Wer Bibelverse zitiert, sollte doch auch den Kontext bedenken. Zur Kritik der Theologen an der CDU.
Und da sind sie wieder, die Meister des ausgestreckten Zeigefingers, die mit Vorliebe auf Andere deuten, sie als „unchristlich“ bezeichnen und sich einzelne Verse aus der Bibel picken, um ihre politischen Parolen damit abzufedern.
Nun berufen sich die Kritiker:innen der CDU auf einen biblischen Vers, um ihre Etikettierung zu rechtfertigen. Diese Kalenderspruch-Rhetorik ist immer problematisch, denn Bibelverse haben einen Kontext und der ist selten so, wie es sich die Zitaten-Sammler:innen wünschen. Im vorliegenden Fall picken sie sich Jesaja 16, 3f. heraus. Das ist – kontextbefreit – ein netter Satz zur Apologie der eigenen Haltung in der Flüchtlingsfrage, aber mehr auch nicht.
Sobald man näher hinschaut und den Kontext berücksichtigt, wird es schwierig. Schon der Tonfall gegenüber dem Volk der Moabiter ist in Jesaja 16 schwer erträglich. Er ist paternalistisch durch und durch, mit stolzgeschwellter Brust bietet man dem feindlichen, nun aber bedrohten Volk die Hilfe an. Lass sie nur kommen, sie werden auch wieder gehen, wenn der Herr die rechten Leute dort an die Regierung und Macht gebracht hat. Die EU könnte es nicht besser sagen.
Ist es das, was uns die Kritiker:innen der CDU vermitteln wollen? Oder haben sie gar nicht an die Moabiter gedacht, sondern fanden den Spruch nur einfach cool – so wie der Killer in Pulp Fiction immer einen coolen Spruch aus der Bibel zitiert, bevor er abdrückt.
Die CDU könnte die Steilvorlage ihrer Kritiker:innen aber durchaus aufgreifen, und darauf hinweisen, dass es in der biblischen Geschichte ganz unterschiedliche Fraktionen gab, die in der Flüchtlingsfrage gegensätzliche Positionen vertraten.
Als Israel versuchte, sich unter persischer Herrschaft neu zu konstituieren, stellte sich die Frage, ob man den Völkern gegenüber auf radikale Absonderung oder auf friedliche Koexistenz setzen sollte. Eine Richtung will die nationale Identität durch eine scharfe Abgrenzung nach außen herstellen. Als Protagonisten dieser Strömung verbieten Esra und Nehemia in Fortführung deuteronomistischer Absonderungsgedanken z.B. Ehen mit ausländischen Frauen (Esr 10; Neh 13). Die andere Richtung ist Ausländern gegenüber aufgeschlossen und setzt sich für Toleranz ein. So entwerfen die Bücher Rut und Jona in Auseinandersetzung mit nationalistischen Strömungen ein positives Ausländerbild, um so für eine offene Einstellung zu werben. In diesem Konfliktfeld, das seinen Niederschlag auch in eschatologischen Entwürfen findet, sind die unterschiedlichen Positionen gegenüber Moab zu sehen.[Wibilex, Art. Moabiter]
Und schon sieht die Welt ganz anders aus. Auch die CDU könnte sich mit ihrer Politik der nationalen Abgrenzung auf die Bibel beziehen, nur eben nicht auf dieselben Verse. Von wegen unbiblisch oder unchristlich. Persönlich finde ich die Rut-und-Jona-Haltung auch sympathischer, bin aber weit davon entfernt, die Haltung Esras und Nehemias als unbiblisch zu verwerfen.
Wenn zwei mehr als die Hälfte von zehn ist – dann stimmt etwas nicht mit der mathematischen Intelligenz.
Klaus Kelle verstolpert sich in seinem islamophobischen Grimm wieder mal in der Statistik. Anfangs verwechselt er Fiktion mit Realität, versteht in guter alter Sturm-und-Drang-Ästhetik Kunst als seismographisches Element künftiger Wirklichkeiten. Aber die Unterwerfung von Houellebecq ist ein Roman, keine Zukunftsforschung. Das sollte man tunlichst unterscheiden. Nun warnt uns Klaus Kelle mit eindringlichen Worten vor einer islamischen Mehrheitsgesellschaft in wenigen Jahren. Schon bald, etwa 2050 werden die muslimischen Bürger:innen in der Bundesrepublik Deutschland die Mehrheit bilden.
Das ist ja spannend. Sein Beleg für diese These? Eine Behauptung von Thilo Sarrazin aus dem Jahr 2010, als dieser schrieb, schon in 30 Jahren werde die Mehrheitsgesellschaft muslimisch sein. Und da konnte er ja von der Flüchtlingskrise noch gar nichts wissen. Nun ist die Hälfte der von Sarrazin in den Blick genommenen Zeit um und da sollte man doch denken, dass die Muslime, wenn schon nicht 50%, dann aber doch 25% der deutschen Bevölkerung ausmachen. Das haben sie nicht ganz geschafft – diese bösen Politiker:innen der Grünen, die ja ganz Deutschland ‚überfremden‘ wollen. Nach der letzten Erhebung entspricht der Bevölkerungsanteil aktuell etwa 6,7% der Gesamtbevölkerung.
