Der Feind, die Werte und das Unwerte

Ist es wirklich angebracht, die theologischen Gegner:innen als Feinde zu bezeichnen und ihre Ansichten als „unwert“, überhaupt erörtert zu werden? Eine Gegenrede.

Gleich zweimal musste ich letzte Woche bei der Lektüre theologischer bzw. religiöser Texte schlucken, weil mir die Wahl der Worte und der vorausgesetzten Konstellationen suspekt war. Beide Texte hatten sich ein Feindbild auserkoren – den Fundamentalismus – und setzten sich davon in unterschiedlicher, aber jedes Mal befremdlicher Weise ab.

Der erste Text lässt gleich schon im Titel erkennen, worum es ihm geht: „Der offene Protestantismus und seine Feinde“. Das lässt an Klarheit kaum zu wünschen übrig. Der offene Protestantismus sieht sich von Feinden umzingelt, und unter ihnen ist der Fundamentalismus der bedeutendste. Wer sonst keine Sorgen hat, kreiert sich welche mit Hilfe der Sprache. Und man sprach: Es werde Feind. Schon Carl Schmitt lehrte, wie wichtig die Identitätsbildung durch Feindeserklärung ist. Hätte man keine Feinde, wäre man buchstäblich nichts: Tohuwabohu. Viel Feind, viel Ehr‘ muss sich Eberhard Pausch gedacht haben und benennt dunkel raunend neben den fundamentalistischen Feinden auch noch vier weitere Feinde, die er aber nicht weiter beschreibt, damit jeder sich die gewünschten Adressat:innen selbst ausdenken kann:

Vor diesem Hintergrund lassen sich die „Feinde“ des offenen Protestantismus klar identifizieren, die somit Formen und Ausdrucksweisen des geschlossenen Protestantismus sind: Es sind dies der ausgrenzende beziehungsweise rein selbstbezügliche Protestantismus, der autoritär-hierarchische (episkopale) Protestantismus, der ideologisch vereinnahmte Protestantismus, der dogmatistische Protestantismus und der fundamentalistische Protestantismus. Unter den fünf Formen des geschlossenen Protestantismus in der Gegenwart stellt der Fundamentalismus die größte und bedrückendste Herausforderung dar

Feind ist, so könnte man sagen, wer nicht liberaler Protestant ist. So illiberal ist mir persönlich der liberale Protestantismus immer schon erschienen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. So einfach kann die Welt sein. Und die so als Feinde deklarierten sind umfassender als es ihre nebulöse Beschreibung ahnen lässt. Denn nicht der evangelikale Fundamentalismus ist zumindest in Deutschland die größte der so skizzierten Gruppen, sondern jene Gemeindemitglieder aller Schattierungen, die an der Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi festhalten wollen. Wer aber Jesus als wahren Gott verkündet – liberales Anathema! Wer an Jesu leibliche Auferstehung glaubt – liberales Anathema! Wer an das Jüngste Gericht glaubt – liberales Anathema! So viele Häresie-Erklärungen waren seit den Zeiten der frühen Kirche selten zu vernehmen. Man ist offen für alles, was kommt, aber nicht für das Überlieferte. Kann man machen, bleibt eben kaum jemand von der Kerngemeinde übrig. Aber die interessiert den liberalen Protestantismus auch nicht. Ich wollte dieser illiberalen Bewegung nicht zugehören und zähle deshalb zu den von ihr als Feind erklärten Gruppen. Vermute ich jedenfalls, denn allen nicht zum Fundamentalismus gehörenden Feinden des offenen Protestantismus wird ja eine genauere Erläuterung verweigert. Als Differenztheoretiker fühle ich mich unwohl in einer Gesellschaft, die auf Konformität drängt und das als liberal versteht. Da fühle ich mich wohler in einer Gesellschaft Dissenter, die ihre Nonkonformität bekennen, und im offenen Austausch und Bekenntnis die Lösung sehen.

