Im Augenblick arbeite ich an einem Aufsatz über den Einsatz von politischen Karikaturen in den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten. Es sind schreckliche Karikaturen, voller Vorurteile, Stereotypen und Hass – natürlich nicht vergleichbar mit den entsetzlichen Fotos, die die mörderischen Terroristen selbst auf den Social-Media-Kanälen gepostet haben. Schrecklich sind die Karikaturen, weil sie mit Wissen und in einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Horrortaten kalt am Schreibtisch entstanden sind. Irgendwo, Hunderte Kilometer vom Geschehen entfernt, sitzt jemand (es sind fast immer Männer) und freut sich über die Ereignisse oder verwünscht die Folgen
Im Kampf der Palästinenser gegen den Staat Israel haben Karikaturen eine lange Tradition, sie gehen weit über ein halbes Jahrhundert zurück und sind verbunden mit Namen wie Nadschi al-Ali, dem vielleicht bekanntesten palästinensischen Karikaturisten und seiner Figur des zehnjährigen palästinensischen Jungen Handala, der vor 54 Jahren zum ersten Mal gezeigt wurde. Diese Figur taucht im palästinensischen Kontext überall auf.
So auch jetzt auf den Karikaturen nach dem Massaker am 7. Oktober. Nun wird Handala so inszeniert, als sei ihm mit dem schrecklichen Geschehen endlich der Schlüssel zur Freiheit in die Hand gelegt. Und wenn man genau hinsieht, dann impliziert dieses kleine Bilddetail im Kontext des Massakers bereits den anvisierten Massenmord an den Juden in Israel. Denn der kleine palästinensische Handala, der gerade die Grenzmauer durchbrochen hat (so wie die palästinensischen Terroristen die Absperrungen des Gazastreifens), blickt über ein leergefegtes Land auf den Felsendom in Jerusalem, der wie eine Fata Morgana hinter der Staubwolke hervorlugt. Das ist der Kern der Botschaft vom Free Palestine.
Das Interessante an der Karikaturen auf der Plattform ist, dass sie sich chronologisch ordnen lassen. Wie haben arabische Karikaturisten auf das Massaker reagiert? Haben sie wirklich gedacht, wie Karikaturen vom 8.10. andeuten, nun sei Israel ein für allemal geschlagen, nun sei es den palästinensischen Paraglidern gelungen, den Davidsstern abstürzen zu lassen? Oder, wie ein anderer Karikaturist noch am 7.10. meint, nun müsse die israelische Armee die weiße Fahne hissen, denn sie sei von den Terrorkämpfern und ihren Raketen geschlagen worden? Nun habe sich der israelische Aggressor endgültig am Gazastreifen die Zähne ausgebissen? Fast schon ironisch ist die Karikatur, die unter dem Titel „Palestine resists“ Netanjahu (dargestellt als Nazi) mit Goliath und die Palästinenser mit David vergleicht. Da hat jemand die biblische Geschichte nicht verstanden. Denn David ist natürlich Jude, während Goliath ein Philister ist, also von jenem Volk, auf das sich die Palästinenser in ihrer Suche nach einer historischen Genealogie so gerne berufen.
Apropos Genealogie. Als die USA das Massaker unmissverständlich verurteilen, meint ein Karika-turist, Amerika habe kein Recht dazu, denn die Amerikaner hätten die Ureinwohner (also die In-dianer) auch gelyncht – so wie die Israelis die Araber. Nur dass die Araber die Kolonialisten des 7. Jahrhunderts in Palästina sind und die dortigen Ureinwohner vertreiben oder zur Konversion zwingen. Aber Geschichte ist nicht unbedingt die Stärke der Karikaturisten.
Schon wenige Tage später wird den arabischen Karikaturisten klar, dass der Preis, den das palästinensische Volk für seine von der Regierung beauftragten Terroristen zahlen wird, ein ungeheurer sein wird. Und sofort schlägt der Tonfall in den Karikaturen um, statt des Jubels über den gelungenen palästinensischen Widerstand ertönt nun eine visuelle Kakophonie gegen das israelische Militär. Man macht Rechnungen auf, die besagen, die palästinensischen Terroristen hätten am 7. Oktober doch nur einige wenige ermordet oder entführt und wenn man das mit den Missetaten der Israelis und der Einsperrung der Palästinenser im Gazastreifen vergleiche, sei das doch nur marginal. Und manche Karikaturisten greifen auf alte Arbeiten zurück, die sie schon zu früheren israelischen Gegenschlägen produziert hatten. Mit dem Raketeneinschlag neben dem christlichen Hospital im Gazastreifen wird der Ton noch einmal schriller – nun werden direkt die mittelalterlichen Stereotype von den kindermordenden Juden bedient, ein Lieblingsthema der arabischen Karikaturisten seit 60 Jahren. Und so zeichnet man ein jüdisches Mobile über dem Bett eines palästinensischen Kindes, nur dass die einzelnen Teile des Mobiles aus israelischen Raketen bestehen, die alle auf das Kind gerichtet sind.
Unmittelbar antisemitisch wird es spätestens dann, wenn die in Gaza einschlagenden israelischen Raketen so dargestellt werden, dass sie von Tora-Rollen ummantelt sind, die dann (muss man sagen: natürlich?) ein palästinensisches Kind mit dem Tode bedrohen
Als dann die den Terror verherrlichenden Stimmen auf Facebook gesperrt werden, hetzt man gegen die westlichen Medien, die einseitig auf Seiten Israels und der Unterdrücker stünden. Und so wird jedes aktuelle Ereignis in die vertraute Bilderwelt eingearbeitet.
Aber es gibt natürlich auch die anderen Bilder, zunächst die aus einer Äquidistanz, von einem neutralen Standpunkt, der das Leiden bei allen Zivilisten in den Blick nimmt. Aber diese Position leidet selbst unter seinem Relativismus, denn es muss die notwendige Empathie angesichts des Geschehens am 7. Oktober abmildern zugunsten einer relativistischen Abwägung.
Und schließlich gibt es die empathischen und zugleich besonnenen Karikaturisten, die den Wahnsinn benennen und zugleich die Folgen aufzeigen. Positiv aufgefallen ist mir dabei Marian Kamensky, der heute in Wien lebt und auf eine lange Karriere als Karikaturist zurückblicken kann. Schon mit seinem ersten Bild am 7.10. konterkariert er die Aktionen der wahnsinnigen Terroristen, indem er sie statt in einen Tunnel in das offene Rohr eines israelischen Panzers laufen lässt. Er hält die Hamas schlicht für hirnlos (brainless) wie er auf einer späteren Karikatur zeigt.