Nun könnte man sagen, was nicht ist, kann ja noch werden. Aber auch Zukunftsprognosen können nicht einfach aus dem hohlen Bauch erfolgen, sondern müssen wissenschaftlich solide sein. Das Pew-Forschungsinstitut hat für 2050 eine Prognose vorgelegt. Und wie immer bei wissenschaftlichen Prognosen gibt das Institut eine Varianz an, je nachdem wie die Rahmenbedingungen sich ändern. Nach dem Szenario 1 (keine weitere Zuwanderung) kommt das Institut für 2050 aufgrund der Geburtenrate auf einen muslimischen Anteil von 8,7%. Das Szenario 2 geht von einem moderaten Anstieg aus, eher Migration als Flüchtlingsstrom. Dann käme man auf 10,8% der Gesamtbevölkerung. Im Szenario 3 geht es um einen kontinuierlichen Flüchtlingsstrom wie 2015 und hier käme man auf 19,5% der Gesamtbevölkerung. Für Christen wird für das Jahr 2050 übrigens ein Gesamtbevölkerungsanteil von 59% vermutet. Nun könnte man sagen, der Anteil der Christen sei ja heute schon geringer, aber dann verwechselt man Kirchenzugehörigkeit und religiöse Orientierung. Man wird nicht Atheist, nur weil man aus der Kirche austritt. Klaus Kelle aber müsste erklären, inwieweit 20% Muslime gegenüber 80% von Nicht-Muslimen eine Mehrheit bilden können. Aber vermutlich ist das mal wieder die schweigende (diesmal muslimische) Mehrheit, von der Kelle so gerne fantasiert.
Wie man Hass erzeugt, indem man mit Worten die Fakten verschleiert.
Klaus Kelle veröffentlicht auf seinem Blog einen Text vom Blog von Boris Reitschuster, in dem dieser ein Posting auf X von Yvonne Kussmann bespricht. Ein Spiel über die Bande. Die Schlagzeile lautet: Opfer zweiter Klasse: Zwei Mordopfer, denen keiner eine Träne nachweint. Das ist, man ahnt es schon, unwahr (ganz abgesehen vom impliziten Widerspruch, dass Reitschuster beteuert, er habe beim Lesen des Posts geweint). Denn eine kurze Suche zeigt, dass nicht nur die Medien über die Tat berichtet haben, sondern sich auch zahlreiche Menschen und Politiker:innen betroffen dazu geäußert haben. Aber man kann ja einfach mal das Gegenteil behaupten – wer überprüft das schon? Das Posting von Frau Kussmann lautete so:
„Zwei ukrainische Jungs, die Schutz in Deutschland erhielten, werden von einer Bande Migranten auf offener Straße getötet. Außer ein paar Meldungen in diversen Medien geschieht nichts. Kein einziger Politiker äußerte sich bis dato.“
Wer entdeckt die Fehler? Ohne weitere Recherche kann man schon auf der semantischen Ebene die Demagogie spüren. Natürlich sind auch die „zwei ukrainischen Jungs“ Migranten, was sollten sie sonst sein? Eine derartige Schlagzeile hört sich aber in rechten Ohren nicht mehr so gut an: Zwei Migranten werden von einer Migranten-Bande getötet. Das hätte keinen Rechten interessiert. Also muss man so tun, als gehörten die einen als Fast-Bio-Deutsche zu ‚uns‘ und die anderen als Migranten eben nicht. Das stellt die Fakten auf den Kopf. Haupttäter ist ein deutscher Staatsbürger mit türkischem Hintergrund. Opfer des Geschehens aber sind in Wirklichkeit:
die bereits erwähnten zwei 17- und 18jährige Ukrainer, ein 14jähriger Syrer und eine 13jährige Deutsch-Libanesin
Man unterschlägt die anderen Opfer einfach, sind ja nur Migranten. Tatverdächtig sind:
ein 14jähriger Grieche, zwei 14- und 15jährige Syrer und ein 15jähriger Deutsch-Türke
Die Polizei vermutet, dass diese zu einer bekannten Jugendbande gehören und die anderen Jugendlichen berauben wollten. Das ging grauenhaft schief. Zumindest gilt der Deutsch-Türke als einschlägiger Intensivtäter. Damit stellt sich die Sachlage aber ganz anders dar. Weiterhin gibt es Opfer und der Tat Beschuldigte, aber von den acht am Ereignis Beteiligten sind zwei Deutsche, nämlich ein Opfer und der Haupttäter. Da kann man aber nicht mehr eine so schöne Migranten-feindliche Story draus machen. Das stört Boris Reitschuster überhaupt nicht. Er schreibt:
Und jetzt stellen wir uns einfach mal kurz vor, die zwei jungen ukrainischen Flüchtlinge wären von Deutschen getötet worden.