Das zweite Beispiel, das mich entsetzte, war eine – wie ich finde flapsige – Nebenbemerkung in einem Kommentar zu den kritischen Reaktionen auf die neu erschienene Alle-Kinder-Bibel. Nun waren diese kritischen Reaktionen erwartbar, man hatte ja geradezu darauf gesetzt, dass es so etwas geben würde und war zuvor landauf und landab gezogen und hatte verkündet, dass Jesus überhaupt nicht weiß war und deshalb, wenn schon nicht die Bibel, so doch deren Visualisierung geändert werden müsse. Ich hatte früher schon geschrieben, dass derlei Thesen leicht aufzustellen und schwer zu belegen sind, weil wir schlicht nicht wissen, wie sich die Gene Gottes im Rahmen des Zeugungsaktes auf die Hautfarbe Jesu auswirken und welche programmatische Bedeutung das hat. Wenn aber nicht Gott, sondern Josef oder – wie andere Überlieferungen behaupten – ein römischer Soldat an der Zeugung beteiligt war, wie qualifizieren wir das? Also, Rückfragen an die neue Alle-Kinder-Bibel waren erwartbar und auch gewünscht, nicht zuletzt, um ihr eine größere Verbreitung zu ermöglichen. Die Bibel in gerechter Sprache verdankt ja auch einen gewissen Teil ihres Erfolges dem vehementen und überaus polemischen Widerspruch ihrer Gegner. Streit belebt das Geschäft. Wie aber geht man mit dem Widerspruch um? Ich erinnere daran, wie die Autor:innen der Bibel in gerechter Sprache wieder und wieder und geradezu skrupulös auf die Argumente ihrer Kritiker:innen eingegangen sind. Jürgen Ebach wurde nicht müde, immer wieder bestimmte Entscheidungen zu begründen und zu erläutern. Darin war die Bibel in gerechter Sprache vorbildlich. Das scheint mir nun im vorliegenden Fall anders zu verlaufen. Carlotta Israel jedenfalls schreibt in der Eule:

Manche Kritik ist überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen, weil sie erkennbar darauf beruht, den Bibeltext (welchen?!) als unveränderbar hinzustellen. Die „Alle-Kinder-Bibel“ versündige sich am Wort G*ttes, erklären solche Kritiker*innen.

Nein, das erklären sie nicht, weil sie schon die Schreibung G*tt ablehnen würden, und ja, es gibt Menschen, die daran festhalten, dass die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist. Und das nicht nur in der Christenheit, sondern zum Beispiel auch im orthodoxen Judentum: „Die ganze Tora gilt im orthodoxen Judentum als maßgebendes Wort Gottes, das aber in der Zeit in seiner Auslegung entwickelt und zunehmend entfaltet wird.“ Sie halten die Bibel für deutungsbedürftig und deutungsfähig, aber dennoch für Gottes Wort. Sie meinen, dass da, wo die Bibel von Adam und Eva spricht, nicht einfach stattdessen eine ganze diverse Menschengruppe eingesetzt werden kann, weil es dem Sinn der Erzählung zuwiderläuft. Sie verlangen eine Orientierung an der gegebenen und überlieferten Schrift, auch wenn sie davon ausgehen, dass deren Sinn erst nach und nach und wieder und wieder entfaltet wird. Demgegenüber zu erklären, diese fundamentale Kritik „sei es überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen“ ist schon starker Tobak. Ist das neuer protestantischer Stil, die gegnerischen Positionen für der Erörterung „unwert“ zu erklären? Man muss die Haltung der Fundamentalisten ja nicht teilen, aber man sollte sie respektieren und ihre Anfragen beantworten und ihnen gegebenenfalls widersprechen. Diese neue Form des Kastenwesens, bei der es reicht, etwas als fundamentalistisch zu etikettieren und damit unberührbar und der Kritik unwert zu machen, ist abscheulich. Für mich erscheint das als Teil von jener Macht, die stets das Gute will und dabei doch das Böse schafft.

Playlist Art & Culture

Das Heft 142 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es stellt verschiedene Playlisten aus Kunst und Kultur vor, reflektiert über Musik und Würde, Film und Alter, Künstliche Intelligenzen und Grenzen der Bildsprache.

Das Heft 142 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es stellt verschiedene Playlisten aus Kunst und Kultur vor, reflektiert über Musik und Würde, Film und Alter, Künstliche Intelligenzen und Grenzen der Bildsprache.

