Innerhalb nur eines Jahres 2 Mio. Antisemit:innen weniger in Deutschland

Wenn die Zahlen aus statistischen Erhebungen nur noch der Propaganda dienen.

Eine Schlagzeile wie die obige wird man in der deutschen Presse nicht finden, auch wenn sie zutreffend ist. Aber sie passt nicht ins Bild derer, die von gegenteiligen Meldungen profitieren. Mit besorgter Miene meldet sich der Lautsprecher Felix Klein und teilt der Bevölkerung mit, dass der Antisemitismus in Deutschland geringfügig zurückgegangen sei, weltweit aber auf dem höchsten Stand sei: „Negative Stereotype über Juden sind einer Befragung zufolge weltweit so verbreitet wie nie“.

Fangen wir mit Letzterem an: Was meint „wie nie“? In den letzten 80 Jahren, in den letzten 150 Jahren, in den letzten 2000 Jahren? Man weiß es nicht und er sagt es auch nicht. Tatsächlich meint er die letzten 10 Jahre (sic!), denn erst seit 2014 erhebt die ADL den Antisemitismus-Index. So aber entsteht der Eindruck, der weltweite Antisemitismus sei schlimmer als im 19. Jahrhundert, schlimmer als zur Zeit des Nationalsozialismus. Und doch wissen wir alle: das ist er keinesfalls. Aber mit Superlativen arbeiten manche Politiker gerne. Und sie kümmern sich nicht darum, ob die Daten der ADL Globalerhebung überhaupt valide Daten sind, sie lesen sie einfach als Fakten vor. Wer wird das schon nachprüfen?

Ich habe es getan und kann nur sagen, ich halte die Ergebnisse der aktuellen Ausgabe für überaus fragwürdig und unsolide. Befragt wurde 58.000 Menschen in 103 Ländern. Wenn man davon ausgeht, dass nur über 18-Jährige befragt wurden und nicht alle Länder der Erde untersucht wurden (wohl aber die bevölkerungsreichsten), dann müssten die Befragten für 4.780.000.000 Menschen repräsentativ sein. Da scheint mir die Zahl von 58.000 Befragten etwas gering zu sein, um verlässliche Ergebnisse zu bekommen oder man nimmt eine Fehlerquote über 10% in Kauf.

Für Deutschland sind die Ergebnisse nun so, dass 2024 9% der Befragten manifest antisemitische Haltungen haben. Ein Jahr zuvor hatte dieselbe Institution mit derselben Methodologie noch 12% an antisemitischen Haltungen erhoben. Das scheint (wenn die Daten verlässlich sind) auf den ersten Blick keine große Differenz zu sein, ist es aber doch. Die Zahl der Antisemiten ist innerhalb eines Jahres um 25% zurückgegangen. Das kann man als Erfolg verbuchen – es sei denn, man verdankt sein Amt den permanenten Warnungen vor steigendem Antisemitismus.

Noch deutlicher wird das Ganze, wenn man es in Bevölkerungszahlen umrechnet. Befragt werden Deutsche über 18 Jahre. In Deutschland leben knapp 70 Millionen Menschen, die älter als 18 sind. Wenn von 2023 bis 2024 der Prozentanteil von 12% (= 8,4 Mio.) auf 9% (= 6,3 Mio.) zurückgeht, minimiert sich die Zahl der Antisemiten um 2,1 Millionen Menschen. Die verbleibenden 6,3 Mio. Antisemit:innen können zwar in diesem Jahr umso aggressiver und gewalttätiger sein, das ändert aber nichts daran, dass der Antisemitismus (nicht aber die Zahl der antisemitischen Aktivitäten) zurückgeht. Man sollte nun meinen, dem Antisemitismusbeauftragten wäre eine solche Erfolgsmeldung recht: Aber aus unerfindlichen Gründen ist sie das nicht – wobei so unerfindlich ist das nicht. Im Augenblick verschärfen wir zahlreiche Gesetze unter Verweis auf einen angeblich steigenden Antisemitismus, da wären entgegenstehende empirische Befunde gar nicht erwünscht.