Sind sie aber – von einem deutschen Staatsbürger. Und nun? In Potsdam hätte man vermutlich gesagt: diesen nichtintegrierten Deutschen schieben wir ab und alle anderen gleich mit.
Manche Rechte meinen, die Gesellschaft stehe auf dem Kipppunkt zur Verrohung. Was ist daran dran?
Es ist wieder einmal Zeit, sich mit dem rechten Rand unserer Gesellschaft zu beschäftigen, also jenen, denen beginnend mit der Partei „Die Linke“ bis zur CDU/CSU alles zu linksradikal ist. Ja, diese Leute gibt es, die die CDU für linksextrem halten und sich selbst, obwohl sie eine extrem kleine Gruppe am rechten Rand der Gesellschaft sind, für die Mitte. Und damit das klappt, müssen sie sich als Vertreter einer angeblich schweigenden Mehrheit ausgeben.
Nun schweiNun schweigt die Mehrheit ja gar nicht, sie äußert sich dezidiert. Bei der Bundestagswahl 2021 gab es 61,68 Millionen Wahlberechtigte. Davon haben 76,6 Prozent an der Wahl teilgenommen. Um auf eine schweigende Mehrheit zu kommen, müsste man also 31 Millionen Wahlberechtigte hinter sich wissen. Und die können sich nur bei den Nichtwählern verstecken. Aber auch dann kämen die als „links“ verschrienen Parteien auf eine satte Mehrheit, fast Zweidrittel der Wahlberechtigten votieren für sie. Da bleibt kein Raum für eine alternative „schweigende Mehrheit“. Ich vermute, die Argumentation läuft so, dass man die Nichtwähler, die AfD, die Sonstigen und mehr als die Hälfte der CDU/CSU-Wähler zusammenrechnet, um auf die schweigende Mehrheit zu kommen. Und nicht einmal dann wäre die Mehrheit gesichert.
Natürlich gibt es Einzelthemen, bei denen es Mehrheiten jenseits der politischen Willensbildung der Bevölkerung gibt, etwa bei der Anwendung der Todesstrafe für bestimmte Taten. Aber das hat mit schweigender Mehrheit nichts zu tun.
Einer, der der schweigenden und natürlich rechts-konservativen Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck verhelfen will, ist Klaus Kelle. Er betreibt diverse meinungsstarke, aber selten sachkompetente Portale, mit denen er die Stimmung in Deutschland verändern will. Ein aktueller Aufmacher ist die Behauptung: „Diese Gesellschaft kippt“ (hier oder hier). Nun kippt im Augenblick ja vieles, es hängt immer davon ab, wo man gerade einmal steht. Für manche ist das Klima am Kipppunkt, für andere der gesellschaftliche Konsens (Spaltung), für dritte die Verrohung der Gesellschaft. Zu diesen dritten gehört Kelle
Jeder sieht, dass sich unsere Gesellschaft verändert. Und das, was wir da sehen, ist nicht gut. Als Beobachter und Aufschreiber kann ich mir jeden Tag ein Thema vornehmen und einfach nur Fakten aufschreiben, bei denen Ihnen Angst und Bange wird. Nehmen wir heute mal die Verrohung in unserer Gesellschaft, insbesondere unter Jugendlichen.
Und dann beschreibt er fast schon genüsslich einen Vorfall, bei dem drei Jugendliche einen Obdachlosen getötet haben, verhaftet wurden und dafür nun vor Gericht stehen und verurteilt werden. Und derartige Fälle, so behauptet Kellen anschließend, seien alltäglich:
Glauben Sie bloß nicht, dass das ein bedauerlicher Einzelfall wäre, solche Taten geschehen jeden verdammten Tag
Jeden verdammten Tag? Eine Kriminalstatistik für solche Taten (also Tötungen durch Jugendliche) nennt er nicht. Nach seiner Behauptung müsste es also etwa 365 Mordfälle durch Jugendliche pro Jahr geben. Das kommt mir extrem unwahrscheinlich vor. Nun kann man herausfinden, dass etwas mehr als 30 Minderjährige pro Jahr Opfer von Tötungsdelikten werden. Dagegen werden knapp fünfzig Jugendliche pro Jahr einer derartigen Tat verdächtigt. 50 sind aber keine 365. Statt einer pro Tag, weniger als einer pro Woche. Das ist schon ein Unterschied, zumal wie in diesem Fall ja auch mehrere Jugendliche für dieselbe Tat angeklagt werden. Ich weiß nicht, auf welchen „Werten“ eine rechtskonservative Ideologie basiert, die derart hemmungslos die Wirklichkeit verzerrt. Christliche Werte dürfen es nicht sein.
Deutschland geht vor die Hunde, und die grün-woke „Partycrowd“ tanzt dazu.