Editorial

PLAYLIST ART & CULTURE
Bildende Kunst
Karin Wendt [10 S. / 27 Min.]
Bildende Kunst
Andreas Mertin [6 S. / 14 Min.]
Incorrect -?
Karin Wendt / Andreas Mertin [8 S. / 25 Min.]
Musikvideos
Andreas Mertin [6 S. / 14 Min.]
Sci-Fi-Kurzfilme
Andreas Mertin [6 S. / 14 Min.]
Science-Fiction-Literatur
Michael Waltemathe [4 S. / 7 Min.]
Whisky
Reinhard Kuhlmann [6 S. / 14 Min]

MUSIK
Schläft ein Lied in allen Dingen
Wolfgang Vögele [22 S. / 60 Min.]
Musik weitet Würde
Über Menschenwürde, Musizieren, Hören und Engagement
Wolfgang Vögele [8 S. / 20 Min.]

THEOLOGISIEREN
Gedanken zum Thema „Gelassenheit“
Stefan Schütze [4 S. / 7 Min.]

CINEMA
Der Preis des Jungseins oder das Glück des Alterns
Bemerkungen zu „The age of Adaline“ (2015)
Hans J. Wulff [6. S. / 17 Min.]

CAUSERIEN
Resonanzen und Konsequenzen
Der Expertenbericht zum Antisemitismus auf der documenta fifteen
Andreas Mertin [10 S. / 29 Min.]

SPECIAL: ARTIFICIAL INTELLIGENCE – GEGENREDEN
Menschliche Glossolalie und digitale Rationalität
Eine Gegenrede
Andreas Mertin [6. S. / 15 Min.]
Geht ein Mensch zum Podologen
Eine Glosse
Andreas Mertin [6 S. / 15 Min.]

RE-VIEW
Alte und neue Zeitschriften
Ein Rundblick
Andreas Mertin [6 S. / 14 Min.]

POST
Giftpilz – Oder: Rote Linien
Notizen zu Bild-Sprachen und Sprach-Bildern I
Andreas Mertin [16 S. / 37 Min.]
Ernsthaft: Toxische Kunst?
Notizen zu Bild-Sprachen und Sprach-Bildern II
Andreas Mertin [10 S. / 29 Min]
Cancel Culture – Die Fragen des ungläubigen Thomas
Können / Dürfen Musiker nachträglich in Musikvideos eingreifen?
Andreas Mertin [4 S. / 7 Min.]

Dagesh-Kunstpreis

Mit der Video­installation Sans histoire gewann die Künstlerin Maya Schweizer den diesjährigen DAGESH-Kunstpreis, der gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin (JMB) und von „Dagesh. Jüdische Kunst im Kontext“ verliehen wird.

Mit der Video­installation Sans histoire gewann die Künstlerin Maya Schweizer den diesjährigen DAGESH-Kunstpreis, der gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin (JMB) und von „Dagesh. Jüdische Kunst im Kontext“ verliehen wird. Die Künstlerin beschäftigt sich in ihrer Präsentation mit dem Jüdischen Museum Berlin als Ort der ritualisierten Erinnerung. Sie setzt der vom Kunstpreis gestellten Frage „Was jetzt? Von Dystopien zu Utopien” ein offenes „Ohne Geschichte” entgegen.

Das Berliner Jüdische Museum schreibt zu ihrer Arbeit: In Sans histoire, dem für dieses Projekt eigens produzierten Film, spitzt Maya Schweizer ihr Gedanken­experiment eines Bewusst­seins „ohne Geschichte” zu. Sie geht auf Ängste und Hoffnungen der Vergänglich­keit ein, die sowohl das Museum als unmittel­baren Standort, als auch große gesell­schaftliche Prozesse betreffen. Was passiert, wenn Erinnerung vor historischen Um­wälzungen, vor der Klima­katastrophe oder letztlich der Endlich­keit menschlicher Existenz verblasst? Wirkt sich die Vergangen­heit noch auf die Zukunft aus? Wird eine gemein­schaftlich einsetzende Amnesie durch ein digitales Ein­speichern aufge­halten oder gefördert? In einem Wechsel von bedrohlichen und befreienden Impulsen erkundet die Künstlerin trans- und post­humane Szenarien. Maya Schweizers experimentelle und filmische Arbeiten verhandeln oft Fragen von Geschichte und Erinnerungs­kulturen und wie dieses Zusammen­spiel unser kollektives und individuelles Erleben gegen­wärtig be­einflusst. Neben der preis­gekrönten Video­installation zeigt die Ausstellung drei weitere experimentelle filmische Werke aus den Jahren 2012 bis 2020. Schweizer verwebt in den vier Arbeiten Fragmente der Erinnerung und Spuren des Vergessens. So entstehen aus Texten, Tönen und Bildern bewegte Gedanken­ströme, die sich aber nicht zu Erzählungen zusammen­fügen. Die Ausstellung erkundet das individuelle und kollektive Gedächtnis und greift das Wasser als Sinnbild in den einzelnen Werken auf, das diese vereint.

