In seiner Vögel-Kolumne beschäftigt sich Klaus Kelle mehr oder weniger unwillig mit dem aktuellen Eurovision-Song-Contest. Ist auch nicht mehr das, was es mal war, schreibt er, seitdem da auch queere Menschen zugelassen sind. Früher war das noch anders, da waren das noch echte werteorientierte Veranstaltungen für deutsche Sexisten, während heute diese Werte auf den Kopf gestellt sind. Und Kelle schwelgt in Erinnerungen an frühere ESC-Lieder, an France Gall (die auch schon mal in ihren Liedern für Fellatio Reklame machte) oder auch das „blonde Gift“ aus der Abba-Gruppe. Heute dagegen ist der ESC eine queere Veranstaltung und damit will ein wertekonservativer Katholik nichts zu tun haben. Marianne Rosenberg zum Beispiel, deren Queerhymne „Er gehört zu mir“ 1975(!) Teil des deutschen ESC-Vorlaufs war, wird verschwiegen, wie vieles andere auch. Ja, die früheren Zeiten waren – nein nicht besser, aber auch nicht schlechter als heute. Cora, das erste lesbische Paar in der Hitparade 1984 (Amsterdam. Liebe hat total versagt), hat immerhin in Sachen Beziehung eine wertebeständigere Biographie als Kelle, der gerne in seinen in Erinnerungen schwelgenden Texten darauf hinweist, mit wem er nach und nach so befreundet war. Heute, so meint Kelle, lohne der Blick auf den ESC nicht, weil er sich nur noch „zwischen androgynen Wesen, Trans- und Intersexuellen, lesbischen Außerirdischen, Menschen, die während des Auftritts ihr Geschlecht wechseln, oder was heute so alles denkbar und möglich ist“, abspiele. Wie viel Verachtung für das Leben seiner Mitmenschen artikuliert sich da. Gelobt sei der Kandidat, der verheiratet ist und Kinder hat, so wünscht es sich der Kleinbürger. Was ihn nicht daran hindert, Popmusikerinnen, die verheiratet waren und zwei Kinder haben, als „blondes Gift“ zu begehren. In solchen Kleinigkeiten war der konservative Mann schon immer großzügig. An deren Musik erinnert er sich nicht mehr, wohl aber an das „blonde Gift“. Das ist in Ordnung, die Gegenwart dagegen ist in Unordnung.
Angesichts der sexuellen Verwirrung in der Gegenwart seht sich mancher Konservative offenbar zurück zu Tony Marshall.
Dieser hatte schon vor mehr als vierzig Jahren Frauen am liebsten damit anbaggert, dass er sang, ich will „in deinem Wald“ der Oberförster sein. Wie unappetitlich. Wie gut, dass angesichts geänderter Hygieneverhältnisse das heute niemand mehr versteht.
Wer ernsthaft meint, in diesen Fragen sei die Welt früher besser gewesen, hat die Welt freilich noch nie verstanden. Man muss nicht die ursprünglich elfbändigen(!) „Viktorianischen Ausschweifungen“ von 1890 lesen, um zu wissen, dass gerade die Zeiten, die sich als keusch und wertekonservativ ausgeben, die wildesten und repressivsten zugleich waren. Aber das mindeste, was man wohl doch erwarten kann, auch von einem angeblich Wertekonservativen, ist, dass er die subjektiven Werte Anderer achtet und anerkennt, er muss sie ja nicht teilen. Aber diesen Minimalkonsens verweigert die rechte Schwarmintelligenz.