Schauen wir uns das einmal an. Wie steht es um die Jugendkriminalität seit 1991, als der von Kelle hochgeschätzte Helmut Kohl die Grundlagen für ein besseres Deutschland legte? Und schauen wir, wie danach während der Kanzlerjahre von Schröder und Merkel alles den Bach runterging. Oder doch nicht? War es vielleicht ganz anders, dass nämlich in der Zeit von Helmut Kohl die Jugendkriminalität so gestiegen ist, dass sie erst von der von Kelle viel geschmähten Angela Merkel gesenkt werden konnte? Man weiß es nicht? Doch:
Ja natürlich, früher war alles besser, bis Helmut Kohl kam. Ihm gelang es nach 1991, also in den letzten 8 Jahren seiner Amtszeit, die Zahl der Verdächtigten von knapp 140.000 auf 302.000 mehr als zu verdoppeln. Auf diesem Niveau hielt sich die Zahl in der Zeit Gerhard Schröders lange und erst unter der geschmähten Angela Merkel ging die Zahl der Verdächtigten deutlich zurück. Wer also die Mär erzählt, unsere Gesellschaft wäre in Sachen Jugendkriminalität an einem Kipppunkt, muss sich noch in der Amtszeit von Helmut Kohl wähnen. Ich bin weit davon entfernt, die gerade genannten Politiker für die Entwicklung der Kriminalitätsstatistik verantwortlich zu machen, nur so einfach, wie Herr Kelle es sich macht, sollte man es sich nicht machen und kontrafaktisch das Gegenteil von dem behaupten, was tatsächlich abgelaufen ist.
Panik erzeugen kann jeder, der Fake-News verbreiten kann, indem er etwa eine Nachrichtenseite aufsetzt. Darum geht es. Die Menschen sollen sich unsicher fühlen und deshalb zu rigiden Law-and-Order-Lösungen greifen, egal, ob die nun von der AfD oder der Werteunion angeboten werden. Da ist es völlig gleich, dass einem alle Fachleute erklären, die Statistik zeige, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Man kann einfach das Gegenteil behaupten – das haben wir durch Donald Trump und seinem postfaktischen Zeitalter gelernt. Die gefühlte Bedrohung bleibt ja bestehen. Und der gewünschte Effekt wird sich schon einstellen.
Konservativer Journalismus war früher auch schon mal besser – aber das ist auch nur so ein Gefühl. Aber früher hat der konservative Journalismus ja auch noch Werte verteidigt und nicht versucht mit dem rechten Rand zu paktieren. Zu Recht hieß es in der ZEIT einmal, der Unterschied der beiden Bewegungen laute: „Die einen wollen zerstören, die anderen erhalten“. Und man hat das Gefühl, einige Konservative wollten dann doch lieber zerstören als bewahren.
Wenn der Staat anfängt, seinen Bürger:innen mit Repressionen zu drohen.
Als ich die Meldung am Morgen des Neujahrtages las, mochte ich es gar nicht fassen. Der regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), verkündete am 31.12.2023 in aller Öffentlichkeit und zudem noch direkt in einer Polizeistation:
„Heute ist die Nacht, wenn’s denn notwendig ist, die Nacht der Repression, wo der Rechtsstaat sich versuchen wird, durchzusetzen“
Das sind Töne, die man sonst nur von totalitären Staaten kennt. Der Staat droht seinen Bürger:innen, um die Ordnung durchzusetzen, mit gewaltsamer Unterdrückung oder auch mit Willkür. Denn genau das ist es, was das Wort „Repression“ bezeichnet.
Unterdrückung ist die einem Individuum, einer Gesellschaft oder Menschengruppe leidvoll zugefügte Erfahrung gezielter Willkür, Gewalt und des Machtmissbrauchs. Als Synonym wird oft hierfür auch der Begriff Repression verwendet. Der Ausdruck Unterdrückung bezeichnet vor allem das Niederhalten einer bestimmten sozialen Gruppe und von Individuen durch missbräuchlichen Einsatz gesellschaftlicher Organe, ihrer Autorität oder anderer sozialer Maßnahmen. Mehr oder weniger offiziell in einer Gesellschaft institutionalisiert, vermag dies zur „systematischen Unterdrückung“ anzuwachsen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Begriff der Menschenrechte wurden als Kritik der Unterdrückung formuliert, in der jede Macht klar beschränkt und ein Machtmissbrauch gegen Einzelpersonen oder eine Menschengruppe sanktioniert wird. [wikipedia]
Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinerlei Legitimation, gegen die Bevölkerung oder gegen die Bewohner:innen „Repression“ auszuüben. Die Amtsträger in Deutschland sind dem geltenden Recht verpflichtet und können nicht irgendwelche außerrechtlichen Aktionen und schon gar nicht Repressionen ankündigen. Man kann einen Rechtsstaat nicht mit Repression durchsetzen – wenn er Repression anwendet, ist er kein Rechtsstaat mehr.