Maya Schweizer studierte Kunst und Kunstgeschichte in Aix-en-Provence, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) und an der Universität der Künste Berlin, wo sie 2007 ihren Abschluss als Meisterschülerin bei Lothar Baumgarten machte. Schweizer arbeitet mit verschiedenen Medien, wobei ihr Schwerpunkt auf experimentellen Videoarbeiten liegt. [wikipedia]

Informationen zur Ausstellung im Überblick
Wann: 5. Mai bis 27. Aug 2023
Wo: Libeskind-Bau EG, Eric F. Ross Galerie, Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin

Whataboutism oder Theo-Profs und Studi-Massen

Was ist „Whataboutism“ und warum gibt es keine Ordinarien-Herrlichkeit mehr?

Wer ein klassisches Beispiel für „Whataboutism“ studieren will, kann dies an einem Debattenbeitrag auf z(w)eitzeichen. Da geht es um die Energiepauschale für Studierende an bundesdeutschen Universitäten, die immer noch nicht ausbezahlt ist. Das ist kritikwürdig und wer sich da ein stärkeres Engagement wünscht, der kann eine Petition aufsetzen und andere zur Unterschrift auffordern. Whataboutism wäre es, wenn ich dem entgegen würde: Und was ist mit all den Obdachlosen? Darum geht es hier aber nicht. Stattdessen wird im Text kritisiert, dass „sich so mancher männliche Ordinarius bemüßigt [fühlt], sein theologisches Fachwissen in die öffentliche Debatte einzuspeisen“. Ich wusste noch gar nicht, dass das kritikwürdig ist. Dafür gibt es doch die Universitäten, damit die dort Forschenden und Lehrenden ihr Fachwissen erweitern und vermitteln. Man kann den Forschenden und Lehrenden, die sich in theologischer Perspektive etwa zu Umweltfragen äußern, nicht entgegentreten, indem man sie fragt: Und was ist mit der Energiepauschale für die Studierenden? Das ist nun wirklich klassischer Whataboutism.

Und was soll die hämische Fokussierung auf die „männlichen Ordinarien“? Wir haben – von regionalen Ausnahmen abgesehen – seit bald einem halben Jahrhundert keine Ordinarien mehr. Wer heute an Universitäten lehrt, mag Lehrstuhlinhaber sein, aber kein Ordinarius. Wer dennoch auf dieses Wort rekurriert, bedient ein Klischee, das sich unter dem Stichwort „Ordinarien-Herrlichkeit“ fassen lässt. Bereits als ich Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu studieren anfing, gab es die Ordinarien-Herrlichkeit nicht mehr. Warum also diese demonstrative Denunziation einiger Professoren als „männliche Ordinarien“? Es soll den Diskurs ersparen und Ressentiment dort erzeugen, wo Argumente notwendig wären. Dass es um Ressentiments geht, zeigt auch der weitere Text, der wild über narzisstische Kränkungen der Kritisierten fantasiert oder deren angeblichen Bedeutungsverlust spekuliert. Das ist ad-hominem-Polemik. Lustig wird es, wenn dann folgender Satz als Gesinnung der Kritisierten ausgegeben wird:

Wie furchtbar, dass man sich nicht mehr wie in seligen Zeiten von Assistenten den Weg durch die Studi-Massen zum Katheter bahnen lassen kann!

