Der Tod ist ein Meister aus Deutschland

Gegen Vorverurteilungen und Diskriminierungen

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ schreibt Paul Celan in seiner berühmten „Todesfuge“. Und er umschreibt damit den Umstand, dass Deutsche mit den Verbrechen des Dritten Reiches für 60.000.000 Tote verantwortlich sind, mittelbar sogar für 80.000.000 Tote.

Deutschland ist in den letzten 100 Jahren ein Exportweltmeister für Gewalt, Tod und Verbrechen gewesen. Es hat 6 Millionen Juden fabrikmäßig getötet, daran gibt es nichts zu spekulieren, es ist schlicht eine Tatsache. Es hat durch Angriffskriege die Menschheit ins Elend gestürzt und Millionen von Kindern die Eltern genommen und die Zukunft verbaut. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.

Dessen sollte man eingedenk sein, wenn man unter der Überschrift „Zuwanderer tötet Lehrerin in Nürtingen: Der Bürgermeister warnt vor „Spekulationen“ den folgenden Text liest.

Ob es ein „Mord“ war, wissen wir gar nicht, denn die Umstände sind bis heute nicht bekannt. Es gibt ein Opfer, eine Lehrerin, die durch eine Gewalttat zu Tode gekommen ist. Das hat die ermittelnde Behörde bekannt gegeben. Verdächtigt wird ein Iraner, der zwischenzeitlich verhaftet worden ist. Er ist aber nur der Tat verdächtigt, ob er sie tatsächlich durchgeführt hat, wissen wir (noch) nicht. Die Qualifizierung als „Mord“, „Totschlag“ obliegt aber nicht dem Publikum, nicht Bürgermeister:innen, nicht Journalist:innen, nicht Staatsanwält:innen, sondern allein und ausschließlich Richter:innen. Sie fällen in Deutschland die rechtsgültigen Urteile nach einem Prozess unter Abwägung aller Umstände.

Nur die BILDzeitung versteht sich als Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter und Henker in einer Person, und hält sich mit Feinheiten nicht auf. Bevor bekannt ist, was geschehen ist, wird das Ganze final kategorisiert: MORD. Man weiß noch wenig, hat das Urteil aber schon gefällt: MORD!

Das ist auch aus dem Kommentar des erzkonservativen Publizisten erkennbar. Er weiß nicht, ob es sich um einen Zuwanderer oder Flüchtling, also um einen Asylsuchenden oder Migranten handelt. Kommt ja auch nicht darauf an – Hauptsache nicht von hier. Wer einfach vermutet, es sei ein „Mord“, der von einem „Zuwanderer“ ausgeübt wurde, spekuliert offenbar nicht, er übt nur sein Recht als rechter Journalist in Deutschland aus. Dieses Recht haben auch Journalisten in Anspruch genommen, als sie nach 1926 begannen, über die Verbrechen der Juden zu schreiben. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Es wird schon etwas hängenbleiben. Der Zuwanderer, der Fremde ist immer schuld.

Der rechte Journalist protestiert dagegen, dass im konkreten Fall Spekulationen unterbleiben soll. Das kennen wir: Man wird doch noch spekulieren dürfen! Was aber ist eine Spekulation? In der Wissenschaft wäre das eine Hypothese, eine begründete Annahme, die noch nicht verifiziert ist. Keinesfalls wäre es eine bloße Vermutung oder ideologische Qualifizierung im Stil von „Ich vermute mal, die Erde ist flach“. Alltagsweltlich ist die Spekulation allerdings eine bloße Mutmaßung, im besten Fall eine lebensweltlich abgesicherte Annahme, im Regelfall Stammtischgebrabbel.

Gerade angesichts so schrecklicher Vorfälle wie der gewaltsamen Tötung eines Menschen sollte man jedoch sorgsam sein in der Wahl der Worte, sollte nicht schnell spekulieren, sondern sollte nachfragen, Informationen sammeln, also recherchieren und Kontext herstellen. Und das gilt für Journalist:innen wie für alle Bürger:innen. Wenn man vom Einzelfall aufs Allgemeine schließen will, braucht man mehr als das Gebrabbel von „typisch Ausländer“ oder „typisch Asylant“. Das sind logische Fehlschlüsse und ideologische Phrasen. Aufgabe des Journalismus wie der verantwortungsvollen Bürger:innen ist es gerade, gegen den ersten Augenschein den Sachen auf den Grund zu gehen. Das braucht Zeit. Die hat der Journalismus heute nicht mehr, wo in Echtzeit berichtet und ge- bzw. verurteilt wird. Dafür kontrolliert auch kaum einer mehr, ob das Berichtete und das Ge- bzw. Verurteilte auch zutreffend ist.

Wenn ich also nach sorgfältiger Recherche wüsste, dass in den letzten 100 Jahren im Auftrag und in der Folge des Handelns von Deutschen 80 Millionen Menschen gewaltsam zu Tode gebracht wurden – zu welchen Schlussfolgerungen berechtigt das? Der Tod ist ein Meister aus Deutschland schreibt Paul Celan, zu Recht.

Aber damit ist nicht jeder Deutsche ein Mörder. Jedoch hätte die Formulierung „typisch deutsch“ im Blick auf die gewaltsame Tötung von Menschen empirisch eine höhere Plausibilität als beim Blick auf Migranten oder Flüchtlinge. Die Kriminalität der Deutschen in den letzten 100 Jahren kann schlecht überboten werden. Bis heute beschäftigen sich die internationalen und die deutschen Gerichte damit. Von Gewaltimport in einem größeren Maßstab kann insofern kaum eine Rede sein. Die Handelsbilanz, so man in einem derart schrecklichen Kontext davon sprechen will, dürfte zulasten der Deutschen gehen. Wer aber im Glashaus sitzt …