Das liegt in der Bedeutung des Wortes. Man kann vielleicht unterstellen, dass sich Wegner im Moment der Artikulation der Reichweite seines Ausspruchs nicht klar war. Aber schon allein die Tatsache, dass das Wort „Repression“ zum Arsenal seiner politischen Artikulationswelt gehört, sollte zu denken geben. Erst ist es nur ein Versehen, irgendwann wird es Wirklichkeit.
Was dem Staat recht ist, sollte den Bürger:innen billig sein. Plädoyer für das private Silvesterfeuerwerk.
Pünktlich zum Verkaufsstart der Silvesterraketen in den Geschäften flammt auch die alljährliche Diskussion um ein notwendiges Verkaufsverbot dieser Artikel auf. Es geht dabei nicht um ein allgemeines Feuerwerksverbot, sondern vor allem um Verbote für die private Feuerwerknutzung. Der Staat und der Handel nutzen diese Form der Präsentation ja gerne, um etwas zu feiern, nur den Bürger:innen soll dieses Vergnügen in eigener Regie madig gemacht werden. Nun gibt es gute und nachvollziehbare Gründe für ein Verbot dieser Materialien: sie schädigen die Umwelt, sie verletzen Jahr für Jahr Menschen und werden neuerdings als Waffen gegen Ordnungskräfte missbraucht. Das ist unbestreitbar und es muss überlegt werden, wie es begrenzt werden kann.
Nun ist die Debatte darüber durch eine merkwürdige Doppelmoral gekennzeichnet. In Umweltfragen wurde lange Jahre über die Feinstaubbelastung diskutiert, denn das Silvesterfeuerwerk sorgt für 1% der jährlichen Feinstabbelastung. Aber warum diskutieren wir das nur anhand des Feuerwerks und nicht auch anhand der bei den Bürger:innen so beliebten Holzöfen, die doch immerhin für 19% der Feinstaubemissionen verantwortlich sind? Man sitzt in abendlicher Runde zusammen und bekommt mit empörter Stimme die ökologische Verwerflichkeit der Silvesterraketen erklärt, während direkt nebenan der Kamin knistert. Auch bei den Verletzungen kann man fragen, wie hoch eigentlich die Quote an den Verletzungen durch die heute schon illegalen Produkte ist, die heimlich aus Polen importiert werden. Die bekäme man durch ein Handelsverbot nicht unter Kontrolle. Und bei den aggressiven Akten gegen Ordnungskräfte werden viele Gegenstände eingesetzt, vor allem Steine und Flaschen, ohne dass wir deren Verbot diskutieren würden. Silvester ist einer unter vielen anderen denkbaren Anlässen für manche, sich gewaltsam zu artikulieren. Das muss man bekämpfen, aber nicht symbolpolitisch.
In der Sache selbst, so meldet die Pyrotechnik-Industrie, vollzieht sich seit längerem ein Wandel weg von den Böllern und Raketen hin zu komplexeren Verbundfeuerwerken. Der größere Teil der Bevölkerung ist also vernünftiger als man denkt. Auch steigt der Anteil jener Artikel, die weitgehend auf Plastik verzichten und auch die Lautstärke herabsetzen. Das kann man fördern, indem man hier ordnungspolitische Akzente setzt. Das Feuerwerk selbst ist ein kulturgeschichtliches Ritual, auf das ich ungerne verzichten würde. Als privates Feuerwerk ist es zwar erst gut 120 Jahre alt, als gesellschaftliches immerhin über 1000 Jahre. Das heutige Feuerwerk zu Silvester lässt sich durchaus als Aneignung bestimmter Elemente der feudalen Festkultur durch breite Schichten der Bevölkerung beschreiben. Insofern ist Silvester fast schon revolutionär.
Weihnachten findet nicht nur an idyllischen Orten statt.
Ginge es bei den Karikaturen der arabischen Karikaturisten nicht völlig faktenfrei um den durch und durch kommerzialisierten Santa Claus der US-amerikanischen Weihnachtsindustrie (der auch in der westlichen Welt nur in den allerseltensten Fällen zu den wirklich Armen kommt), sondern um das von Lukas beschriebene Geschehen der Zeitenwende, das dort in der heutigen Westbank, also in Bethlehem lokalisiert wird, und wollte man es mit den Ereignissen im Gaza-Streifen verbinden, dann müsste man es mit einem Weihnachtsbild wie dem von Albrecht Altdorfer verknüpfen. Zumindest zeigt sich bei Altdorfer, wie stark auf den arabischen Karikaturen die Weihnachtsbotschaft verzerrt wird. Bei Altdorfer finden wir keine Idylle, keinen fetten Weihnachtsmann, der freigiebig seine Geschenke verteilt, hier wird jene Situation deutlich, in der Menschen in äußerst verzweifelter Situation keinen Platz mehr in irgendeiner Herberge finden.
Gleiches gilt für das Bild aus der Donauschule, das Wolf Huber zugeschrieben wird. und vielleicht die kleine Eiszeit spiegelt.
