Günther Anders macht sich 1954 vor einem Besuch der nord- und mittelitalienischen Kunststädte Gedanken darüber, was Kunst eigentlich für die Menschen bedeutet und in welchem Verhältnis sie zur Geschichte steht. Dabei nutzt er eine interessante Metapher, die von der Raupe, die davon befreit wurde, Schmetterling zu werden.
Es sei „wie die Geschlechterfolge jener isländischen Schmetterlinge, denen es nur in seltensten Fällen erlaubt ist, wirklich Schmetterlinge zu werden, weil sie, gehetzt durch die Kürze des Sommers, schon als Raupen gezwungen waren, Reproduktionsfähigkeit zu
entwickeln, sodass sie sich nun als Geschlechterfolge von Raupen entwickeln, die von ihren «Überraupen» = dem Schmetterlingsdasein vielleicht gar nichts mehr wissen. Geschieht es nun aber, dass eine dieser Raupen durch eine besondere Gunst doch das Schmetterlingsdasein erreicht, dann steht sie «quer zur Geschichte» der Raupen.
Und er fährt fort:
„Einerseits ist der Schmetterling allen Raupen voraus, da er das erreicht hat, was sie «noch nicht» sind; andererseits aber ist er, da er einer Raupengeneration angehört hatte, die bereits weitergezeugt hat, überholt durch ein neues Raupengeschlecht. Dieses Zugleich von
«voraus» und «überholt» scheint auf den ersten Blick etwas höchst Sonderbares; nirgends finden wir die Erscheinung beschrieben. Aber in Wirklichkeit ist uns das Phänomen durchaus vertraut. Und zwar eben durch die großen Kunstwerke. Denn sie sind das, was «quersteht» in unserer Geschichte.“
Das finde ich einen interessanten Gedanken, eine übrigens von Günther Anders eigens erfundene Metapher, denn den isländischen Schmetterling gibt es wohl gar nicht, aber als Metapher gibt sie eine sich zunehmend durchsetzende Entwicklung wieder, die Einstellung, dass wir der Kunst nicht (mehr) bedürfen.