In der legendären Reihe “Poetik und Hermeneutik” gab es die Ausgabe „Text und Applikation“, die sich mit der je unterschiedlichen Hermeneutik von Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft auseinandersetzte. Theologen zeigten, wie sie die Paradieserzählung auslegten, Juristen besprachen ihre Hermeneutik am Fall Mephisto und Literaturwissenschaftler diskutierten über ihre Annäherung an Paul Valéry. Aber die Beteiligten schärften ihre Hermeneutik auch jeweils am fachfremden Gegenstand: also am theologischen Text, am juristischen Fall und dem Werk des Literaten. Die Grenzüberschreitungen sind meines Erachtens immer außerordentlich hilfreich. Und tatsächlich sind es diese drei Fachwissenschaften, an denen ich mich auch persönlich am stärksten orientiere. Wenn ich etwas lese, frage ich mich, was würden Theolog:innen, was würden Jurist:innen und was würden Literaturwissenschaftler:innen dazu sagen?
Daran wurde ich erinnert, als ich ein kurzes Video des Medienanwalts Jun sah, in dem er sich in juristischer Perspektive mit dem Wort Gnade auseinandersetzte, also jenes Wort, das in der Predigt im Gottesdienst nach der Amtseinführung von Präsident Trump eine Rolle spielte. Dabei war ja zunächst einmal auffällig, dass die Bischöfin keineswegs einen theologischen Gebrauch des Wortes „Gnade“ machte, sondern einen alltagssprachlichen. „In der Alltagssprache begegnet das Wort Gnade bzw. gnädig, um eine menschliche Verhaltensweise zu charakterisieren: gütig, wohlgesinnt, nachsichtig, mild, gönnerhaft, verzeihen, erbarmen“ (Ev. Kirchenlexikon, Art. Gnade). Und genau das erbat die Predigerin vom direkt adressierten Staatsoberhaupt: Sich menschlich zu verhalten. Insoweit ist dies noch keine spezifisch theologische Rede. Sie wird dies erst, wenn man es vor dem Hintergrund der Theologie sieht (also etwa einer Zwei-Reiche-Lehre oder von Barmen V oder dem anglikanischen Verständnis von Staat und Kirche), wenn diese der Kirche ein Wächteramt gegenüber dem Staat einräumt. Insoweit sich Trump mit dem Besuch des Gottesdienstes unter das Wort Gottes begibt, wird eine sinnvolle Lesart daraus.
Juristisch, auch darauf verweist das Kirchenlexikon, begegnet uns die Gnade in der „Begnadigung“ eines Menschen bzw. in der Formel, man müsse in gewissen Fällen „Gnade vor Recht“ ergehen lassen. Theologisch wäre die Rede von der Gnade, wenn sie die Beziehung zwischen Gott und Mensch betrifft und die liebende und rettende Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf beinhaltet. Darum ging es in der Ansprache an Trump aber nicht (oder nur indirekt an der Stelle, an der sie die von ihm so interpretierte Gnade Gottes bei der Verschonung seines Lebens beim gescheiterten Attentat als implizite Aufforderung ansah, nun auch selbst Gnade anzuwenden).
In der Sache sagt die Predigerin aber nur das, was auch viele Humanist:innen oder viele Philosoph:innen gesagt hätten. Ihre Brisanz bekommen ihre Worte aber durch den Resonanzraum, in dem sie gesagt wurden, dem Resonanzraum der von der Kirche verkündeten Gnade Gottes.
Die Frage des Medienanwalts Jun in seinem instruktiven Video lautete: Was ist das juristische Komplement für das Wort „Gnade“, also das, was die Bischöfin Budde für die Migrant:innen, die Ausgestoßenen, die Queeren einforderte. Und er meint mit guten Gründen, dass man die geforderte Gnade mit der Forderung nach der Wahrung der Menschenwürde vergleichen müsse. Exakt darum geht es.
Und das nicht nur, weil wir Theolog:innen reklamieren, dass die Idee der Menschenwürde ursprünglich eine jüdische und damit biblische Idee ist. Gnade kommt den Menschen zu, weil sie Gottes Ebenbilder sind. Das begründet ihre Menschwürde, die niemand ihnen nehmen kann und darf, kein Staat, kein Herrscher, kein US-Präsident. Die säkularisierte Gnade findet sich in vielen Gesetzen des Völkerrechts, in den Erklärungen der Menschenrechte, in staatlichen Verfassungen.
Mir geht es an dieser Stelle gar nicht so sehr um das Video von Jun (das ich jedem ans Herz lege), sondern um die Frage, woher es kommt, dass angesichts der Rede der Predigerin in Washington, Theolog:innen in eine Art schwärmerische Heldinnenverehrung verfallen, während es Nicht-Theologen gelingt, das Gesagte und Gemeinte konstruktiv in ihre Sprache zu übersetzen. Bis dahin hatte ich auf Bluesky Kommentare von Kolleg:innen gelesen, die die Bischöfin als Prophetin glorifizierten, lange über ihren Stil nachdachten, ihre Sprechweise, die medialen Referenzen und über all dem das Anliegen vergaßen, das sie ja in ganz säkularer Sprache artikuliert hatte: den Menschen ihr Recht auf Menschenwürde zukommen zu lassen. In diesem Falle gilt jedoch – anders als in der Kunst -: nicht das Wie, sondern das Was ist das Entscheidende.
Wir haben im Protestantismus (und nur über den kann ich sprechen) eine elende, um nicht zu sagen widerwärtige Art der Personalisierung – im Guten und im Schlechten geht es immer ad hominem. Während wir doch aus der ForuM-Studie lernen müssten, dass wir künftig keine Überhöhungen des Pfarramtes mehr kultivieren sollten, machen wir – wenn es uns nur in den Kram passt – genau das: wir machen eine Theologin zu einem herausgehobenen Menschen, ja zu einer Prophetin. Das finde ich falsch, es ist um es scharf zu formulieren Theologie im Verblendungszusammenhang, eine Theologie, die sich der Aufmerksamkeitsökonomie unterwirft. Wir sollten aber lernen, uns mit unserer jeweiligen Hermeneutik der Sache zuzuwenden und schauen, ob und wo wir zu Überschneidungen mit den Überzeugungen anderer Menschen kommen.
Heroisierungen helfen uns da nicht wirklich weiter. Und der Verweis auf die Figur der Prophetin auch nicht. Die Differenzierung zwischen richtigen und falschen Propheten ist eine a posteriori. Wer aus dem Konflikt verschiedener prophetischer Schulen am Ende als Sieger hervorgeht, wird zum wahren Propheten, der sich zurecht von Gott beauftragt sieht. Eine Nummer kleiner wäre besser. Freuen wir uns, dass jemand das Selbstverständliche getan hat: Menschlichkeit zu zeigen und zu fordern.