Nun aber zur Solidität der Erhebungen des ADL. Ich habe in der Vergangenheit auch regelmäßig auf deren Publikationen und Daten zurückgegriffen, nicht zuletzt, weil sie mir auch plausibel erscheinen. Das ist dieses Mal freilich nicht der Fall. Es gibt derartig eklatante Abweichungen, dass sie rational nicht mehr erklärt werden können. Entweder haben die Daten in früheren Erhebungen nicht gestimmt oder die Daten aus der aktuellen Erhebung sind falsch. Dann kann man aber keine Rückschlüsse auf steigenden oder sinkenden Antisemitismus ziehen.

Ein Beispiel: Das Land, das 2014 vor allen Ländern mit der geringsten Antisemitismusquote herausstach war Laos. Unter den etwa 7,5 Mio. Menschen gab es, folgt man den Daten der ADL, gerade einmal 0,2% manifest antisemitisch Denkende. Das konnte damit erklärt werden, dass a) keine Juden in Laos leben und b) Laos ein buddhistisches Land mit religionstoleranter Haltung ist. 2024, nur 10 Jahre später, offenbart die ADL-Erhebung eine ganz andere Lage. Nun sind mit 45% fast die Hälfte aller Bewohner:innen manifest antisemitisch. Das ist eine sagenhafte Steigerung von 22400% (zweiundzwanzigtausendvierhundert Prozent). Kein Statistiker der Welt wird das für seriös halten. Innerhalb von 10 Jahren soll also das Land mit der geringsten Antisemitismusquote zu einem Land mit einer überdurchschnittlich hohen Antisemitismusquote geworden sein? Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Nehmen wir ein weiteres Land, die Philippinen. Sie waren 2014 jenes Land, mit der zweitgeringsten Antisemitismusquote weltweit. Nur 3% der Bevölkerung dieses katholischen Landes zeigte derartige Einstellungen. Nur 10 Jahre später sollen es 42% sein, eine Steigerung von 1300%. Das ist statistisch völlig unglaubwürdig. Entweder stimmen die Daten von 2014 nicht oder die von 2024. Ähnliches gilt auch für die Zahlen von Vietnam, Tansania oder Uganda. So-lange das nicht aufgeklärt und korrigiert ist, sind keine ethischen und politischen Schlussfolgerungen aus dieser Erhebung möglich.

Wenn die anderen Daten stimmen sollten, könnte man aber vielleicht nicht nur auf das Negative schauen, sondern auch auf das Positive: in Qatar, im Iran, im Irak und auch in Marokko ist der Antisemitismus z.T. deutlich zurückgegangen. Im Iran gäbe es 6 Mio. weniger Antisemiten, im Irak 4 Mio. und in Marokko immerhin noch 2,6 Mio. Das sind gerade in Zeiten eines Nahost-Konflikts doch überraschend positive Meldungen. Aber davon wird man nichts hören.

Und noch etwas: in Zeiten, in denen der Bundestag und die Interessenvertreter:innen immer wieder Resolutionen verabschieden oder fordern, die in die Schulen und Hochschulen eingreifen, wäre es doch auch gut darauf hinzuweisen, dass der Antisemitismus in dieser Altersgruppe der geringste ist und darüber hinaus auch abnimmt, je höher die Bildung ist. Stattdessen müsste also in Erwachsenenbildung investiert werden und eine konsequente Zielgruppenorientierung durchgeführt werden.

Ich bin es jedenfalls leid, mit Zahlen aus nicht begriffenen oder evtl. falsch erhobenen statistischen Erhebungen hinters Licht geführt zu werden. Das ist unseriös, so lässt sich keine Politik machen. Wer Antisemitismus bekämpfen will, sollte nicht mit fragwürdigen Zahlen arbeiten.