Die Unwirtlichkeit der Situation führt aber nicht dazu, dass das Weihnachtsgeschehen gar nicht erst stattfindet, sondern es vollzieht sich geradean einem solchen Ort. Das ist das Besondere der Weihnachtserzählung, dass sie eben nicht in der Großstadt, sondern im irgendwo stattfindet, dass sie uns nicht irgendwelche glitzernden Geschenke verspricht, keinen eitlen Tand oder irgendwelche Luxusgüter. Hier kommt aber auch nicht, wie manche meinen, ein geopolitischer Befreier zur Welt, der nun die Palästinenser in ihren Befreiungskampf oder in den Märtyrertod führt. All das ist nicht mit der Weihnachtserzählung verbunden.
Aber die Geburt des Gottessohnes ereignet sich dort, wo sonst niemand hingehen würde, er ereignet sich am unwahrscheinlichen Ort. Das ist zumindest die Hoffnung der Christen.
Blickt man auf die israelkritischen Karikaturen arabischer Karikaturisten stößt man aktuell häufig auf Santa Claus. Aber wen besucht der Weihnachtsmann eigentlich?
Dafür, dass die am Nahost-Konflikt beteiligten Parteien mit den Erzählungen des Christentums aus nachvollziehbaren Gründen sehr wenig bis gar nichts zu tun haben, und die Islamisten zudem westliche Werte im Allgemeinen eher als dekadent ablehnen, überrascht es doch, wie häufig christliche Brauchtümer und Folklore zumindest auf den israelkritischen Karikaturen vorkommen.
93% aller Palästinenser:innen sind muslimischen Glaubens, nur 6% sind christlichen Glaubens, freilich nicht im Gazastreifen. Dort ist der Anteil der Christ:innen von 15% im Jahr 1950 auf 0,05% im Jahr 2022 gesunken. Die Christ:innen dort sind zumal vor allem orthodox, bei denen Weihnachten erst am 6. Januar gefeiert wird. Wenn also auf den Karikaturen der Israelkritiker:innen Santa Claus am 11. oder 18.12. 2023 den Gazastreifen besucht, fragt man sich doch, wen er da besuchen will: alle Menschen guten Willens? Das kann er machen, aber warum? Konsequenterweise wird Santa Claus auf einer anderen Karikatur von einem israelischen Soldaten auf die Knie gezwungen und durchsucht. Mir käme ein Santa Claus Anfang Dezember im Gazastreifen auch merkwürdig vor. Zumal die arabischen Karikaturisten sich immer auf die kommerzielle amerikanische Santa Claus Figur beziehen – der mit den glitzernden Geschenken.
Wenn in Bethlehem die Weihnachtsfeiern aus durchschaubaren Gründen (vor allem aus Solidarität mit Gaza) eingeschränkt oder abgesagt werden, dann spielt das auch auf den Karikaturen eine Rolle. Wir blicken z.B. auf eine Krippengeschichte mit den Hirten (und Ochs und Esel!), den Hl. drei Königen, die freilich von israelischen Panzern umzingelt werden, während am Himmel die Flugzeuge der IDF ihre Raketen als Sterne schicken. Fehlt nur noch der Hinweis auf den bethlehemitischen Kindermord, um die Szene zu vollenden. (Die Hirten sind übrigens Palästinenser, die Könige aber keine Adligen aus Katar oder Saudi-Arabien.) Bei einem eher äquidistanten Karikaturisten besucht der amerikanische Weihnachtsmann Gaza, aber niemand kann ihn dort empfangen, weil Gaza zerbombt ist.
Auch auf den israelsolidarischen Karikaturen spielt Weihnachten bzw. Santa Claus eine Rolle, nur ist es stimmiger. Hier hat sich im Gefolge eines Weihnachtsmanns, der Geschenke verteilt, ein Hamas-Terrorist eingeschlichen, ein Hinweis auf historische bzw. aktuell angedrohte Attentate auf Weihnachtsmärkte in Europa. Auf einer anderen Karikatur gibt es einen „Clash of cultures“: während der Weihnachtsmann Geschenke bringt, transportiert der Hamas-Terrorist nur Raketen. Mit einer Ausnahme geht es aber bei keiner der Karikaturen um die im Lukasevangelium erzählten Ereignisse. Vielmehr wird der kommerzialisierte Santa Claus als Geschenkebringer aufgegriffen. Warum dieser Geschenke in den Gazastreifen bringen sollte, statt für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen, erschließt sich nicht. Aber eigentlich geht es ja auch nur darum, den westlichen Adressat:innen ein schlechtes Gewissen zu machen – ganz egal womit.
Über die Kirchen wird häufig behauptet, sie befänden sich „im freien Fall“. Warum das kaum zutrifft und wenn, es für andere Institutionen noch viel mehr gelten müsste.
