wenn man sich dann endlich, nach 45 Minuten kulturindustrieller Zurichtung, dem Genter Altar nähern kann, sucht man das vorher Gehörte im Werk auch zu sehen. Für die ästhetische Erfahrung ist das barbarisch. Um eine Formulierung von Reinhard Hoeps aufzugreifen:

Die Bilder werden einer ihnen vorgängigen außerbildlichen Realität untergeordnet, der sie im Schema symbolischer Repräsentation zu gehorchen haben.

Man sieht nur noch, was man vorher gehört hat. Und die Besucher:innen sind auch noch dankbar, weil sie all das ja nicht gesehen hätten, wenn ihnen nicht jemand bereits vorhergesagt hätte, dass das auf dem Bild zu sehen ist. Grundsätzliche Wahrnehmungen, wie etwa die gleiche Größe des ersten Menschenpaares mit Gottvater, die in der Einführung nicht erwähnt werden, aber sehr augenscheinlich sind, geraten so aus dem Blick.

Der gesamte Genter Altar ist aber heutzutage in einem Glaskäfig platziert, ganz so wie die Alien-Königin in Alien 4 – Die Wiedergeburt durch den Wissenschaftler Dr. Jonathan Gediman in einen ausbruchssicheren Glas­käfig eingesperrt wurde

Das geschieht in der Hoffnung, dass das Kunstwerk seiner ideologischen Rahmung nicht entkommen kann. Und anders als in Alien 4 ist diese Hoffnung beim Genter Altar sogar begründet. Er wird nie wieder frei sein und seine genuine ästhetische Qualität entfalten können. Er ist von den Kulturmanager:innen in einen Käfig gesperrt worden und wird nur noch distanziert zugänglich gemacht, wenn man sich vorher mit einer bestimmten Ideologie hat überschütten lassen.