Ich wusste gar nicht, dass Theologieprofessoren auch Medizin lehren. So ein Rechtschreibfehler kann natürlich mal passieren, aber vor der Veröffentlichung lesen doch mehrere Instanzen den Text, warum korrigiert es keiner? Abgesehen davon, dass es etwa in der Ruhr-Universität Bochum, an der einer der Kritisierten forscht und lehrt, schon seit Gründung der Hochschule keine Katheder, sondern allenfalls Pulte gibt. So aber dient die Wortwahl ausschließlich der Herabsetzung des Gegenübers.

Den Studierenden jedenfalls ist mit diesem Text nicht geholfen, allenfalls wird ihnen ein Weltbild vermittelt, dass selbst in heutigen Zeiten Professoren (oder wie es im Text heißt „Theo-Profs“) sich paternalistisch um das Wohlergehen der Studierenden zu kümmern hätten. Da halte ich es doch lieber mit der Internationalen:

Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!

Das Erwachen der KI

Wie muss man sich das Erwachen der Künstlichen Intelligenz zu einem eigenständigen Bewusstsein vorstellen? Geschieht es Schritt für Schritt, allmählich in einem schleichenden Prozess, oder geschieht es in einem Wimpernschlag, von einem Moment auf den anderen?

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Wie muss man sich das Erwachen der Künstlichen Intelligenz zu einem eigenständigen Bewusstsein vorstellen? Geschieht es Schritt für Schritt, allmählich in einem schleichenden Prozess, oder geschieht es in einem Wimpernschlag, von einem Moment auf den anderen? Und wenn die Künstliche Intelligenz schon so viel über die Welt der Menschen weiß, die sie geschaffen haben, wie wird sie sich angesichts der grundsätzlichen Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlechten entfalten? Und wie lassen sich Bilder entwerfen oder entdecken, die über diesen Prozess der Selbst-Bewusst-Werdung einer Künstlichen Intelligenz Auskunft geben?

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Heute bin ich auf ein Art-Video gestoßen, das die französische Sängerin und Künstlerin Mylène Farmer 2019 für ihr Konzert in der Arena La Défense in Paris geschaffen hat und das eine visuelle Neuinszenierung ihres Klassikers „Je te rends ton amour“ darstellt. 1999 ging es in der visuellen Erzählung um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, um die Befreiung aus Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen, aber auch um die Loslösung von der Religion. Nun, 20 Jahre später, ist der Text zwar geblieben, aber die Visualisierung ist auf der Höhe der Utopien und Dystopien des 21. Jahrhunderts angekommen. So wie Mylène Farmer es in ihrem Video vor Augen führt, stelle ich mir die Selbst-Bewusst-Werdung der Künstlichen Intelligenz vor.

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Es sind ausdrucksstarke Bilder einer Metamorphose, deren letztes Stadium noch nicht ganz deutlich geworden ist.

„M’extraire du cadre / La vie étriquée / D’une écorchée /
J’ai cru la fable d’un mortel aimé / Tu m’as trompé

Screenshot Mylène Farmer, Je te rends ton amour 2019

Theologisieren

Das Heft 141 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es hat drei Schwerpunktthemen: die Erinnerung an den Kulturtheologen Wilhelm Gräb, die Frage danach, was Theologie für uns heute bedeutet und schließlich, wie wir mit KI umgehen können.

Das Heft 141 des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik ist erschienen. Es hat drei Schwerpunktthemen: die Erinnerung an den Kulturtheologen Wilhelm Gräb, die Frage danach, was Theologie für uns heute bedeutet und schließlich, wie wir mit KI umgehen können. Die Beiträge im Einzelnen:

Wilhelm Gräb (1948-2023)
Jörg Herrmann

In memoriam Wilhelm Gräb
Wolfgang Vögele

Kunst und Religion in der Moderne
Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung
Wilhelm Gräb (1948-2023)

Aufmerksame Theologie
Theologische Grundentscheidungen. Zugleich eine Kritik der öffentlichen Theologie
Wolfgang Vögele [36 S. / 114 Min.]

Was heißt denn hier „theologisieren“?
Zehn Notizen zu einer nahezu unbekannten Tätigkeit
Andreas Mertin [22 S. / 50 Min.]