Was stellen wir uns unter einem freien Fall vor? Wenn wir auf das obige Diagramm blicken, welche Linie käme wohl unserer Vorstellung von einem „freien Fall“ am nächsten (falls man nicht gleich an Fallschirmspringer:innen denkt)? Wir haben hier die Entwicklungskurven dreier Institutionen vor uns, die Einblick in das letzte Vierteljahrhundert gesellschaftlicher Veränderungen geben. Dazu wurden alle drei Institutionen für das Jahr 1998 auf 100 gesetzt und nun verglichen, wie sie sich in den folgenden 25 Jahren entwickelt haben.
Und man kann feststellen: es sieht für alle drei Institutionen wirklich nicht gut aus: Allein bis 2012 haben alle drei mindestens 10% ihres früheren „Marktanteils“ verloren. Aber sie können darauf verweisen, dass es anderen gesellschaftlichen Institutionen ebenso geht, auch diese verlieren im vergleichbaren Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz bzw. werden nicht mehr so nachgefragt, wie im letzten Jahrtausend. Wir haben seit langem eine Krise der gesellschaftlichen Institutionen. Das ist für diese eine traumatische Erfahrung. Und die Frage stellt sich, wie man damit umgehen soll. Die betrachteten Institutionen sind die Mitglieder der evangelischen und die der katholischen Kirche und drittens die Printverkäufe der FAZ. Das sind natürlich in dem Sinne keine vergleichbaren Institutionen, weil sie unterschiedliche gesellschaftliche Segmente bearbeiten. Sie verbindet aber der Verlust an Kundschaft.
Fokussieren wir den Blick auf die letzten zehn Jahre. Und da ist es schon auffällig, wie dramatisch der Mitgliederverlust der Kirchen gewesen ist. Es sind nicht nur der Missbrauch-Skandal oder die mangelnde gesellschaftliche Innovationskraft der Kirchen, die hier sichtbar wird, hier kommen viele Faktoren zusammen. Vergleicht man die kirchliche Entwicklung aber mit der der FAZ, dann kommt es einem schon fast harmlos vor. Die FAZ hat im selben Zeitraum ihre Printverkäufe fast halbiert (nur noch geschlagen von der BILD, die ihre Printverkäufe mehr als halbiert).
Weshalb schreibe ich das? Reinhard Müller kommentiert in der FAZ unter der Überschrift „Christlich geprägt – was sonst?“ das Urteil zum Kreuzerlass in Bayern.
Wer Deutschland ein entchristlichtes Land nennen will, der findet reichlich Futter, etwa die zahlreichen Kirchenaustritte. Und doch ist Deutschland tief christlich geprägt. Weniger wegen der vielen eindrucksvollen Kirchengebäude, von denen nicht wenige mittlerweile ganz anders genutzt werden. Schon eher wegen des Halts, den die Kirchen bieten. Mögen sie sich auch, was die Zahl ihrer Mitglieder angeht, im freien Fall befinden – sie werden weiterhin gesucht, wenn es ums Ganze geht. Nicht nur als Raum fur Promi-Trauungen, sondern für Taufe, Trauung und im Todesfall. Von Weihnachten zu schweigen.
Das ist eine funktionale Bestimmung der Kirche als systemstabilisierender Faktor. Man kann das so sehen, wenn einem die Leitkultur wichtig ist. Mich stört schon das Wort „prägen“, das notwendig mit struktureller Gewalt verbunden ist. Ich glaube nicht, dass das zufällig ist, wo wir doch auch beeinflusst oder auch verbunden sagen könnten. Ob die Kirche oder die Religion sich als Agenturen der Übergangsriten (rites de passage) retten können, scheint mir mehr als zweifelhaft.
Insbesondere totalitäre Staaten wie die DDR haben gezeigt, dass die Übergangsriten auch ganz säkular bearbeitet werden können. Die rites de passage sind für industrielle und nachindustrielle Staaten immer weniger wichtig, sie sinken herab – gerade an den von Müller benannten Festen – zu Folklore. Weihnachten und (Traum-)Hochzeit hat dieses Schicksal schon lange erfasst, bei der Taufe oder dem Tod deuten sich derartige Entwicklungen aber auch an.
Gestoßen habe ich mich aber vor allem an der Formulierung vom freien Fall der christlichen Kirchen. Das kann in der Tendenz gar nicht bestritten werden, die Kirchen verlieren Jahr für Jahr Mitglieder. Aber sie befinden sich keinesfalls im freien Fall. Fast immer, wenn diese Formulierung genutzt wird, gibt sie nicht das wieder, was die Autor:innen beschreiben wollen. Wenn die Ölpreise im freien Fall sind, landen sie eben nicht – wie Fallschirmspringer:innen – ganz unten. Wenn die Sozialdemokratie Angst hat vor dem freien Fall in der Wählergunst, dann halbieren sich vielleicht ihre Zustimmungswerte, aber sie gehen nicht auf Null zurück. Korrekt wäre der Sprachgebrauch, wenn man sagt, einen freien Fall aus 100 Metern auf eine Wiese würde man nicht überleben. Meistens aber geht es um eine dramatische Einbuße an Zustimmung und der „freie Fall“ wird als dramatisierende, aber schiefe Metapher genutzt.
