Ich begleite im Sommersemester 2023 Studierende der Ev. Theologie an der TU Dortmund bei Besuchen von Kunstmuseen als außerschulischen Lernorten. Das Seminar von Dr. Michael Waltemathe trägt den Titel „Kunst und Theologie“. Wir treffen uns regelmäßig in ausgewählten Museen verschiedener Städte in NRW und erörtern die Kunstwerke auf die wir dabei stoßen. Vor kurzem waren wir in Münster, der Stadt der Skulptur-Projekte und besuchten u.a. das LWL-Museum für Kunst und Kultur. Wenn man Museen als „Gattungshöhlen der Menschheit“ begreift, so ist ihr Besuch immer auch eine Frage nach der eigenen Identität. Wie bildet sich in der Kunst die Welt der letzten 1000 Jahre ab, was bewegte und was verstörte die Menschen, was entdecken sie für sich neu und was lassen sie irgendwann hinter sich? Und diese „Funktion“ hatten Bilder, seitdem Menschen solche schaffen. In der Höhle von Chauvet, die seit 28.000 Jahren nicht mehr betreten wurde, können wir anhand der konservierten Fußspuren der Letztnutzung, einiges über den initiatorischen und identitätsbildenden Charakter der dortigen Bilder lernen. In die Bedeutung der Bilder der Horde/Gruppe eingeführt zu werden, bedeutete damals vermutlich, als anerkanntes verantwortliches Mitglied in die Gruppe aufgenommen zu werden und seine Identitätsbildung vervollständigt zu haben. Heute haben wir kein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, was eigentlich der Sinn eines Museums ist, man hat das Gefühl, dort sei alles irgendwie museal, von gestern, verstaubt und überholt. Das ist natürlich Quatsch. Museen sind „Gattungshöhlen der Menschen“, hier begegnen wir uns selbst. Seit 200 Jahren haben wir zudem einen Kunstbegriff, der Kunst nicht mehr als irgendeine Form der Objektivation, sondern als komplexe soziale Vereinbarung versteht. Und diese Vereinbarung ist fluide, sie verändert sich ständig, weshalb es wiederholter Besuche auch in Kunstmuseen bedarf, um die aktuellen sozialen Vereinbarungen zur Kunst kennenzulernen.
Als ich Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu studieren begann, hätte man etwa nicht erwartet, in den Kunst-Abteilungen des Barock Kunstwerke von Frauen zu finden. Aufgrund der Vormacht männlicher / patriarchalischer Vorstellungen galt es als gesicherte Erkenntnis, dass Frauen sagen wir um 1630 nicht gemalt hätten und schon gar nicht als professionelle Künstlerinnen. Stieß man dann auf beeindruckende Werke von Frauen, wurden sie zunächst einfach Männern, etwa Verwandten zugeschrieben. Klassisches Beispiel war Artemisia Gentileschi, deren Oeuvre ihrem Vater zugeschlagen wurde. Erst nach und nach wurde der Erkenntnis (Ausstellung-)Raum gegeben, dass selbstverständlich Frauen auch professionelle Künstlerinnen waren – wenn auch unter Hürden, die vom Patriarchat künstlich errichtet wurden.
Wenn wir aber heute durch ein Museum gehen, fragen wir fast schon intuitiv danach, wenn wir in der Barock-Abteilung (oder in den nachfolgenden Sälen) keine Künstlerinnen finden. Das katoptrische Universum, das ein Museum normalerweise darstellen sollte, hat dann nämlich einen blinden Fleck. Ähnliches gilt für alle marginalisierten Gruppen in der vom Museum jeweils gespiegelten Welt.
Mit den Studierenden durch ein Museum wie das LWL in Münster zu laufen, heißt dann in der Regel, dass einige Studierende sich zu einzelnen Werken intensiver vorbereitet haben und wir nach einer entsprechenden Einführung durch sie in die Unterhaltungen vor Gemälden eintreten. Darüber hinaus haben alle in der Gruppe noch besondere Aufgaben, sie schauen das jeweils ausgewählte Objekt unter dem Aspekt der Genderfrage an, oder unter dem Aspekt der Ökologie, der dargestellten Ethnien, den Aspekten von Rassismus und Antisemitismus usf. Wir machen also präsentische Fragestellung noch einmal im Blick auf historische Objekte fruchtbar.
Bei der Vorbereitung der Exkursion ins LWL hatte ich im Online-Datenbestand des Museums eine Barock-Künstlerin entdeckt, die ich bis dato nicht kannte und deren Biografie, die ich mir deshalb angeschaut habe, außerordentlich beeindruckend ist. Es handelt sich um Elisabetta Sirani. Die Wikipedia schreibt einleitend knapp:
Elisabetta Sirani (* 8. Januar 1638 in Bologna; † 28. August 1665 ebenda) war eine italienische Malerin und Kupferstecherin. Sie gründete in Bologna eine Kunstakademie nur für Mädchen und Frauen und war eine der ersten Frauen überhaupt, die in die renommierte Accademia di San Luca in Rom als Mitglied aufgenommen wurde.
Ihr Vater arbeitete in der Werkstatt von Guido Reni, war aber nicht so erfolgreich wie seine Tochter, die mit 17 Jahren zu malen begann und deren Einnahmen den Familienhaushalt finanzierten. Die Künstlerin musste immer etwas für sich selbst von ihren eigenen Einnahmen abknappsen. Da Frauen keinen institutionellen Zugang zur Kunst hatten, gründete in Bologna eine Akademie nur für Frauen. Ihre eigenen Werke lassen sich ganz gut zu den Arbeiten ihrer Zeitgenossen in Beziehung setzen, im Vergleich zu denen von Guido Reni sind sie nicht so glatt klassizistisch barock, sondern persönlicher und intimer.
Schade, dass das LWL in Münster das Kunstwerk gerade nicht ausstellt, aber es wäre durchaus eine Anregung, einmal in einem Kabinett Barockkünstlerinnen zusammenzustellen. Man muss ja nicht gleich eine eigene Ausstellung daraus machen.