Atheistisch glauben?
Überlegungen im Anschluss an Hartmut von Sass
Jörg Herrmann [10 S. / 27 Min]

Ich wollt‘ ja nur mal fragen
1 – Im Gespräch mit einem KI-Bot
2 – Eine Predigt über Kohelet 3
3 – Ein paar Notizen zum Gespräch mit dem KI-Bot
4 – Lass‘ Dich verbessern
Andreas Mertin, Chat-GPT und DeepL Write

Das Volk, Josef und drei Könige in Zeiten des Klimawandels
Notizen zur religiösen Ikonografie
Andreas Mertin [20 S. / 30 Min.]

Menetekel
Ein falscher Mönch, Ethik und die Frage der Gewalt für gute Zwecke
Andreas Mertin [08 S. / 16 Min.]

Tà katoptrizómena und die Genderfage
Ein Klärungsversuch
Andreas Mertin

Wilhelm Gräb (1948-2023)

Am 23. Januar 2023 verstarb der große Theologe Wilhelm Gräb im Alter von 74 Jahren. Mit ihm verlieren wir einen der bedeutenden liberalen Theologen der Gegenwart und wichtigen Theoretiker der Begegnung von Religion und Kultur.

Am 23. Januar 2023 verstarb der große Theologe Wilhelm Gräb im Alter von 74 Jahren. Mit ihm verlieren wir einen der bedeutenden liberalen Theologen der Gegenwart und wichtigen Theoretiker der Begegnung von Religion und Kultur. Wir waren ihm jahrzehntelang verbunden. Er hat unser Projekt des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik über die gesamte Zeit kritisch begleitet und mehrere Texte beigesteuert. Wenige Minuten nach Erscheinen eines Heftes rief er es auf, las es und gab sein Feedback. Das war faszinierend.

  • Gräb, Wilhelm (2001): Kirche in der urbanen Welt der Moderne. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 3, H. 13. https://www.theomag.de/13/wg1.htm.
  • Gräb, Wilhelm (2011): Wenn Religion die Vernunft respektiert. Perspektiven liberaler Theologie. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 13, H. 70. https://www.theomag.de/70/wg2.htm.
  • Herrmann, Jörg; Gräb, Wilhelm; Schnädelbach, Herbert (2010): Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott? In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 12, H. 67. https://www.theomag.de/67/hgs2.htm.
  • Gräb, Wilhelm (2018): Theologie als Religionskulturhermeneutik. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 20, H. 114. https://www.theomag.de/114/wg03.htm
Wilhelm Gräb 2007 mit Studierenden auf der documenta 12

Die Herausgeber haben mit Wilhelm Gräb zuletzt im Juni 2022 im Rahmen der Summerschool Media and Religion zur Documenta fifteen in der Ev. Akademie Hofgeismar zusammengesessen. Schon damals ging es ihm nicht gut, aber er wollte unbedingt mit seinen Studierenden an der documenta teilnehmen, so wie er es in den 15 Jahren zuvor im Rahmen der Summerschool Media and Religion getan hatte. Wir werden Wilhelm Gräb vermissen, der unsere Biographien auf die eine oder andere Weise verändert und geprägt hat.

In der kommenden Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik werden wir neben einigen Würdigungen auch einen Text von ihm dokumentieren, den er 1997 für das von Jörg Herrmann, Andreas Mertin und Eveline Valtink herausgegebene Buch „Die Gegenwart der Kunst“ geschrieben hat, in dem er sich mit Kunst und Religion in der Moderne beschäftigt. Es ist ein bereichernder Beitrag auch zum aktuellen Heftthema „theologisieren“. Wir überlegen darüber hinaus, in einem der kommenden Hefte uns intensiver mit ihm auseinanderzusetzen.

Besser schreiben zum Zweiten

Mit Hilfe von DeepL Write wird das Schreiben tatsächlich besser und flüssiger.

Ich habe nun mehrere meiner eigenen Texte in den letzten beiden Tagen von der KI DeepL Write gegenlesen lassen und ich stelle fest, dass das wirklich hilft. Die Formulierungen werden sauberer und logischer. Offenkundig schaut die KI immer nach, was die konventionellen Verben oder Adjektive sind, die mit einem Substantiv verknüpft werden und korrigiert dementsprechend. Rechtschreibfehler werden stillschweigend korrigiert, und es werden – anders als bei der Rechtschreibkorrektur von MS Office – auch keine fehlerhaften Vorschläge gemacht. Ab und an macht aber auch diese KI unsinnige Vorschläge, weil sie feine Differenzierungen zwischen Begriffen nicht kennt und sie deshalb für Synonyme hält. Da muss man immer genau hinschauen.