Diese Formulierung vom freien Fall ärgert mich besonders dort, wo jemand dann auch noch eine Institution vertritt, die weit größeren Fliehkräften unterliegt. Es ist, als wenn ein ganz Armer auf einen nicht so ganz Armen verweist und sagt: Schau mal wie schlecht es dem geht. Das mag zwar so sein, aber es ist und bleibt schief. Nun will Müller die Kirchen ja eigentlich verteidigen und sie als wertbasierte Stützen unserer Gesellschaft herausstellen. Aber indem er sie mit einer Metapher beschreibt, die auf der Sachebene nicht angemessen ist, verfehlt er sein Ziel.
Aber auch rein empirisch stimmt die Theorie von einem Zusammenhang von Religion und gesellschaftlichen Werten kaum. Blickt man auf die Länder mit dem größten Prozentsatz an Katholiken in der Bevölkerung und schaut nach, welchen Platz sie z.B. im Demokratieindex haben, stehen an erster Stelle El Salvador (76,4% – Platz 122, moderate Autokratie), Paraguay (74,5% – Platz 88, defizitäre Demokratie), Guatemala (66,7% – Platz 103, hybrides System), Costa Rica (64,3% – Platz 11, funktionierende Demokratie), Honduras (59,1% – Platz 113, moderate Autokratie), die Dominikanische Republik (58,1% – Platz 71, defizitäre Demokratie) und Nicaragua (57,7% – Platz 160, harte Autokratie). In Europa hat Malta den größten Katholikenanteil (98% – Platz 38, defizitäre Demokratie). Das ist eine erschreckende Bilanz – wenn man davon ausgeht, es gäbe einen Zusammenhang zwischen katholischer Religion und gesellschaftlichen Werten.
Sinn macht das allenfalls, wenn man Religion auf den lutherischen Protestantismus beschränkt: Norwegen (87,3% – Platz 1), Finnland (71,2% – Platz 4), Dänemark (75,9% – Platz 2), Schweden (73,7% – Platz 3), Island (80,2% – Platz 17). Demokratisch vorbildlich sind vor allem Staaten mit einer früheren lutherischen Staatskirche. Sie alle sind funktionierende Demokratien. Natürlich liegt ihre gesellschaftliche Wertebasis nun gerade nicht in ihrer Religion begründet, sondern vor allem in der Ökonomie und gesellschaftlichen Traditionen.
Reinhard Müllers „Aufhänger“ war ja nun das Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts, das den Kreuz-Erlass für legal erklärt hatte. Der Preis dafür, auch das sollte man nicht vergessen, war die völlige Auflösung der spezifischen religiösen Bedeutung des Kreuzes zugunsten eines kontingenten kulturellen Symbols. Das Kreuz an der Wand, so hat es das Gericht formuliert, sei „ein im Wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung“, und der Eingang der Gerichtsgebäude sei ein „Durchgangsbereich“, den Bürger:innen nur „flüchtig“ passierten. Nach dieser Logik hätte man freilich auch Lederhosen in den Eingangsräumen bayrischer Gerichte vor die bayrischen Farben hängen können, oder Bierkrüge, die sind in Bayern prägendes Kulturgut.
Gerade weil aber das Kreuz im Christentum die nur vorläufige Gültigkeit menschlicher Gerichtsurteile impliziert (das Jüngste oder Letzte Gericht steht ja noch aus), ist es eigentlich in einem säkularen, kulturell ausdifferenzierten modernen Staat in Gerichtsgebäuden nicht angebracht. Die Kirchen hatten sich daher bereits 2018 gegenüber dem Kreuz-Erlass kritisch gezeigt. Kardinal Reinhard Marx meinte: „Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden.“ Ähnlich sah das der damalige evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der kritisierte, das Kreuz dürfe nie für irgendwelche „außerhalb von ihm selbst liegenden Zwecke instrumentalisiert werden“. Aber es geht bei der Argumentation von Müller auch gar nicht um religiöse Interessen. Es geht darum, Religion als staatlich eingefriedet und darin staatstragend darzustellen und zu nutzen.
Wie man es auch dreht und wendet, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Nein, die Kirche befindet sich nicht im freien Fall, sie erfährt dramatische Einbußen an Teilhabe in der Bevölkerung, die sich aber kaum mit jenen Einbußen vergleichen lassen, die andere Institutionen wie die Presse oder einige große Parteien erleiden müssen.
Unter dem Pseudonym Clara Neumann schreibt eine Autorin über die aufbrechenden Konflikte zwischen angemahnter Staatsräson und den in der Verfassung garantierten Grundrechten.
Clara Neumann (Anonym) (2023): Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten: Auf dem Weg zu einer präziseren Antisemitismusdefinition.