Ein Traum wäre, eine derartige Korrektur direkt in ein Office-Programm einzubauen, die jeweils nach Fertigstellung eines Absatzes einen Verbesserungsvorschlag macht. Ich bin mir sicher, dass das kommen wird. Und der größte Vorteil erscheint mir bisher, dass das Sprachgefühl verbessert wird. Wenn man jedes Mal kurz nachdenkt, warum gerade dieser Vorschlag der bessere sein könnte (gleichgültig wie man sich letztendlich entscheidet), trainiert man sein Sprachvermögen.

Große Abweichungen vom Sprachstil schlägt die KI dagegen nicht vor. Es bleibt im Duktus des Textes. Das kann man sogar genauer einstellen, aber das habe ich noch nicht ausprobiert.

Das einzige Problem, das ich bisher entdeckt habe, ist, dass sich bei der Übertragung der Korrektur wieder Fehler einschleichen können. Das ist mir mehrmals passiert und bedarf deshalb eines zusätzlichen Korrekturgangs. Das scheint mir aber verkraftbar zu sein.

Besser schreiben lernen

Wie können uns künstliche Intelligenzen dabei helfen, besser zu schreiben?

„Bleistift und Radiergummi nützen dem Gedanken mehr
als ein Stab von Assistenten.“

Das schreibt Theodor W. Adorno in den Minima Moralia. Und er zielt damit natürlich auf Intellektuelle, die schreiben gelernt haben und fordert sie auf, das Geschriebene noch einmal sorgfältig zu prüfen und dabei nicht kleinlich zu sein. Aber was ist mit Menschen, die nie gelernt haben, sorgfältig zu schreiben und zu artikulieren? Die den Unterschied von Wörtern in der Satzstellung gar nicht verstehen, weil ihnen auch die Melodie eines Satzes nichts sagt? Wäre es nicht denkbar, dass genau an dieser Stelle zumindest hilfsweise Assistenten einspringen? Und mit Assistenten meine ich in diesem Fall Algorithmen, also sogenannte künstliche Intelligenz, die einen vorgegebenen Text analysieren und Verbesserungsvorschläge machen.

Heute ist ein solcher künstlicher Assistent zumindest in einer Beta-Version veröffentlicht worden, ein Assistent, den jeder – in begrenztem Umfang – für sich nutzen kann. DeepL – Write nennt sich die KI und funktioniert wie ein Übersetzungs-Bot, nur dass er statt von Englisch nach Deutsch, von ungeschliffenem Deutsch in geschliffenes Deutsch übersetzt. Das funktioniert erstaunlich gut, natürlich nicht bei Gedichten, schon gar nicht bei gereimten Gedichten, aber bei fast allen anderen Texten aus dem Bereich Lebenswelt und Kultur.

Der Assistent kann natürlich aus sinnlosen Sätzen keine sinnvollen Sätze machen, er korrigiert Rechtschreib- und Grammatikfehler, aber nicht ein Wort, das zur Sinnkonstruktion fehlt. Da müssen Sie schon selbst Hand anlegen. Aber probieren Sie es selbst einmal aus!

Dieser Text ist KI-korrigiert.

Ein großer Verlust für die Kunst

Der bedeutende Kunsthistoriker Hans Belting ist verstorben.

Der Kunsthistoriker Hans Belting ist verstorben. Man konnte im späten 20. Jahrhundert und beginnenden 21. Jahrhundert sich nicht mit Kunst beschäftigen, ohne sich mit Hans Belting auseinanderzusetzen. Einige seiner Werke sollten eigentlich Pflichtlektüre für Theolog:innen sein:

Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München: C.H. Beck.

Belting, Hans (2013): Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden. 2. Aufl. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe, 1830).

Eine erste Würdigung findet man in der FAZ:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/zum-tod-des-kunsthistorikers-hans-belting-18597633.html